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"Mit Besatzung ist es keine Demokratie", Demonstration im Siedlungsblock Gush-Etzion, Dezember 2022 (Foto: Mistaclim@)

Dann könnt ihr die israelische Demokratie vergessen: Auszug aus dem neuen Buch "Besatzung von Innen"

Menschenrechtsanwalt Michael Sfards Reise im Kielwasser des israelischen Autoritarismus, seiner tiefen Wurzeln und seiner erschütternden Folgen

Während Massen besorgter Bürger*innen aus Protest gegen den Putsch auf die Straße strömten, ignorierten die meisten weiterhin den undemokratischen Raum, den die israelischen Regierungen seit fast sechzig Jahren jenseits der Grünen Linie aufrechterhalten. Der Kodex blieb bestehen: keine Erwähnung der Besatzung. Diese Tatsache brachte Michael Sfard, einen der bekanntesten Menschenrechtsanwälte Israels, an seinen Schreibtisch.

“Ich wollte darlegen, wie Jahrzehnte israelischer Diktatur gegenüber den Palästinenser*innen eine Dynamik schufen, die den Staat Israel zur wahren Bedrohung brachte, die Anfang 2023 in unser Leben eindrang: die antidemokratische Guillotine nach innen zu drehen und eine neue und totalitäre Verfassungsstruktur anzuwenden, um alle Israelis, einschließlich der Juden, zu unterdrücken. Dann kam der 7. Oktober. Einen Moment lang dachte ich, dass nichts aus der vorherigen Welt relevant sei, aber mit der Zeit wurde mir klar, dass es nicht stimmte. Alles ist noch relevant.”

                                       * * * 

"Sag mal, Michael, wenn wir diese Beschwerde einreichen – besteht dann nicht die Gefahr, dass sie sich an uns rächen werden?“

Das charismatische Lächeln von Hassan (Name geändert) war graduell erloschen. Beim „Sag mal“ hatte er noch gelächelt, bei „an uns rächen“ war sein Gesicht schon ernst geworden.

Hassan und ich kennen uns seit zwanzig Jahren. Als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin, stand er an der Schwelle zur Dreißig und war schon damals der führende Kopf in seinem Dorf. Derjenige, der die Dinge regelte. Der sich kümmerte, wenn Nöte seine Gemeinde heimsuchten, wenn sie wie vergiftetes Manna vom Himmel auf sie herabkamen. Wäre er Israeli, wäre er sicher Vorsitzender eines großen Betriebsrats geworden, wenn nicht sogar ein basisnaher Parlamentsabgeordneter. Wenn es darum ging, sich für die Belange der Gemeinde vor den Offizier*innen der israelischen Zivilverwaltung starkzumachen – jenem staatlichen Verwaltungsapparat, der den Großteil des Alltagslebens der Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten bestimmt – war klar, dass Hassan dies tun würde. Wenn eine Ansprechperson für die Anwält*innen benötigt wurde, die die Dorfbewohner*innen vertraten, wurde Hassan für die Aufgabe bestimmt. Und wenn Delegationen internationaler Hilfsorganisationen ins Dorf kamen, stand außer Frage, dass Hassan derjenige war, der ihnen die Geschichte der Gemeinde erzählen würde. Dank seines scharfen Verstandes, seines ausgezeichneten Hebräischs und seiner Herkunft aus einer der zentralen Familien des Dorfes, wurde ihm der schwammige Titel „Sekretär des Dorfrates“ verliehen. Im Dorf lief de facto nichts ohne ihn.

Moment – habe ich „Dorf“ gesagt? Die israelische Staatsanwaltschaft besteht seit Jahren darauf, Arab Ar-Ramadin Al-Janubi – den Ort, an dem Hassan auf die Welt kam, aufwuchs und sein gesamtes bisheriges Leben verbrachte; den Ort, der das Zuhause von vierhundert Menschen ist – als „Ansammlung baulicher Anlagen“ zu bezeichnen. An besonders großzügigen Tagen: „Areal“. Die Anerkennung als „Dorf“ verweigert sie.

Gefährdet die Beschwerde, die ich einreichen will, das Dorf? Könnten sich die Behörden an den Bewohner*innen rächen – für ihre an den Tag gelegte Dreistigkeit, für das von ihnen initiierte juristische Verfahren? Wären Hassan und seine Nachbar*innen Israelis, hätte ich sofort und ohne zu zögern gesagt: „Unsinn, wie kommst du denn da drauf?!“. Aber sie sind keine Israelis.

Gefährdet die Beschwerde, die ich einreichen will, das Dorf? Könnten sich die Behörden an den Bewohner*innen rächen – für ihre an den Tag gelegte Dreistigkeit, für das von ihnen initiierte juristische Verfahren? Wären Hassan und seine Nachbar*innen Israelis, hätte ich sofort und ohne zu zögern gesagt: „Unsinn, wie kommst du denn da drauf?!“. Aber sie sind keine Israelis.

Ich erinnerte mich an den Anblick, der sich mir bot, als ich zum ersten Mal in das Dorf kam: das Bild von der Straße aus, die nach Ramadin führt. Ich fragte mich, wie viele der hier Entlangfahrenden überhaupt den himmelschreienden Widerspruch sehen, der sich zu beiden Seiten der Straße auftut. Moment – ich bin schon wieder durcheinandergekommen. Habe ich „die Straße, die nach Ramadin führt“ gesagt? Verzeihung. Ich meinte die Straße, die zur Siedlung Alfei Menasche führt, von der eine improvisierte und gefährliche Abzweigung auf den unbefestigten Weg abgeht, der sich zwischen den Wellblechhütten und den nackten Betonskeletten in Ramadin hindurchschlängelt. Wenn man von Westen aus Richtung Dorf fährt, sieht man, durch die Windschutzscheibe, rechterhand die Häuser von Alfei Menasche vor sich – Lebensqualität rotgeziegelter Dächer in bogenförmigen Reihen, die in die Landschaft blicken – und gleichzeitig linkerhand die Favela, die Ramadin ist – verstreute Bauten auf einem Hügel, ohne jegliche Planung oder Infrastruktur. Wenn die israelische Apartheid ein Profilfoto hätte, wäre es der gleichzeitige Anblick von Ramadin und Alfei Menasche.

Hassan goss uns weiteren Tee ein. Wir saßen im schattigen Bereich vor dem Eingang zu seinem Zuhause und ich hielt die Vollmachten und eidesstattliche Erklärungen in den Händen, die er gerade unterschrieben hatte – für die Beschwerde, die wir beim Bezirksgericht Jerusalem einreichen wollten. Darin forderten wir, dass die Zivilverwaltung – jener Verwaltungsapparat, der trotz seines Namens ein militärischer ist und der als Exekutive der israelischen Besatzungsherrschaft im Westjordanland fungiert – dazu verpflichtet wird, einen Generalbebauungsplan für Ramadin zu genehmigen. Obwohl das Dorf seit Jahrzehnten existiert, lange bevor Israel es besetzte, gibt es keinen offiziellen Bebauungsplan – was bedeutet, dass nichts von dem, was dort gebaut wurde und wird, legal ist. Für viele der Häuser wurden bereits Abrissverfügungen erlassen. Deshalb leben alle Bewohner*innen dort auf Bewährung.

„Ich frage dich ernsthaft, Michael.“ Hassan sah, dass ich nicht antwortete. „In den letzten Jahren gab es hier nicht viele Abrisse, bis auf die Moschee. Bevor wir die Beschwerde einreichen, will ich wissen, was du denkst: Könnte die Einreichung nicht dazu führen, dass sie wieder mehr abreißen?“

Ramadin ist die Name der Beduin*innen-Gemeinschaft, die im Dorf lebt. Die Ramadin-Beduin*innen sind Geflüchtete aus der Region Lakia in der Negevwüste, die im Jahre 1948, mit der Gründung des Staates Israel, zur Flucht ins Westjordanland gezwungen wurden. Sie kauften Land auf einem Hügel südlich von Qalqiliya, auf dem sie bis heute leben. In den 1980er Jahren wurde neben ihnen die Siedlung Alfei Menasche gegründet, die sich eines Großteils des Ramadiner Weidelands bemächtigte; und in den 2000er Jahren wurde die Sperranlange um das Dorf herum errichtet, die es von Norden, Osten und Süden physisch vom übrigen Westjordanland abtrennt. Auf diese Weise wurde den Bewohner*innen Ramadins der Zugang zur Stadt Qalqiliya versperrt, die bis zur Errichtung der Sperranlange fußläufig erreichbar war und sie bis dahin mit aller grundlegenden Infrastruktur versorgte: Bildung, Gesundheit, Arbeitsplätze und Gewerbe. Im Westen wird die Enklave, in die die Bewohner*innen Ramadins nun eingesperrt waren, durch eine rechtliche, unsichtbare Grenze abgeschlossen: Die Grüne Linie. Ihre Überquerung und das Betreten israelischen Territoriums ohne Genehmigung ist eine Straftat.

