Von israelischer Zwangsräumung bedrohtes Haus in Khallet a-Dabe in Masafer Yatta, Januar 2023. Foto: wikicommons
In Masafer Yatta kann unsere Kamera mehr bewirken als der Bulldozer
Nach dem Gewinn bei der Berlinale wurde der Film „No Other Land“ im westjordanischen Dorf At-Tuwani vorgeführt. Über die Kraft einer verspiegelten Realität
Am Abend des 14. März stellten wir auf dem Schulhof in At-Tuwani in der Region Masafer Yatta im Westjordanland 350 Stühle auf. Wir erwarteten mehr Menschen, als sich je zuvor in der Geschichte des kleinen Dorf versammelt hatten. Die Gäste kamen mit drei voll besetzten Bussen aus Tel Aviv und Jerusalem. Dutzende mehr reisten mit Pkws an. Die Plätze reichten schnell nicht mehr aus, viele mussten auf dem Boden sitzen oder hinten stehen, um den Film zu sehen.
Sie waren für den Film «No Other Land» gekommen, den Basel Adra, Yuval Abraham, Rachel Szor und ich produziert haben. Es ist unser Versuch, den Menschen einen Einblick in unsere Lebensrealität in Masafer Yatta zu geben und die ständige Gewalt durch den Staat Israel und die Siedler*innen sowie den Tribut, den sie von uns fordern, zu zeigen. Alltägliche Momente und Interaktionen mit unseren Familien und die schwierigen Bedingungen für Menschen, die herkommen, um uns Palästinenser*innen zu unterstützen und mit uns Widerstand zu leisten.
In einer Szene beklagt die Mutter von Harun Abu Aram die ständige Gegenwart von Journalist*innen und Kameras in ihrem behelfsmäßigen Haus. Die Journalist*innen wollen Fotos von dem Palästinenser machen, der infolge einer Schussverletzung durch israelische Streitkräfte bei der Beschlagnahmung seines Stromgenerators unter anderem querschnittsgelähmt ist. Aber das hilft keinem. Was tun sie für Harun oder seine Familie? Harun Ab Aram ist inzwischen verstorben.
Der Film ist unser Versuch, etwas zu bewirken. Wir sind mit unserer Kamera losgezogen und haben auf unser Filmmaterial über die seit Jahren währenden Proteste, Zerstörungen und Gewalttaten zurückgegriffen, weil wir das Leben der Menschen in Masafer Yatta verändern wollen. Und es funktioniert, der Film zeigt internationale Wirkung. Wir haben das Projekt Ende Oktober abgeschlossen, als die Welt erneut auf Palästina schaute. Uns war klar, dass es an der Zeit war zu zeigen, was sich vor Ort kontinuierlich abspielt.
Wir haben den Film bei der Berlinale eingereicht. Alle vier Vorführungen waren schon am ersten Tag ausverkauft. Das zeigt, dass die Menschen unsere Geschichte für wichtig halten, dass sie etwas über Masafer Yatta erfahren wollen. Ich hätte nie gedacht, dass unsere Geschichte so weit reisen und von so vielen Menschen gesehen werden würde. Wir haben den Dokumentarfilmpreis und den Panorama Publikumspreis gewonnen.
Am deutlichsten spürten wir die Wirkung unseres Films aber nicht in den Berliner Kinos oder an den Reaktionen der Presse, sondern bei der Vorführung in At-Tuwani, als nicht nur Hunderte von Menschen von außerhalb, sondern auch die Bewohner*innen von Masafer Yatta selbst zur Vorführung kamen. Seit dem 7. Oktober haben Siedler*innen und die Armee überall in Masafer Yatta Straßensperren errichtet, die es außerordentlich schwer machen, von einem Ort zum anderen zu gelangen. Die meisten Bewohner*innen gehen kaum aus ihren Häusern und unterlassen unnötige Wege, vor allem nachts, wenn die Straßen in der Dunkelheit besonders unsicher sind. Trotzdem sind sie gekommen!
«Warum sind sie das Risiko eingegangen und haben sich die Mühe gemacht, unseren Film zu sehen?», fragte ich mich. Sie kennen diese Geschichten. Sie haben sie selbst erlebt. Aber es stellte sich heraus, dass es etwas ganz anderes ist, die eigene Geschichte auf einer großen Leinwand zu sehen.
Man sagt uns oft, dass Selbstwahrnehmung viel ausmacht. Aber ich habe das noch nie so sehr begriffen wie beim Blick in die Gesichter der Kinder von Masafer Yatta, als sie unseren Film sahen und darauf warteten, dass sie selbst, ihre Häuser und ihre Angehörigen auf der Leinwand erschienen. Ich war mir nicht sicher, ob es eine gute Idee war, dass die Kinder den Film sehen – er zeigt grausameGewalt und verstörende Bilder aus ihremLebensumfeld. Aber auch sie erleben das alles mit. Sie sehen es jeden Tag. Es wird dadurch nicht besser, dass sie es nicht auf der Leinwand sehen.
Mehrere Kinder sagten uns, dass sie zum ersten Mal ihr eigenes Leben wie eine Geschichte gesehen haben. Es gibt ihnen das Gefühl, dass ihr Leben wichtig ist, dass sie es verdient haben, gesehen zu werden, und dass sie nicht allein sind.
«Ich bin mit diesen Dingen aufgewachsen, aber es auf der Leinwand zu sehen, hat mir das Herz gebrochen, und es hat auch Masafer Yatta das Herz gebrochen», sagte ein Freund nach der Vorführung zu mir. «Wie sollen wir so weiterleben?»
«Plötzlich ist man wieder im echten Leben»
Jahrelang haben Basel und ich die Zerstörungen von Häusern durch die Israelis und die Gewalt der Siedler*innen in Masafer Yatta gefilmt. Es wird anstrengend, diese furchtbaren Dinge jeden Tag zu beobachten. An einer Stelle im Film sagt Basel zu Yuval, einem der jüdisch-israelischen Produzent*innen und Protagonist*innen des Films: «Du kannst nicht erwarten, dass die Besatzung in zehn Tagen endet.» Gewiss, aber manchmal hat man das Gefühl, dass niemand weiß, was hier vor sich geht und dass es sich nie ändern wird.
Nachdem wir 2019 mit Yuval und Rachel ein Team gebildet hatten, gingen wir zu viert zu einem Abriss. Wir dokumentierten die Ungerechtigkeiten, während Rachel alles filmte. Wir beschlossen, uns besonders auf Basels Geschichte zu konzentrieren: Er ist Aktivist, seine Eltern sind Aktivist*innen, und seine Beziehung zu Yuval steht im Mittelpunkt des Films. Wir haben diese Geschichten mit der größeren Geschichte von Masafer Yatta verwoben.
Der Vorsitzende des Gemeinderats von Masafer Yatta, der im Film kurz auftritt, beschrieb den Moment, in dem die israelische Zivilverwaltung einen Abrissbefehl für eine Schule vorlegte, als «das größte Ding, das [ihm] je untergekommen ist». Es war erschütternd, diesen Vorgang in Masafer Yatta auf der Leinwand zu sehen, unweit des Ortes, wo besagte Schule abgerissen worden war. Als meine Gemeinde jetzt zuschaute, fühlte ich mich stark und hatte das Gefühl, wirklich etwas für unser Volk zu tun. Für uns bestätigte sich dadurch, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wir wollen unseren Leuten das Gefühl geben, dass wir weiter für sie kämpfen, und zumindest das ist uns gelungen.
Der Film konnte die brutale Realität nicht verändern. Mein Freund Awdah Hathaleen meinte dazu: «Jede Familie in Masafer Yatta lebt genau in dieser Situation. Und am Abend der Vorführung … gleich nach dem Ende des Films erhielten wir einen Anruf, dass Siedler*innen das Dorf Umm al-Khair überfallen hatten. Wir hatten den Film gesehen, aber dann waren wir plötzlich wieder im echten Leben, und es war einfach dasselbe.»
Bei dieser Vorführung wurde mir vielleicht zum ersten Mal klar, dass unsere Kamera stärker sein kann als der Bulldozer. Egal wie groß er ist und wie viel er zerstören kann, der Bulldozer ist dann wieder weg. Aber wenn ich diese Momente dokumentiere, schaffe ich eine Erinnerung an die Zerstörung, die er verursacht hat. Diese wird auch in fünf oder 20 Jahren noch abrufbar sein.
«Auf die eine oder andere Weise wird der Film eine Veränderung bewirken», sagte Awdah. «Genau so sieht das Leben aus, mit allen diesen Angriffen und Schikanen.»
Wir hoffen, dass dieser Film und künftige ähnliche Projekte von Menschen in aller Welt gesehen werden und unsere Forderungen nach der Beendigung der Besatzung und des Leids in Masafer Yatta und in ganz Palästina voranbringen. Der Film stellt für alle, auch für diejenigen, die in dieser Realität leben, klar, dass wir weiter für eine bessere Zukunft kämpfen müssen.
Übersetzung von Gegensatz Translation Collective.
Dieser Artikel ist am 29.3.2024 ursprünglich in englischer Fassung in +972Magazine erschienen.
Autor:in
Hamdan Ballal Al-Huraini ist ein Aktivist und Menschenrechtskämpfer aus Susiya. Er dokumentiert die Übergriffe der Besatzer auf Palästinenser*innen in Masafer Yatta und ist Mitglied des Projekts «Humans of Masafer Yatta». Darüber hinaus arbeitet er freiwillig als Feldforscher für B’Tselem und andere Menschenrechtsorganisationen.