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Das Meer | البحر | הים

Der am 16.09. als bester Film im israelischen Filmpreis Ophir ausgezeichnete Film „Das Meer” erzählt die Geschichte eines Kindes, das in einem Dorf neben Ramallah lebt und zum ersten Mal in seinem Leben versucht, ans Meer zu gelangen. Unsere Kollegin Tamar Almog war bei der Premiere des vom RLS Tel Aviv unterstützten Films dabei.

Eines Tages, vor etwa fünfzehn Jahren, nicht lange, nachdem wir uns kennengelernt hatten, wandte sich mein Partner an mich und sagte: „Wir beide werden für einen Tag ein Kind adoptieren.“ Eine äußerst überraschende Äußerung für einen so verschlossenen und zurückhaltenden Menschen wie ihn, und noch dazu in einem so frühen Stadium unserer Beziehung. „In Ordnung“, sagte ich, amüsiert und neugierig. Es stellte sich heraus, dass israelische Aktivist*innen, und unter ihnen mein Partner, eine Gruppe von Kindern aus einem Dorf im Westjordanland zu einem organisierten Ausflug ans Meer mitgenommen hatten. Ein Kind aber  – Ahmad (Name geändert) –, damals vierzehn Jahre alt und aus einer Familie, die mein Partner sehr gut kannte, konnte nicht am Ausflug teilnehmen. Nur Schulkindern war es erlaubt, mitzufahren, Ahmad aber hatte die Schule abgebrochen, um seiner Familie beim Hüten der Schafsherde zu helfen. Als mein Partner Ahmads große Enttäuschung gesehen hatte, hatte er ihm versprochen, dass wir ihn trotzdem ans Meer bringen würden. Und so geschah es.

Wir verbrachten einen wunderbaren Tag. Das Wetter war schön. Weil wir in einem Auto mit israelischem Nummernschild fuhren und keinen Verdacht erregten, passierten wir den Checkpoint von Westjordanland nach Israel ohne Probleme. Wir besuchten den Zoo in Jerusalem, wo sich Ahmad besonders für die Fische begeisterte, aßen uns in einem Restaurant in Jaffa satt und gingen hinunter schließlich zum Strand. Der Horizont, die Brise, der salzige Sprühnebel der Wellen, die sich am Strand brachen und sanft die Füße umspülten, all das übte seinen Zauber aus und löste Ahmads  Schüchternheit und Angst in Luft auf. Und so waren wir einfach dort, am Meer, ein Jugendlicher und ein erwachsenes Paar, die gemeinsam den Strand genossen, in der sich zum Untergehen geneigten Wintersonne.

Es wurde spät, und es war an der Zeit, nach Hause zu fahren – ich in meine Wohnung in Tel Aviv, die anderen beiden gen Süden. Mein Partner machte sich auf, Ahmad nach Hause zu bringen. Von dieser Richtung aus kommend, von Israel aus ins Westjordanland, sollte es eigentlich keine Checkpoints geben. Am nächsten Tag aber erfuhr ich, dass Soldat*innen sie auf dem Heimweg an einer spontan eingerichteten Straßenkontrolle angehalten hatten. Sie wurden voneinander getrennt und mein Partner verhört. Nach etwa einer Stunde wurden sie freigelassen und das Auto für einen Monat beschlagnahmt.

Als ich vor kurzem „Das Meer“ sah, den neuen Film von Shai Carmeli-Pollak (Drehbuch und Regie) und Bahr Agbariya (Produktion), erinnerte ich mich wieder an jenen Tag mit Ahmad. Im Zentrum der Filmhandlung steht Khaled (Muhammed Gazawi), ein zwölfjähriger Junge aus einem Dorf in der Nähe von Ramallah. Khaled erhält zum ersten Mal in seinem Leben die Gelegenheit, ans Meer zu fahren – im Rahmen eines organisierten Klassenausflugs mit allen erforderlichen Genehmigungen für jedes der Kinder sowie für die begleitende Lehrerin und den Fahrer. Als der Bus den Checkpoint erreicht, stellt sich heraus, dass es ein Problem mit Khaleds Durchgangserlaubnis gibt. Seine Freund*innen fahren weiter, doch er muss nach Hause zurückkehren. Kurz darauf beschließt er, sich allein auf den Weg zum Meer zu machen – ohne ein Wort Hebräisch zu sprechen oder den Weg zu kennen. Sein Vater Ribhi (Khalifa Natour), ein Bauarbeiter, der ohne Arbeitserlaubnis in Israel arbeitet und sich deshalb aus Sicht der israelischen Behörden illegal im Land aufhält, macht sich auf die Suche nach ihm. Die wirtschaftliche Not in der Westbank einerseits und die Schwierigkeit, eine Arbeitserlaubnis in Israel zu erhalten andererseits treiben Ribhi und viele andere Männer – nicht nur im Film, sondern auch im wirklichen Leben – dazu, sich ohne Genehmigung nach Israel aufzumachen, um dort nach Arbeit zu suchen. 

Die Menschlichkeit des Gegenübers anzuerkennen, auf zwischenmenschliche Verbundenheit zu pochen – wie ein roter Faden ziehen sich diese Werte durch den Film, und prägen ebenso seinen Entstehungsprozess. 

Das Meer als Sehnsuchstort und als Gegenstand des Verlangens sei bei den Palästinenser*innen im Westjordanland sehr präsent und werde stark thematisiert, berichtet Shai Carmeli-Pollak in einem Interview anlässlich der Veröffentlichung des Films. Seit vielen Jahre, so erzählt er, bewege er sich in den besetzten Gebieten und treffe viele Menschen aus verschiedenen Dörfern. Die Sehnsucht nach dem Meer komme überall zur Sprache. Oft sei das Meer weniger als eine Fahrtstunde entfernt, manchmal könnten die Menschen sogar auf das Dach ihres Hauses steigen und es von dort sehen. Doch es erreichen können sie nicht, es sei denn, sie erhalten eine Genehmigung der israelischen Behörden. Solche Genehmigungen sind aber schwer bis unmöglich zu erlangen, besonders seit dem 7. Oktober 2023.

Es gibt kaum israelische oder internationale Aktivist*innen, die nicht mindestens eine Geschichte von einem Meerbesuch mit Palästinenser*innen erzählen können. Und diese Geschichten, so wie meine mit Ahmad und die Geschichte von Khaled im Film, sind einander ähnlich und zugleich verschieden: Endlos viele Variationen eines einzigen Themas, das den Kern der Besatzung in sich trägt – die krasse Einschränkung der physischen Bewegungsfreiheit, der Gestaltung des alltäglichen Lebens und der persönlichen Entscheidungsfreiheit, und außerdem nicht weniger als Folter der Psyche, Unterdrückung des freien Geistes und das Zerschmettern von Träumen.

Nehmen wir zum Beispiel die Szene, in der der Bus mit den Kindern, und unter ihnen Khaled, mit ihrer Lehrerin den Checkpoint erreicht.  Es ist der Checkpoint, den Israel errichtet und mit Soldat*innen besetzt hat (oder, an anderen Orten, mit privaten Sicherheitskräften). Es ist der Checkpoint, der die palästinensischen Kinder den freien Zugang zum Meer nimmt. Die Kinder im Bus, die bis zu jenem Moment gelacht und herumgealbert haben, verstummen angespannt. Der Soldat, der den Bus besteigt und ihn mit groben Schritten abschreitet, wirkt unpassend, fehl am Platz, und zerstört die Klassenausflug-Atmosphäre, die im Bus geherrscht hat, auf einen Schlag.  Zur Überprüfung der Durchgangsgenehmigungen erhält er von der Lehrerin eine Liste mit Angaben zu den Schüler*innen. Einen Moment später teilt er ihr mit , dass es mit Khaleds Genehmigung ein Problem gäbe und der Junge nicht mit den anderen weiterfahren dürfe. In einer vernichtenden Mischung von Machtdemonstration, Gleichgültigkeit und Ungeduld gibt der Soldat keine weitere Klarstellung oder Erklärung. Weder die Lehrerin, Khaled, die anderen Kindern noch wir, die Zusehenden, wissen, was ausgerechnet mit dieser einen Genehmigung nicht stimmen soll. Der Lehrerin, die vergeblich versucht, an die Vernunft und das Mitgefühl des Soldaten zu appellieren, bleibt letztendlich nichts anderes übrig, als seiner willkürlichen Anordnung zu gehorchen.

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Zu Beginn des Films scheint es zwar schwer, von der symbolisch-repräsentativen Dimension einer jeden Figur und Szene abzusehen: So sitzt Khaleds Großmutter in der Küche und zupft geduldig Weinblätter, aus denen sie bestimmt das bekannte, traditionelle Gericht zubereiten wird – gefüllte Weinblätter. Die Frauen, die Khaled auf seinem Weg trifft, begegnen ihm freundlich und helfen ihm. Der Eindruck, der sich mit Fortschreiten des Filmes einstellt, ist der einer inszenierten Unterscheidung zwischen den „guten Israelis von der Straße“ versus der Armee und der Polizei als Repräsentant*innen des Staates.  

Doch je weiter die Handlung, die der Film mit so viel Fingerspitzengefühl entstehen lässt, sich entfaltet, desto stärker wird man von der persönlichen, ganz privaten Geschichte Khaleds, seines Vaters und den übrigen Figuren gefangengenommen.  Auf einer Busfahrt in Richtung Meer inmitten israelischen Territoriums wechselt Khaled ein paar Worte mit einer arabischsprachigen Mitfahrenden. „Woher kommst du?“, fragt sie ihn. „Ramallah“, antwortet er. „Und wo willst du hin?“, fragt sie weiter. „Zum Meer“, sagt er, mit all der Sanftheit und Entschlossenheit eines Kind-Erwachsenen. Ein Junge, den die Realität zwingt, zu früh erwachsen zu werden, der sich aber weigert, sich den Zwängen eben jener Realität zu beugen und stattdessen darauf beharrt, seinen Weg zum Meer zu finden. Und das Meer ist der Ort, an dem man, wenn auch nur für eine Weile, Kind sein kann. Der Ort, an dem man frei atmen, den weiten Horizont sehen kann. An dem man am Strand herumtollen und im Sand und Wasser spielen kann, nicht zwischen den leeren Hüllen der Blend- oder Gasgranaten, wie sie in Khaleds Dorf verstreut liegen, weil die israelische Armee sie zum Zerstreuen der wöchentlich stattfindenden, gewaltlosen Proteste gegen die Besatzung anwendet.

Es sind letztlich nicht die Ungerechtigkeiten und Schrecken der Besatzung, die die Figuren im Film antreiben, sondern vielmehr die elementarsten menschlichen Triebe und Gefühle. Darin liegt die Kraft des Films. Als Ribhi vom Verschwinden seines Sohnes erfährt, macht er sich, ohne zu zögern, auf die Suche nach ihm – obwohl er gar nicht genau weiß, wo sein Khaled sein könnte; obwohl ihm sein Arbeitgeber mit Entlassung droht, wenn er nicht auf der Stelle zurückkommt; und obwohl er, sollte er ohne Arbeitsgenehmigung aufgegriffen werden, Gefahr läuft, verhaftet, verurteilt und ins Gefängnis gesperrt zu werden. Als der Arbeitgeber mit großem Wirbel dagegen protestiert, dass Ribhi die dringende Arbeit mitten am Tag liegen lässt, entgegnet einer der anderen palästinensischen Arbeiter ihm schlicht: „Aber es ist doch sein Kind.“

Die Menschlichkeit des Gegenübers anzuerkennen, auf zwischenmenschliche Verbundenheit zu pochen – wie ein roter Faden ziehen sich diese Werte durch den Film, und prägen ebenso seinen Entstehungsprozess. Das Produktionsteam von „Das Meer“ bestand aus Juden*Jüdinnen sowie Palästinenser*innen, angeführt vom (jüdischen) Regisseur Shai Carmeli-Pollak und dem (palästinensischen mit israelischer Staatsbürgerschaft) Produzenten Bahr Agbariya . Auch die Schauspieler*innen waren teils jüdisch, teils palästinensisch. Bei der Filmpremiere auf dem diesjährigen Jerusalemer Filmfestival sagte Carmeli-Pollak, dass ihn die gemeinschaftliche Arbeit des jüdisch-palästinensischen Teams und das zweisprachige Set (Arabisch und Hebräisch) zutiefst bewegt hätten, und für ihn Quelle der Hoffnung seien. In einem Interview erzählte er: „Die gemeinsame Arbeit war eine sehr intensive Erfahrung, die sich in einer solch schweren Zeit wie heute noch schwerer vorstellen lässt.“ Angesichts der aktuellen, katastrophalen und markerschütternden Realität, angesichts des Ausmaßes des Tötens, der Zerstörung und der Gewalt, angesichts einer Zeit, in der so viele Menschen ihr Leben verlieren, ihre Häuser, ihren Zugang zu Nahrung und medizinischer Versorgung, zu ihren Lebensgrundlagen – angesichts all dessen mag ein Besuch am Meer wie Luxus erscheinen. Doch gerade dieser Film hat mich daran erinnert, dass alle Menschen, die zwischen Jordan und Mittelmeer leben, ob jüdisch oder palästinensisch, nicht nur ein Recht auf Überleben haben, sondern vielmehr das Recht auf das Leben in all seiner Fülle – und auf einen freien Zugang zum Meer.

Aus dem Hebräischen von Lucia Engelbrecht übersetzt.

Autor:in

Tamar Almog ist Projektmanagerin im Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

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