Hassan und seine Nachbar*innen habe ich kennengelernt, als der Bau der Sperranlage bereits abgeschlossen war. Anfangs vertrat ich das Dorf in einem Antrag gegen ihre Errichtung; in den darauffolgenden Jahren in sisyphosgleichen Kämpfen darum, ein Leben in der nun errichteten Enklave überhaupt zu ermöglichen. Als Hassan sich mir damals als Sekretär des Dorfrates Ramadin vorstellte, dachte ich mir insgeheim, dass es aus Sicht der Zivilverwaltungs-Offizier*innen ja gar kein Dorf gibt, und wenn es kein Dorf gibt, gibt es auch keinen Dorfrat – und übrig bleibt ein merkwürdiger Mensch, der hier herumläuft und sich als „Sekretär“ eines fiktiven Gremiums vorstellt.

Wer die israelische Besatzung gut kennt, weiß: Nicht alle Besetzten wurden gleich geboren, es gibt Besetzte und es gibt noch stärker Besetzte. Die Besatzung der Bewohner*innen Ramadins ist Triple-Extra-Large. Sie sind in allem von der israelischen Zivilverwaltung abhängig. Sie benötigen eine Genehmigung, um weiter auf ihrem abgeriegelten Hügel leben zu dürfen; eine Genehmigung, um die Enklave mit dem Auto verlassen zu dürfen, um sie mit notwendigen Einkäufen zu betreten, um zu atmen. Als einmal ein Esel aus dem Dorf davonlief und die Straße nach Alfei Menasche blockierte, drehten die Siedler*innen den Ramadiner*innen das Wasser ab. Nachdem die Ramadiner*innen Schekel für Schekel zusammengespart hatten, um eine Moschee im Dorf zu bauen –da sie Moscheen außerhalb der Enklave nicht erreichen können – ließ eine Gruppe von Bewohner*innen aus Alfei Menasche ihre Beziehungen spielen, und die Zivilverwaltung setzte den Abriss der Moschee ganz oben auf ihre Prioritätenliste. An jenem Tag, an dem ich Hassan wegen der Beschwerde traf, mit der wir die Genehmigung für einen Bebauungsplan des Dorfes erreichen wollten, sah man anstelle der Moschee nur noch einen Haufen Bauschutt.

Im Laufe der Jahre nutzte die Armee die absolute Abhängigkeit der Dorfbewohner*innen von der Zivilverwaltung aus. Sie unternahm jede erdenkliche Mühe, ihnen das Leben unerträglich zu machen, und versuchte so, sie zu einem Umzug an einen vorgeschlagenen Ort östlich der Sperranlage zu bewegen. Auf diese Weise würde die Enklave, die für die Siedlung Alfei Menasche geschaffen wurde, „frei“ von Palästinenser*innen. Wenn ihr umzieht, werdet ihr schöne Häuser haben, sagte man ihnen, Häuser aus Stein, keine Wellblechhütten mehr. Doch die Bewohner*innen Ramadins weigerten sich hartnäckig und unermüdlich. Sie waren schon einmal zu Flüchtlingen gemacht geworden, und sie waren nicht bereit, es ein zweites Mal zu werden. Da das Dorf legal nicht anerkannt ist, sind seine Bewohner*innen in den von der Zivilverwaltung ausgestellten Personalausweisen als Einwohner*innen Qalqiliyas verzeichnet – jener Stadt, zu der ihnen die Sperranlage den Zugang nimmt.

„Ich kann dir leider nichts versprechen“, antwortete ich Hassan schließlich frustriert auf seine Frage. Ich dachte an die Beschwerde, die ich im Namen zweier anderer Dörfer neben Alfei Menasche eingereicht hatte, in der wir verlangt hatten, den Verlauf der Sperranlage zu verändern, um die Bewohner*innen aus dem Gefängnis der Enklave herauszuholen. Wundersamerweise wurden daraufhin prompt Abrissverfügungen für die Häuser genau jener Beschwerdeführer*innen erlassen, die von der Gemeinde zufällig als ihre Vertretung ausgewählt worden waren. „Aber ich fürchte, Hassan, wenn wir keine Beschwerde einreichen, werden sie irgendwann kommen und alles abreißen. Letztendlich, das weißt du, wollen sie euch hier nicht.“

