Szenen der Verwüstung im Dorf Duma im Westjordanland nach einem Überfall unbekannter Angreifer, 12. Mai 2024, Foto: Flash90/Nasser Ishtayeh
Israels unsichtbare zweite Front
Während der Krieg im Gazastreifen weiter tobt, dringen militante jüdische Siedler*innen immer weiter ins palästinensische Kernland vor
Am 28. Februar 2024, etwa vier Monate nach Beginn des israelischen Krieges im Gazastreifen, ergriffen Dutzende junger israelischer Siedler*innen die Gelegenheit, einen Präzedenzfall zu schaffen. Fast 20 Jahre nach der Räumung der jüdischen Siedlungen im Gazastreifen auf Initiative der Regierung von Ariel Sharon stürmte eine kleine Gruppe von Siedler*innen den Grenzübergang Erez in einem ersten Versuch, die jüdischen Siedlungen wieder aufzubauen. Berichten zufolge trugen einige von ihnen Baumaterial und mindestens zwei der Beteiligten Armeegewehre bei sich.
«Wir sind hierher gekommen, [weil] wir nach Hause wollten. Ich lebe in einer Gemeinschaft von Vertriebenen aus dem Gush Katif, und wir wollten zurück», sagte ein 18-jähriger Siedler gegenüber Local Call. «Ich möchte, dass die Regierung versteht, was die Mehrheit der Menschen bereits verstanden hat: Wir sind hier. Das ist unser Land … Wir müssen nach Gaza gehen, den ganzen Terror dort beenden und uns etwas aufbauen», sagte ein anderer.
Die Siedler*innen waren erfolgreich – zumindest für einen Moment. Es gelang ihnen, einen provisorischen Außenposten ähnlich denen im besetzten Westjordanland zu errichten. Sie nannten ihn Nisanit Hachadasha («Neues Nisanit»), nach einer der Siedlungen im Gush Katif, dem jüdischen Siedlungsgebiet, das 2005 im Rahmen des Abkoppelungsplans geräumt wurde. Doch anders als bei der Räumung, bei der 9.000 Siedler*innen von Polizei und Militär gewaltsam aus einer Siedlung vertrieben wurden, die sie inmitten der palästinensischen Zivilbevölkerung errichtet hatten, waren diesmal israelische Sicherheitskräfte zum Schutz der Siedler*innen in der Nähe. Es dauerte mehrere Stunden, bis die Polizei eintraf, um die Siedler*innen zu vertreiben.
Für das ungeschulte Auge mag Nisanit Hachadasha ein Randphänomen sein, das nicht ernst zu nehmen ist. Doch in vielerlei Hinsicht war das Ereignis Ausdruck einer Vision, die seit Jahrzehnten in der Siedlungsbewegung gärt – einer Vision, die nur durch eine paradigmenverändernde Gewaltexplosion wie einen radikalen Krieg oder eine ethnische Säuberung verwirklicht werden kann, die die Gründung eines palästinensischen Staates endgültig vereitelt und die Siedler*innen zu den Machthabenden des Landes macht.
Israels beispielloser Angriff und die Verwüstung des Gazastreifens als Reaktion auf die grausamen Angriffe der Hamas auf Südisrael und die Entführung hunderter Geiseln am 7. Oktober boten den Siedler*innen eine solche Gelegenheit zur Eskalation. Während in der israelischen Mehrheitsgesellschaft eine Stimmung herrscht, die in einem «notwendigen» und «gerechten» Verteidigungskrieg ein schmerzhaftes Opfer sieht, konnten die Siedler*innen und ihre Vertreter*innen in der Knesset ihre Jubelstimmung nur schwer verbergen. Sie sehen ihre Stunde gekommen, Geschichte zu schreiben. Und tatsächlich stellt sich nicht nur die Frage, ob sie Erfolg haben werden, sondern auch, welche Risiken ein mögliches Scheitern für ihr gesamtes Projekt bedeuten könnte.
Nationalreligiöser Revanchismus
Am Morgen des 7. Oktober, als die Schrecken der Hamas-Angriffe immer deutlicher wurden (1.200 getötete Israelis, 252 Geiselnahmen und ein halbes Dutzend zerstörte Kibbuze), wünschte die israelische Ministerin für Siedlungen und nationale Projekte, Orit Strock, in ihrer Rede vor dem Kabinett: «Zuerst einmal: Frohe Feiertage», und bezog sich dabei auf den jüdischen Feiertag Simchat Tora. «Das wird kein fröhlicher Feiertag», widersprach Premierminister Benjamin Netanjahu und spiegelte damit die Kluft zwischen ihm und den fundamentalistischen Koalitionspartnern, die seine Regierung stützen.
Im Laufe des Krieges wurde Strock zum Symbol einer Art Schadenfreude, die die national-religiöse Bewegung seit den Wahlen im November 2022, die sie auf den Höhepunkt ihrer Macht brachten, und sicherlich seit Beginn des Krieges kennzeichnet. Im Mai 2024 sprach sich Strock offen gegen das «furchtbare» Waffenstillstandsabkommen aus, dessen Annahme einem Verrat an den Soldat*innen der IDF und den Kriegszielen Israels gleichkäme. Als Reaktion auf die US-Bemühungen, einen Waffenstillstand auszuhandeln, sagte Strock, «die USA verdienen es nicht, als Freund des Staates Israel bezeichnet zu werden». Anfang Juli erklärte sie vor einer Gruppe von Siedler*innen, dass Israel in eine «wunderbare» Ära eingetreten sei – das Wunder, um das es geht, ist die Ausweitung der Siedlungen.
Sie ist keineswegs allein, und die Siedlungsbewegung ist gewiss nicht der einzige Teil der israelischen Gesellschaft, der für mehr Blutvergießen agitiert. Der gesamte rechte Flügel, von Netanjahus Verbündeten in den Medien bis hin zu rechtsgerichteten Haredi-Journalist*innen, ist regelrecht euphorisch und fordert freudig die Vertreibung der Palästinenser*innen und die Auslöschung des Gazastreifens, wie wir ihn kennen.
Diese Euphorie reicht tief in die israelische Mehrheitsgesellschaft hinein, die sich, schockiert von der Brutalität des Hamas-Angriffs und wütend über die Unfähigkeit von Regierung und Armee, ihn zu verhindern, in der schwersten Stunde Israels von der Welt im Stich gelassen und verraten sieht. In dieser Atmosphäre eroberten Rap-Songs mit genozidalen Texten die Pop-Charts, wurden zivilgesellschaftliche Initiativen ins Leben gerufen, um Israels Rücksichtslosigkeit zu rechtfertigen, machten sich Künstler*innen, die einst mit Multikulturalismus in Verbindung gebracht wurden, rechtsextreme Argumente zu eigen, werden Aufrufe zur Beendigung des Krieges häufig als Verrat angesehen und erreichten die Proteste gegen die Regierung bei weitem nicht die Zahlen, die während der Bewegung gegen den rechtsgerichteten Staatsstreich im vergangenen Jahr zu verzeichnen waren.
Wäre die israelische Öffentlichkeit nicht über Netanjahus politische Motive für die Aufkündigung eines Waffenstillstandsabkommens gespalten und hätte die Armee nicht öffentlich erklärt, dass sie weder die Hamas besiegt noch die große Mehrheit der Geiseln durch Militäroperationen gerettet habe, wäre es denkbar, dass die Mitte und ein großer Teil der Linken Netanjahus bewusst vage formuliertes Ziel eines «totalen Sieges» weiterhin unterstützen würden. Doch seit dem 7. Oktober sind die religiösen Zionist*innen (die Ideologie der großen Mehrheit der Siedler*innen im Westjordanland) die eifrigsten Befürworter*innen des Krieges und seines Potenzials, das Land sowohl demografisch als auch geografisch neu zu gestalten.
Rabbiner feierten öffentlich und ohne Scham den Krieg und die Möglichkeiten, die er für die Neugestaltung der politischen Ordnung eröffnete. Siedlermedien wie der radikale Fernsehsender Arutz 7 und die eher gemäßigte Wochenzeitung Makor Rishon, die weithin als Sprachrohr der Siedlerelite gilt, feierten fast einhellig die dauerhafte Wiederbesetzung und Neubesiedlung des Gazastreifens. