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Neta Shoshani. Photo: Kobi Kalmanovich

„In der israelischen kollektiven Identität gibt es etwas, in dem 1948 ewige Gegenwart ist.“

RLS: In deinem neuen Dokumentarfilm «1948 – Erinnern und Vergessen» schlüsselst du das in der Geschichte Israels kritische Jahr im Detail auf – das Jahr, in dem nicht nur die Gründung des Staates Israel ausgerufen wurde und der «Befreiungskrieg» begann, sondern in dem auch viele Palästinenser*innen flüchteten oder aus ihren Häusern vertrieben wurden, was dann zum palästinensischen Flüchtlingsproblem führte. Für Israelis ist dieses Jahr ein Schlüsselereignis: Es ist in der Schule Thema, sie singen Lieder darüber, lesen Geschichten und schauen Filme dazu. In der offiziellen israelischen Version war es ein Krieg von David gegen Goliath, ein gerechter Krieg, ein Krieg ums Überleben, ein Krieg, der das nationale Narrativ Israels stärker geprägt hat als jeder andere Krieg. Was hat dich dazu bewogen, die Geschichte dieses berühmt-berüchtigten Jahres noch einmal zu erzählen?

Neta Shoshani: Ich denke, dass sich die israelische Gesellschaft jahrelang einfach nicht mit dem Jahr 1948 beschäftigen wollte und dass die meisten Menschen wenig darüber wissen. Frag Israelis, was sie über das Jahr 1948 und den in diesem Jahr ausgebrochenen Unabhängigkeitskrieg wissen: Sie kennen das Narrativ, das sich in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat: die Nacht der Abstimmung bei den Vereinten Nationen am 29. November 1947, Menschen sitzen neben dem Radio und tanzen dann vor Freude auf der Straße, und für die meisten schließt sich die Invasion der arabischen Armeen am Tag danach [nach der Staatsgründung] an – so, als ob es ein ganzes halbes Jahr nicht gegeben hätte, ein Zeitsprung, der den 29. November 1947 direkt mit dem 15. Mai 1948 verbindet, so, als handele es sich um dasselbe Ereignis, während sich historisch gesehen gerade in diesem halben Jahr ein Großteil der Nakba ereignete. Es war ein sehr dramatisches halbes Jahr. Aus Sicht der meisten Israelis war es ein sehr, sehr langer Krieg. Sie können erzählen, dass ein Teil der Menschen des Jischuw in dem Krieg getötet wurde; das ist etwas, worüber sie gerne sprechen, über den hohen Preis, das «silberne Tablett»[1]; sie wissen auch zu erzählen, dass die Palästinenser*innen geflohen seien, dass ihre Anführer sie angewiesen hätten zu fliehen. Und es gibt auch den Mythos der Wenigen gegen die Vielen; den Mythos der Reinheit der Waffen; den Mythos des Palmach, der Kameradschaft; und die Vorstellung, dass wir einen ehrenhaften Krieg geführt hätten. Das ist, was sie wissen. Im Grunde habe ich versucht, die Geschichte einmal aus mehreren Perspektiven zu erzählen, und zwar so ausgewogen wie möglich.

RLS: Also eine sehr gründliche Recherchearbeit – für die der Film auch beim israelischen internationalen Dokumentarfilmfestival DocAviv 2023 ausgezeichnet wurde. Wie bist du an das Projekt herangegangen?

Neta Shoshani: Vor etwa fünf Jahren habe ich angefangen, über dieses Projekt nachzudenken. Ich wollte eigentlich die Geschichte dieses Jahres erzählen, aber ich wusste, dass die meisten Menschen, die damals gelebt haben, nicht mehr unter uns sind oder dass es ihnen, falls sie noch leben, gesundheitlich nicht gut geht. Deshalb war mir klar, dass ich die Geschichte anders erzählen muss. Andererseits wollte ich aber auch keinen Film über Historiker*innen machen, die über ihre Forschung sprechen, ich wollte menschliche Erfahrungen vermitteln. So entwickelte ich die Idee, die gesamte Geschichte mithilfe von Texte von Menschen zu erzählen, die sie zu der damaligen Zeit geschrieben haben, und zwar auch in dem Verständnis, dass solche persönlichen Aufzeichnungen später nicht redigiert werden können. Menschen erinnern sich immer an bestimmte Dinge und diese Erinnerungen hängt mit dem Bewusstsein der jeweiligen Person zusammen. Im Laufe der Zeit nehmen die Erinnerungen Gestalt an und bekommen eine politische Bedeutung. Du erinnerst dich an das, woran du dich erinnern möchtest, und du erinnerst dich nicht an das, woran du dich nicht erinnern willst.