Wie zum Teufel ist es möglich, dass ich – ein erfahrener und bei der zivilen und militärischen Staatsanwaltschaft relativ bekannter Anwalt – meinen Mandant*innen nicht zusichern kann, dass das Regime sie nicht schikanieren wird, nur weil sie ein Verfahren vor den Gerichten eben jenes Regimes angestoßen haben? Wie wir in den Monaten zuvor herausgefunden hatten, haben die Bewohner*innen von Alfei Menasche Verbindungen, durch die sie Menschen mit Gewehren und D9-Caterpillar-Bullodzern dazu bewegen können, eine Moschee in Ramadin niederzureißen. Die Bewohner*innen Ramadins haben solche Verbindungen nicht. Sie sind keine Bürger*innen des Staates, zu dessen Armee auch die Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten gehört. Sie haben keine Vertreter*innen in der Knesset, in der Regierung, den Gerichtshöfen, oder in der Bürokratie. Im Laufe meines Lebens habe ich bereits 13-mal bei den israelischen Parlamentswahlen teilgenommen (fünfmal während des Wahnsinns ständiger Koalitionswechsel zwischen den Jahren 2019 bis 2022). 13-mal habe ich Vertreter*innen gewählt, die mich und meine Einstellungen in Verfahren repräsentieren, in denen Gesetze formuliert und Normen festgelegt werden, die mein Leben und das Leben meiner Familie bestimmen. Während all dieser Zeit konnte Hassan nicht ein einziges Mal wählen, vielleicht mit Ausnahme für seinen „Dorfrat“, der aus Sicht der Behörden so viel gilt wie ein imaginärer Freund.

Hassans Leben wird vollständig von einem Militärkommandanten bestimmt, der für ihn Exekutive, Judikative und Legislative in einem ist. Eine einzige, allmächtig herrschende Instanz. Der Militärkommandant hat die Befugnis zu entscheiden, ob Hassan ein Haus bauen oder ins Ausland reisen darf, wie hoch die Mehrwertsteuer ist, die Hassan zu zahlen hat, und welche Strafe er bekommt, wenn er gegen ein Gesetz verstößt. Wenn der Militärkommandant will, kann er Hassans Genehmigung, in seinem eigenen Dorf zu leben, widerrufen. Er kann einen Abrissbefehl für Hassans Haus erlassen und durchsetzen. Er kann Hassan sogar in Administrativhaft[1] nehmen. Für Hassan gibt es keine Gewaltenteilung, keine Mehrheit und keine Minderheit – nur einen allmächtigen Herrscher und seine Untertanen.

Hassan hat keine Stimme im System, das über ihn regiert, und keine Mittel, Einfluss darauf zu nehmen. Er ist ein Niemand.

Zwanzig Minuten westlich von Ramadin hatten sich fast zweihunderttausend Demonstrierende versammelt. Der Menschenstrom erstreckte sich von der Ibn-Gabriol-Straße entlang der Kaplan-Straße bis zur HaSchalom-Brücke. „Mein Land, das hat drei Gewalten, drei Gewalten hat mein Land“, sang eine Gruppe von Kindern, angeführt von einer der Mütter, und zog liebevolle Blicke der Demonstrierenden auf sich. „Und hätt es nicht drei Gewalten, dann wär es nicht mein Land.“

Woche für Woche, oft auch mehrmals wöchentlich, gingen Tausende Demonstrierende auf die Straßen und Kreuzungen des Landes, blockierten zentrale Verkehrsknotenpunkte, protestierten überall dort, wo Minister*innen oder Abgeordnete der Regierungskoalition auftauchten. Das sechste Kabinett Netanjahu hatte falsche Schlüsse aus der Vergangenheit gezogen und die Kraft der Freiheitsliebe jener Israelis unterschätzt, die nicht zu ihren Wähler*innen gehörten.

Doch es wäre ungerecht, die faschistischen, rassistischen und korrupten Koalitionsmitglieder dafür zu verspotten, dass sie den Protest nicht hatten kommen sehen, der wie eine Lawine über sie hereinbrach. 2023 erlitt auch die etablierte politische Soziologie der israelischen Gesellschaft eine vernichtende Niederlage. Nicht eine*r der Expert*innen der israelischen Gesellschaft war nicht bis auf den Grund seines sachkundigen Herzens überrascht von der Schlagkraft des Widerstandes, der Anfang jenes Jahres gegen den angekündigten autoritären Staatsumbau der israelischen Regierung ausbrach, sowie über die Beharrlichkeit des zivilen Ungehorsams, den die Regierungspläne ausgelöst hatten. In jenem Winter, der sich in einen Frühling und dann in einen glühenden Sommer verwandelte, mussten all jene Forscher*innen feststellen, dass ihre grundlegenden Annahmen über die politische „DNA“ der israelischen Gesellschaft, deren feingliedrigste Strukturen sie erforscht, gelehrt und in Büchern beschrieben hatten, völlig unzutreffend waren. Es zeigte sich, dass in jenem Teil der israelischen Gesellschaft, dem man gemeinhin nachsagt, er verbringe all seine Zeit in Cafés und Restaurants (Codewort: „Tel Aviver*innen“), ein gewaltiges Potenzial schlummert, eine Bereitschaft, im Kampf gegen eine konkrete innere Bedrohung Opfer zu erbringen. Unter der Oberfläche des Hedonismus und der Sucht nach Brot und Spielen, so stellte sich heraus, existiert ein glühender Kern, der nicht bereit ist, ein Leben in einem politischen Rahmen zu akzeptieren, dessen Selbstverständnis nicht das einer offenen und demokratischen Gesellschaft ist, die Freiheits- und Gleichheitsrechte achtet.

Eine Besatzung im Außen ist nicht wie eine Diktatur im Inneren. Und überhaupt – vielleicht ähneln sich Demokratien in ihrer jeweiligen Schönheit, aber jede Diktatur ist auf ihre Weise hässlich.

Während dieser stürmischen Monate frequentierten viele der Demonstrierenden weiterhin die gewohnten Bars und Cafés, gingen aber mit Fahnen und Protestschildern bewaffnet dorthin, wie um zu zeigen: Wir sind auf dem Weg zum Demonstrieren auf der Kaplan-Straße, die zum geflügelten Spitznamen der Protestbewegung wurde, oder: Wir kommen gerade von dort zurück. Und sowieso, wir gehen nur noch mit geschnürten Schuhen zu Bett, denn jederzeit könnte man uns rufen, vor einer Polizeiwache zu demonstrieren, in der ein anderer Demonstrant festgehalten wird.

Die Demonstrant*innen waren natürlich nicht nur Tel Aviver*innen. Die Kriegserklärung des Kabinetts Netanjahu gegen das bisherige Regierungssystem riss große Zirkel der israelischen Gesellschaft aus dem Zustand politischen Desinteresses und brachte Koalitionen hervor, von denen man nie gedacht hätte, dass sie gemeinsam an derselben Kundgebung teilnehmen würden: Das vorstädtische Israel und das urbane Israel, das wirtschaftsliberale Israel und das sicherheitspolitische Israel, das proletarische Israel und das akademische Israel, Menschen aus Kibbuzim und Moschawim und Menschen aus dem Hightech-Bereich.

Was verband all diese Demonstrant*innen, die weder dieselben sozial-ökonomischen noch politischen Ansichten hatten? Welcher Impuls brach sowohl bei Menschen aus, deren Selbstverständnis untrennbar mit ihrer militärischen Karriere verbunden ist, wie gleichermaßen auch bei Aktivist*innen, die für Frauen- und LGBTIQ+-Rechte kämpfen? Was war derart bedrohlich, dass es sowohl den Spitzen des wirtschaftlichen Establishments kalten Schweiß auf die Stirn trieb, als auch den prekär Angestellten, die kaum über die Runden kommen? Die Antwort, so argumentiere ich, ist klar: Alle hatten Angst, Hassan zu werden. Und unter keinen Umständen würden sie sich damit abfinden, Hassan zu werden. Weder ein ganzer noch ein halber Hassan. Auch kein Drittel oder Zehntel Hassan.

Deshalb gingen sie auf die Straße. Und das ist einer der Gründe, warum Palästinenser*innen mit israelischer Staatsbürgerschaft nicht auf die Straße gingen: Sie waren ohnehin schon etwas zwischen einem Drittel und einem halben Hassan. Die Demonstrationen der jüdischen Israelis wurden getragen von der Furcht, die Regierung könnte die Ordnung der grundlegenden israelischen Gesetze so ändern, dass keines ihrer Rechte mehr garantiert und keine Freiheit mehr in Stein gemeißelt bliebe. Es war die Furcht vor einer Regierungsform, in der die Gewaltenteilung zerstört und die Unabhängigkeit der Justiz zerschlagen sein würde. Einer Regierungsform, in der die Macht bei einer einzigen Instanz, vielleicht sogar bei einer einzigen Person, konzentriert wäre, die de facto keinem ihr außenstehenden Kontrollorgan Rechenschaft für ihr Handeln schuldet. Aufgrund dieser Furcht gingen massenweise Menschen auf die Straße und blieben dort monatelang. Es war ein Kampf um Freiheit.

Und deshalb waren unter den Hunderttausenden ohne Zweifel auch Demonstrierende aus Alfei Menasche. Sie wussten besser als der durchschnittliche Israeli, wie beschissen es ist, Hassan zu sein. Bei den letzten Wahlen, im Jahr 2022, wählte die Hälfte der Einwohner*innen von Alfei Menasche Parteien, die nicht Teil der Netanjahu-Ben-Gvir-Smotrich-Koalition wurden.

Die 37. Regierung Israels schuf den perfekten Sturm der Affekte. Eine Kombination von nationalistischen, messianischen, rassistischen, chauvinistischen, queerfeindlichen und korrupten Einstellungen übernahm das Ruder der Macht und verfolgte offen eine zutiefst antidemokratische Agenda. Die Koalitionspartner Netanjahus kamen wie eine Rudel ausgehungerte Raubtiere, die unverhofft ein Rehkitz vor sich gefunden hatten und sich mit Schaum vor dem Mund darum scharten, diesmal mit dem Gefühl, dass all ihre Fantasien verwirklicht werden könnten. Nicht nur verwirklicht, sondern auch verewigt: Die Ordnung der Dinge sollte für immer verändert werden.

Die ultraorthodoxen Parteien erhofften sich, die Militärdienstbefreiung der Tora- und Talmudhochschüler ein für alle Mal gesetzlich zu verankern, die öffentliche Subventionierung ihrer religiösen Hochschulen, der Jeschiwot, massiv zu erhöhen und das Gleichgewicht im öffentlichen Raum zwischen dem Recht auf individuelle Freiheit und dem auf Gleichberechtigung (insbesondere der Geschlechter) zu ihren Gunsten zu verschieben, hin zu mehr Rücksicht auf ihre religiösen Auffassungen.

Die Anhänger*innen des Premierministers „Bibi“ Netanjahus – die „Bibisten“ –beabsichtigten, das Justizsystem aushöhlen und es bis zur Aufhebung der Strafprozesse gegen Netanjahu schwächen. Sie wollten die juristischen „Fesseln“ loswerden, die bisher das pluralistische Prinzip bei Fragen öffentlicher Finanzierung verteidigen sowie Vetternwirtschaft in öffentlichen Ämtern begrenzen sollen. Kurz gesagt – sie wollten ihren Sieg vollstrecken, wie es in biblischen Zeiten üblich war: Die ihnen Unterlegenen auslöschen, und mit ihnen ihre Kultur, ihre Werte.

Die Siedler*innen waren darauf aus, das Westjordanland vollständig und endgültig zu annektieren, es bis zum Rand mit jüdischen Siedler*innen zu füllen und die Palästinenser*innen ein für alle Mal in ihre urbanen Enklaven zurückzudrängen, sie vielleicht ganz zu vertreiben, und die jüdische Vorherrschaft im gesamten Gebiet zwischen dem Mittelmeer und dem Jordanfluss juristisch und in den grundlegenden Gesetzen des Staates zu verankern.

Die führenden Köpfe der Netanjahu-Koalition wussten: das größte – wenn nicht gar einzige – Hindernis zur Verwirklichung ihrer ambitionierten Ziele stellen die Staatsanwält*innen und das Oberste Gericht Israels dar. In der aktuellen Struktur des israelischen Regierungssystems wird die Macht der parlamentarischen Mehrheit nahezu ausschließlich durch die gerichtliche Kontrolle des Oberen Gerichtshofs für Justiz eingeschränkt. Diese Kontrolle verleiht den jeweiligen Staatsanwält*innen Macht. Die Entscheidung, ob ein Verwaltungsakt einen verwaltungsrechtlichen Mangel aufweist, liegt in ihrer Hand: ob die Entscheidung von sachfremden Überlegungen beeinflusst wurde, ob jene zuständige Ministerin oder jene zuständige Beamtin, die sie getroffen hat, von ihrer gesetzlich festgelegten Befugnis abgewichen ist, ob die entschiedene Maßnahme diskriminierend ist oder einer faktischen Grundlage entbehrt, oder ob die der Entscheidung zugrundeliegenden Erwägungen in extremem Maße unangemessen sind.

Die Anführer der ultraorthodoxen Parteien waren sich bewusst, dass die vollständige Befreiung der Absolvent*innen ultraorthodoxer Bildungseinrichtungen vom Wehrdienst sowie die massive staatliche Finanzierung des Studiums in den Jeschiwot inklusive Lebensunterhaltungskosten der Jeschiwa-Studenten seitens der Jurisprudenz auf den Vorwurf einer eklatanten Diskriminierung gegenüber nicht-ultraorthodoxen jungen Menschen treffen würde, denn diese sind gesetzlich verpflichtet, Wehrdienst zu leisten. Auch würden Student*innen diskriminiert, die neben dem Studium manchmal in mehreren Jobs gleichzeitig arbeiten müssen, um sich das Leben zu finanzieren.

Die Bibisten wussten genau: Solange die Beamt*innen im Justizsystem – vor allem die Richter*innen des Obersten Gerichts, die Generalstaatsanwältin und der Leiter der Staatsanwaltschaft – unabhängige Fachleute sind und keine von Bibis Gefolgsleuten ernannten politischen Opportunist*innen, wird es keine Möglichkeit für die politische Führung geben, den Ausgang der Verfahren gegen Netanjahu zu bestimmen. Auch ihre antidemokratischen Träume der Vetternwirtschaft in öffentlichen Positionen würden sich so nicht erfüllen lassen.

Der Flügel der faschistisch-rassistischen Siedler*innen in Netanjahus Koalition hingegen hätte – aus der Erfahrung der Vergangenheit – wissen müssen, dass das Oberste Gericht in Wirklichkeit nichts von den Abscheulichkeiten aufhält, die dieser Flügel in den besetzten Gebieten umsetzen will. Das Oberste Gericht mag vielleicht das Tempo verlangsamen, in dem die Verbrechen umgesetzt werden, aber es wird sie nicht verhindern. Nehmen wir zum Beispiel die Verfahren zur Enteignung palästinensischen Landes zur Erweiterung von Siedlungen und die nachträgliche Legalisierung von Siedlungsaußenposten.

Im Jahr 2017 wurde das sogenannte „Regulationsgesetz zur Besiedlung von Judäa und Samaria“ verabschiedet, das unverblümt festlegte, dass Land aus privatem palästinensischen Besitz, auf das Siedler*innen eingedrungen waren, enteignet und den Eindringlingen zugesprochen werden solle. Zwar stoppte das Oberste Gericht diesen ungeniert offenen Versuch des Landraubes und erklärte das Gesetz in einem Verfahren, in dem ich die Ehre hatte, einige der Beschwerdeführer*innen zu vertreten, für nichtig – doch im Gegenzug legitimierte es in Dutzenden von anderen Urteilen einen komplizierten, langsamen und bürokratischen Raub palästinensischen Landes in gewaltigen Ausmaßen (der sich nicht selten über Jahre hinzieht). Auch legitimiert das Oberste Gericht de facto die Politik der Regierung und der Zivilverwaltung, die von Palästinenser*innen entwendetes Land ausschließlich Siedler*innen zuspricht. Die frühere Generation der Siedlungsführer war konservativ in ihrer politischen Herangehensweise und glaubte an den Dauerlauf eines schleppenden, schrittweisen Wandels. Daher störte es sie nicht, dass ihre Ziele durch den Obersten Gerichtshof auf einen langen, juristischen Pfad geleitet wurden – "das ewige Volk Israel fürchtet sich schließlich nicht vor einem langen Weg", wie ein von Nationalreligiösen geliebtes Sprichwort sagt. Die heutige Generation ist anders. Bezalel Smotrich, Itamar Ben-Gvir und Simcha Rothman sind keine Konservativen, sie sind Revolutionäre. Sie wollen alles, und zwar sofort. Und für den „Alles-und-zwar-sofort“-Sprint ist der Oberste Gerichtshof wie ein Stein im Schuh.

So trat die 37. Regierung Israels ihren Weg an, mit dem Appetit ausgehungerter Hyänen und der Ethik einer Verbrecherorganisation. Jedes ihrer Lager verfolgte eigene Interessen und Erwartungen, deren Verwirklichung die Demontage des Justizsystems erforderte: Die Entmachtung des Obersten Gerichts und die Wandlung der Rolle der Generalstaatssekretär*in in die einer Erfüllungsgehilfin der politischen Führung.

Auf dem juristischen Umsturz liegt zwar alle Aufmerksamkeit, aber er ist keineswegs ein Einzelkind: Parallel zu ihm hat die israelische Regierung einen zweiten Umsturz in Gang gesetzt, nicht weniger radikal und weitreichend: Eine grundlegende Veränderung des Herrschafts- und Verwaltungsgefüges im Westjordanland, die auf rechtlicher Ebene eine vollumfängliche Annexion des Gebietes bedeutet.

Das also soll die Message sein? Ihr, die ihr gerade den Text lest, rümpft jetzt vermutlich verächtlich die Nase. Das ist, was der Autor uns verkaufen will? Dass der Protest eine vollkommen heuchlerische Sache war, weil nur zwanzig Minuten entfernt von Kaplan seit sechs Jahrzehnten ein israelisches Regime herrscht, dessen Merkmale genau das sind, gegen das wir kämpfen, damit es nicht auch uns trifft? Ein Regime ohne Gewaltenteilung, ohne Schranken für die Herrschaft der Mehrheit (dort, 20 Minuten von Kaplan entfernt, ist es nicht einmal mehr die Herrschaft der Mehrheit, sondern die Herrschaft der Herrschenden), ein Regime ohne Rechte? Will er uns fragen, wo wir all die Jahre zuvor waren und warum wir erst im Winter 2023 aufgewacht sind? Etwa weil plötzlich unsere Rechte und Freiheiten in Gefahr waren? Klassischer linker Moralprediger.