Im Laufe der Zeit nehmen die Erinnerungen Gestalt an und bekommen eine politische Bedeutung. Du erinnerst dich an das, woran du dich erinnern möchtest, und du erinnerst dich nicht an das, woran du dich nicht erinnern willst.

Ich dachte, dass Zeitzeugenaussagen, die damals geschrieben wurden, etwas sehr Kraftvolles haben. Ich habe diese Texte nicht verändert, sie wurden nicht bearbeitet, sodass man einen Einblick in das damalige Bewusstsein erhält, den man zu einem späteren Zeitpunkt nicht bekommen kann.

RLS: Im Film sind viele Szenen in Farbe zu sehen – obwohl es damals in Israel noch keinen Farbfilm gab und dieser Krieg im israelischen kollektiven Gedächtnis hauptsächlich in Schwarz-Weiß erinnert wird.

Neta Soshani: Wie bereits erwähnt, wollte ich die Geschichte nicht durch Historiker*innen erzählen lassen. Ich wollte alles mit Filmmaterial abdecken, nicht mit Fotos, sondern nur mit bewegten Bildern. Somit bestand die Herausforderung darin, alles zu finden, was zwischen 1945 und 1949 in Palästina/Israel gefilmt wurde, und in den Schneideraum zu bringen, um all diese Texts mit lebendigen Originalaufnahmen zu bebildern. Erfreulicherweise ist dies gelungen, dank des vorhandenen Materials in Farbe – ich habe nichts koloriert… Dabei handelt es sich vor allem um private Videoaufnahmen, die wohlhabende Juden und Jüdinnen gemacht haben, die mit Fotoapparaten und Filmkameras aus den USA, Südafrika und Europa hierherkamen. Zum Teil sind es auch Aufnahmen von Einwanderer*innen, die schon vor dem Krieg in Israel lebten, und Filme von Juden und Jüdinnen, die hierhergebracht wurden, um sie dazu zu überreden, während des Kriegs dem Staat Geld zu spenden, und für die Rundreisen im Land organisiert wurden. Und sie alle kamen mit Kameras, um ihre Reise im neuen Staat Israel zu filmen. – Es war eine Menge Arbeit, aber es war nicht so schwer, diese Filme zu finden; sie waren ja da.

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Kriegsgefangene des israelischen Unabhängigkeitskriegs von 1948-1949, Beerscheba. Foto: Wikicommons

RLS: Dein Film zeichnet sich durch eine Vielfalt an Stimmen aus, die im öffentlichen Diskurs in Israel selten zu hören sind. Wir sind es gewohnt, 1948 nur aus israelisch-jüdischer Perspektive zu thematisieren. In deinem Film sind etliche Stimmen von Palästinenser*innen zu hören, in Tagebüchern und Briefen, die zur damaligen Zeit geschrieben wurden.

Neta Soshani: Ich wollte unbedingt, dass die Geschichte von 1948 aus mehreren Perspektiven erzählt wird, und habe mich deshalb sehr bemüht, nach persönlichen Texten zu suchen, die von Palästinenser*innen in der Zeit verfasst wurden. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass dies ein Film von einer Israelin ist und nicht von einer Palästinenserin. Ich kann keine Palästinenserin sein, ich kann nur meinen Film machen. Aber für mich als Israelin war es wichtig, der anderen Seite zuzuhören. Obwohl die palästinensische Seite nicht den gleichen Raum einnimmt – in dieser Hinsicht besteht keine Ausgewogenheit –, aber es war mir wichtig, den Israelis diese Stimmen zu präsentieren, die sie nicht kennen.

Es gibt unzählige Israelis, die geschrieben haben und diese Dokumente aufgehoben haben. Es gab eine wahre Grafomanie im Jahr 1948, jede*r hat geschrieben. Und es gibt Archive, die alles gut aufbewahrt haben. Wir sind es gewohnt, unsere Dokumente sehr gut aufzubewahren. Im Gegensatz dazu gibt es fast keine Palästinenser*innen, die geschrieben haben. Wir mussten aus verschiedenen Gründen sehr lange suchen, sehr wenige Texte wurden aufbewahrt. Zu meiner großen Freude brillieren im zweiten Teil des Films hauptsächlich Briefe aus den Unterlagen des Ministeriums für Minderheiten, die in den israelischen Staatsarchiven aufbewahrt wurden. Es gibt hunderte Briefe und Eingaben, die palästinensische Einwohner*innen an dieses Ministerium geschrieben haben. Das Ministerium wurde nach einem Jahr wieder geschlossen, aber viele Akten wurden archiviert, die bis vor vier Jahren noch unzugänglich waren.

RLS: Eine der faszinierendsten Personen im Film ist tatsächlich die des damaligen Ministers für Minderheiten, Bechor-Schalom Schitrit. Aus seinen Briefen geht das Bild eines Mannes hervor, der wirklich mit aller Kraft versucht hat, der palästinensischen Bevölkerung zu helfen. Man spürt, dass er starkes Mitgefühl mit ihrem Leid hat, was möglicherweise mit seiner eigenen Herkunft als sephardischer Jude zusammenhängt. Generell fällt im Film der Unterschied in den Tagebüchern und Briefen zwischen den aschkenasischen Stimmen und den mizrachischen Stimmen, die wesentlich mehr Verständnis für die Palästinenser*innen zeigen, auf.

Neta Soshani: Schitrit ist wirklich eine sehr interessante Person. Er war einfach ein Araber, ein jüdischer Araber, seine Muttersprache war Arabisch. Er gehörte zur arabischen Elite, war osmanischer Staatsbürger. Er wurde in Tiberias als Kind einer Familie, die Ende des 19. Jahrhunderts aus Marokko gekommen war, geboren und kannte die arabische Elite in Palästina gut. Nach der Besetzung von Jaffa schrieb ihm der Anwalt Aziz Shehadeh, der zu einer wohlhabenden Familie in Jaffa gehörte, die im April 1948 in ihr Sommerhaus in Ramallah geflüchtet war. Die Familie wollte nach Jaffa zurückkehren, durfte jedoch nicht. Shehadeh schrieb an seinen Freund Schitrit, den Minister für Minderheiten. Sie hatten freundschaftliche Beziehung. Schitrit kannte die ganze Familie – es war eine sehr angesehene Familie –, er wusste, wer mit wem verheiratet war, und deshalb sah er sie, aus seiner Perspektive, als Mitmenschen. Schitrit kannte die gesamte palästinensische Führungsschicht. Nach jeder Besetzung einer Stadt kam Schitrit dort hin und sah sich an, was dort passierte. Offensichtlich sah er es anders. Er war niemand, der aus Europa kam, die Sprache nicht sprach und die Kultur nicht kannte. Schitrit war Teil ebenjener Kultur.

RLS: Hier zeigst du einen weiteren, weniger bekannten Aspekt der israelischen Geschichte, nämlich dass die Palästinenser*innen und die sephardischen Jüdinnen und Juden, die in Palästina lebten, eine ähnliche Kultur, Sprache und Lebensweise teilten. Zwischen ihnen gab es viel mehr Gemeinsamkeiten als zwischen den sephardischen Juden und Jüdinnen und den zionistischen Juden und Jüdinnen aus Europa. Die angesehenen arabischen und sephardisch-jüdischen Familien waren einst die Eliten, aber nach der Staatsgründung wurden sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt.

Neta Soshani: Das hatte ich die ganze Zeit vor Augen. Ich habe immer wieder versucht, diese Umdrehung herauszuarbeiten. Ich habe den palästinensischen Intellektuellen Khalil al-Sakakini zurate gezogen, der Kämpfer in Abd al-Qadir al-Husainis Armee beschreibt, die gegen den Nabi-Daniel-Konvoy gekämpft haben. Der palästinensische Kämpfer, der sie anführte, erklärte, dass seine Leute ihm folgen würden, weil er die Beute nicht für sich selbst nehme; er gehe mit seinen Leuten mit und sei der Erste, der in die Schlacht ziehe. Das sind Werte, die wir gewohnt sind, von unserer Seite zu hören, nicht aber von der anderen Seite.

Ich beginne den Film mit einem Zitat von Hadassah Avigdori, einer Krankenschwester, Tochter eines Arztes, einer jungen, moralisch handelnden und ethisch denkenden Frau. Das Zitat ist erstaunlich: «Für uns ist jeder Mensch so wertvoll, und für sie – sie wissen nicht einmal, wer [im Kampf] fällt; sie kennen ihn, [aber] es ist ihnen völlig egal.» Es gibt etwas an dieser Entmenschlichung, das uns innewohnt, und es ist furchtbar schwierig, dem zu entkommen, denn man muss einen hohen Bewusstseinsgrad erreichen, um sich davon zu lösen.

RLS: Im Rahmen der ungewöhnlichen Stimmenvielfalt gibt es in deinem Film auch viele Stimmen von Frauen, die nicht unbedingt dem Stereotyp entsprechen. In einem der zentralen Interviews im Film kommt eine ehemalige Palmach-Kämpferin zu Wort, die mit aller Kraft versucht, den Mythos des Krieges von 1948 zu verteidigen. In einem Interview, das an anderer Stelle mit euch beiden geführt wurde, äußert sie sehr scharfe Kritik: Es sei jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, die Untaten, die Israel 1948 begangen hat, öffentlich bekannt zu machen, Israel öffentlich zu verleumden; mit der Kritik müsse man warten.

Neta Shoshani: Diese Frau ist ganz und gar das Produkt des israelischen nationalen Narrativs; sie lebt es bis heute. Sie repräsentiert eine Generation, die immer denkt, dass es nicht der richtige Zeitpunkt sei, und tatsächlich glaubt, dass es nie der richtige Zeitpunkt sei [Israel zu kritisieren]. Meine Frage ist, wann es so weit sein wird. Es wird nie eine gute Zeit dafür geben. Aber was passiert, wenn wir nicht auf die Vergangenheit blicken und uns nicht mit ihr und der schmerzhaften Geschichte der Palästinenser*innen im Jahr 1948 auseinandersetzen? Erst in den letzten Jahren haben wir begonnen, uns mit dieser Zeit und dem, was damals passiert ist, zu beschäftigen, und natürlich nur mit ganz bestimmten Aspekten. Die interviewte Frau repräsentiert einen bestimmten Teil der israelischen Linken, der viele Jahre lang dachte, dass 1967 die entscheidende Geschichte sei und dass wir, wenn wir 1967 loswerden, auch die Besatzung loswerden und dass dann alles gut wird. 1967 ist Konsens, Frieden im Tausch gegen Territorien. Das ist eine völlige Missachtung von 1948; tatsächlich ist schon damals alles passiert. Es ist einfach an der Zeit, diese Debatte zu führen, sie ist wichtig. Ich erzähle in diesem Film nichts Neues, alles ist bekannt. Wer die Bücher von Benny Morris gelesen hat, die Ende der 1980er-Jahre erschienen sind, sollte diese Dinge wissen. Es gibt einfach nur sehr wenige Leute, die diese Bücher gelesen haben. Alles ist geschrieben, alles ist bekannt. Darüber, dass wir nicht «Wenige gegen Viele» waren, wie allgemein angenommen wird, besteht schon längst keine Debatte mehr, nicht einmal in Sicherheitskreisen.

RLS: Welche weiteren Reaktionen hast du auf den Film erhalten?

Neta Shoshani: Zurzeit wird der Film hauptsächlich in Cinematheken und Foren gezeigt, die ihn bestellen. Bisher bestand das Publikum aus Leuten, die einen Film über 1948 sehen wollten. Deshalb waren die Reaktionen insgesamt positiv. Allerdings war es für Menschen des zionistischen Mainstreams etwas schwierig, alles zu akzeptieren. Ihre Reaktionen waren dennoch höflich. Von älteren Leuten im Publikum gab es mitunter Reaktionen wie «Das kann doch nicht wirklich wahr sein», aber es waren höfliche, verständnisvolle Reaktionen, die vieles akzeptierten. Für alle war das Sehen des Films eine wertvolle Erfahrung. Bisher haben nicht viele Palästinenser*innen den Film gesehen, aber doch eine ganze Menge. Einigen von ihnen hat der Film sehr gut gefallen, während sich andere über ihn geärgert haben. Sie fanden ihn zu ausgewogen. Was mich betrifft, bin ich glücklich. Ich gefalle niemandem: Dass niemand mit mir wirklich glücklich ist, finde ich großartig. Es bedeutet, dass ich richtig liege. Niemand fühlt sich damit wohl. So soll es auch sein. Ich möchte für niemanden arbeiten; ich möchte nicht, dass irgendein Staat oder irgendeine Institution meinen Film für Propagandazwecke nutzt.

Dass niemand mit mir wirklich glücklich ist, finde ich großartig. Es bedeutet, dass ich richtig liege. Niemand fühlt sich damit wohl. So soll es auch sein. Ich möchte für niemanden arbeiten; ich möchte nicht, dass irgendein Staat oder irgendeine Institution meinen Film für Propagandazwecke nutzt.

RLS: Der Film folgt unter anderem auch Mitarbeiter*innen des Akevot Institute for Israeli-Palestinian Conflict Research, eines Instituts, das Menschenrechtsverteidiger*innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen dabei hilft, Archivmaterial zu finden und verfügbar zu machen und dabei Transparenz anstrebt. Eines der wichtigsten Dokumente, die im Film zu sehen sind, ist ein Bericht der Untersuchungskommission, die Ben-Gurion einsetzte, angesichts stichhaltiger Beweise für 1948 begangene Massaker und Kriegsverbrechen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungskommission befinden sich in den Staatsarchiven und deuten darauf hin, dass die politische Führung von den 1948 begangenen Kriegsverbrechen wusste. Allerdings bestand diesbezüglich für 73 Jahre ein weitgehendes Publikationsverbot. Im Film werden Archivare interviewt, die versucht haben, die Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, aber von Vorgesetzten daran gehindert wurden, die das Verbot immer noch mit der Begründung verteidigen, dass eine solche Veröffentlichung eine Gefahr für die Sicherheit des Staates darstelle.

Das Akevot-Institut organisierte im Juli 2023 auch eine Vorführung des Films in Berlin. Der Film behandelt ein sehr sensibles Thema in der Geschichte der Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. War es dir wichtig, der deutschen Gesellschaft eine bestimmte Botschaft zu vermitteln?

Neta Shoshani: Ich denke, dass es in Deutschland aufgrund der Geschichte Israel gegenüber eine schreckliche Angst gibt, aber ich habe den Film nicht aus der Überzeugung heraus gemacht, dass das zionistische Projekt beseitigt werden sollte, weil der Ausgangspunkt hochgradig problematisch war. Ganz und gar nicht. Ich bin ein Produkt des Zionismus; ich lebe hier mit meinen Kindern; ich habe keinen anderen Ort. Ich denke nicht, dass Israel nicht existieren sollte. Ich denke einfach, dass es sehr wichtig ist, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen. In der israelischen kollektiven Identität gibt es etwas, in dem 1948 ewige Gegenwart ist. Es wird nicht möglich sein, aus dieser Schlinge herauszukommen, ohne sich mit der Geschichte von 1948 auseinanderzusetzen. Ich denke nicht, dass wir wirklich etwas verlieren werden, wenn wir das, was 1948 passiert ist, und das Leid des palästinensischen Volks anerkennen. Im Gegenteil, wir werden auch in vieler Hinsicht davon profitieren. Davon bin ich überzeugt. In der israelischen Gesellschaft gibt es etwas Krankes, und der Film versucht, dies anzusprechen. Er behandelt das nationale Narrativ und dekonstruiert es.

Zugleich versucht er zu verstehen, was mit der israelischen Seele in diesem Jahr passiert ist, und spricht über die moralische Korruption, die dieser ganze Krieg mit sich gebracht hat, und über die Verheimlichung, den Versuch, diese moralische Korruption zu vertuschen. Als ob sie nicht passiert wäre, wenn sie vertuscht wird. Aber das stimmt nicht. Es ist passiert und man kann es nicht vertuschen. Im Gegenteil, wenn man sich nicht darum kümmert, wird es nur noch schlimmer.

 In der israelischen Gesellschaft gibt es etwas Krankes, und der Film versucht, dies anzusprechen. Er behandelt das nationale Narrativ und dekonstruiert es.

RLS: Der Holocaust, der sich nur wenige Jahre zuvor ereignete, wird lediglich an ein paar Stellen im Film erwähnt. Dieser Kontext schwebt über dem Film, auch in seinem Titel «Erinnern und Vergessen», in dem der israelische Leitspruch der Holocaust-Gedenkfeiern «Erinnern und nicht vergessen» mitschwingt.