Nein, wirklich nicht. Ich schwöre, das war nicht mein Ziel (auch wenn die Analyse, die ich mir in euren Mund zu legen erlaubt habe, richtig ist). Zu behaupten, der Zusammenhang zwischen der Besatzung und dem autoritären Staatsumbau liege darin, dass - sollten die Umsturzpläne gelingen – die Besatzung in ähnlicher Weise nach Israel selbst kommt, wäre oberflächlich und würde tiefere Ebenen der Situation völlig ausblenden. Außerdem ist eine Besatzung im Außen nicht wie eine Diktatur im Inneren. Und überhaupt – vielleicht ähneln sich Demokratien in ihrer jeweiligen Schönheit, aber jede Diktatur ist auf ihre Weise hässlich.

Um zu verstehen, wie die Besatzung mit dem autoritären Staatsumbau zusammenhängt, muss man zuerst verstehen, was Besatzung überhaupt bedeutet, und dann die spezifischen Charakteristika der israelischen Besatzung kennenlernen. Man muss sich ihrer Gifte gewahr werden, die sie über all die Jahre ihres Bestehens in unseren kollektiven Körper freigesetzt hat, und die sie weiter in immer stärkeren Dosen freisetzt. Man muss ihre Auswüchse, ihre Triebe in unserem Gesellschaftsgewebe sehen. Es ist kein Zufall, dass Netanjahus Koalition zwei Umstürze auf einmal angekündigt hat.

Auf dem juristischen Umsturz liegt zwar alle Aufmerksamkeit, aber er ist keineswegs ein Einzelkind: Parallel zu ihm hat die israelische Regierung einen zweiten Umsturz in Gang gesetzt, nicht weniger radikal und weitreichend: Eine grundlegende Veränderung des Herrschafts- und Verwaltungsgefüges im Westjordanland, die auf rechtlicher Ebene eine vollumfängliche Annexion des Gebietes bedeutet.

Die Umsetzung beider Umstürze wird zeitgleich versucht. Beide – nicht nur der erste – zielen darauf ab, das israelische Regierungssystem grundlegend umzugestalten. Über den Plan des ersten Umsturzes wissen alle Bescheid, aber das Feuer, das er entfachte, verdeckt den zweiten weitgehend. Doch die Einzelheiten des zweiten Umsturzes sind ausdrücklich in den Koalitionsvereinbarungen festgehalten. Er ist der ganze Stolz der Vertreter*innen der Siedlungsbewegung sowie ihrer Unterstützer*innen in der Regierung, und in Ermangelung eines entschlossenen Widerstandes seitens der Kaplan-Demonstrierenden wird er in einem atemberaubenden Tempo durchgeführt. Das Ziel ist die Vollendung eines Prozesses, der seit über fünfeinhalb Jahrzehnten konsequent vorangeschritten ist: die Einpflanzung der Westbank in den israelischen Staatskörper, bei gleichzeitiger Festigung der jüdischen Vorherrschaft. Und wenn das geschieht – selbst wenn es Justizminister Yariv Levin und seine Clique nicht gelingt, den Ausschuss zur Richter*innenwahl unter ihre Kontrolle zu bringen – könnt ihr die israelische Demokratie vergessen.

                     Aus dem Hebräischen übersetzt von Lucia Engelbrecht

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Zur Buchseite "Besatzung von Innen" beim Berl Katznelson Stiftungs Verlag (Hebräisch)

Anmerkungen

[1] Administrativhaft bedeutet, dass Menschen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren über längere Zeit festgehalten werden können. Das Völkerrecht erlaubt eine solche Praxis nur in seltenen Ausnahmesituationen, wenn Gefahren für die Sicherheit eines Landes nicht anders abgewendet werden können. Die umfangreiche Anwendung der Administrativhaft durch Israel verstößt demnach eklatant gegen völkerrechtliche Auflagen. Ende Dezember 2024 hielt der israelische Strafvollzugsdienst 3.327 Palästinenser*innen in Administrativhaft fest.

Autor:in

Michael Sfard ist ein auf internationales Recht, insbesondere Menschenrechte und Kriegsrecht, spezialisierter Rechtsanwalt und Publizist sowie Autor des Buchs The Wall and the Gate: Israel, Palestine, and the Legal Battle for Human Rights (2018).

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