Neta Shoshani: In der Tat, ich habe mich nicht mit dem Holocaust beschäftigt, mit Ausnahme von ein paar kleinen Anspielungen in Briefen im Bewusstsein des Holocaust wenige Jahre danach: «Man kann uns nicht vernichten, wie die Juden Europas» oder «unsere Abrechnung mit den Nazis …» – dem Bewusstsein eines Juden, der nicht wie ein Schaf zur Schlachtbank geht, der nun für sein Land und seinen Platz kämpft und das Selbstbild des kämpfenden Juden annimmt. Das ist eine klare Reaktion auf den Holocaust, aber aus einer echten Notwendigkeit heraus. Es gab wirklich einen Holocaust; das jüdische Volk brauchte wirklich ein eigenes Territorium. Wir können darüber reden, welches und warum und so weiter. Aber ich habe mich in meinem Film nicht mit dem Holocaust als solchem befasst, weil ich Probleme mit dem Diskurs habe, der alles mit «Aber es gab den Holocaust» rechtfertigt. Einige Reaktionen auf den Film waren «Der Kontext sollte erwähnt werden» –, aber jeder kennt den Kontext, man kann ihm nicht entkommen. Während jemand als Israeli, der oder die im israelischen Bildungssystem aufgewachsen ist, vor der Geschichte von 1948 weglaufen kann, kann er oder sie dem Holocaust nicht entkommen; sie werden einen nicht vor ihm davonlaufen lassen.

RLS: In der progressiven Linken in Israel gibt es in den letzten Jahren die Tendenz, über den Holocaust und die Nakba zusammen zu sprechen, nicht um sie zu vergleichen, sondern um zu versuchen, das Leid des anderen Volkes, die andere nationale Katastrophe anzuerkennen.

Neta Shoshani: Es ist definitiv unmöglich, das, was den Jüdinnen und Juden in Europa im Holocaust widerfuhr, mit dem gleichzusetzen, was hier den Palästinenser*innen im Jahr 1948 widerfahren ist. Aber in Bezug auf die Diskussion über Erinnern und Vergessen und die Auseinandersetzung mit dem Leid des anderen Volkes bin ich davon überzeugt, dass die Tatsache, dass es den Holocaust gegeben hat, nichts daran ändert, dass das Leid eines anderen Volkes ein Leid ist, selbst wenn nicht sechs Millionen Menschen ermordet wurden und kein Völkermord begangen wurde. Es ist etwas passiert, das nicht ignoriert werden kann, weil es bis heute weiter existiert: Die Flüchtlinge, die wir 1948 aus dem Negev in den Gazastreifen oder aus Ashkelon/Majdal oder aus Ashdod vertrieben haben, leben dort bis heute in Flüchtlingslagern, ihr Leben ist bis heute ein Horror, und wir machen ihnen ihr Leben bis heute zur Hölle. Es ist nicht etwas, das war und das nun vorbei ist; aber wir erinnern uns nicht daran, weil es einfach bis heute andauert; es hat nie aufgehört. Der meines Erachtens einzige vergleichbare Ort ist Deutschland. Bei meinem letzten Besuch in Berlin habe ich voller Ehrfurcht gesehen, wie präsent die Erinnerung an das Leid im alltäglichen Leben der Deutschen ist. Man wird daran erinnert, wenn man durch Berlin geht und die goldenen Stolpersteine sieht, die an die Menschen erinnern, die aus jenem Gebäude an einen Ort geschickt wurden, an dem es kein Entrinnen gab. Die vielen Gedenkstätten und es kommen immer noch weitere hinzu. Darin liegt etwas sehr Wichtiges, nicht nur die Anerkennung des Leides des anderen Volkes und die Übernahme der Verantwortung für das, was die eigenen Vorfahren getan haben, sondern vor allem auch die Erinnerung an das, was sein könnte. Das ist eine Absicherung für die Zukunft. Ich denke nicht, dass wir in der Vergangenheit leben sollten, weder als Jüdinnen und Juden noch als Israelis. Aber wir leben in der Vergangenheit und der sehr chaotischen Gegenwart, und es fällt uns sehr schwer, in die Zukunft zu schauen, weil es scheint, als gäbe es hier keine Zukunft. An einem normalen Ort sollte man an die Zukunft denken, aber wir leben einfach nicht an einem normalen Ort.

[1] „Das silberne Tablett“ ist ein bekanntes hebräisches Gedicht von Natan Altermann, dessen Name zu einem Symbol der Tapferkeit der Kämpfer*innen im Unabhängigkeitskrieg zur Staatsgründung geworden ist.                                             

                                     Übersetzt aus dem Hebräischen von Ursula Wokoeck-Wollin

Interviewte

Neta Shoshani ist eine israelische Drehbuchautorin und Dokumentarfilmerin. Ihr Film «Born in Deir Yassin» (2017) wurde auf internationalen Filmfestivals mehrmals ausgezeichnet.

Autor:innen

Tali Konas ist Content Editorin für die RLS-Website

Anna Yael ist Büromanagerin des Tel Aviv Büros der Rosa Luxemburg Stiftung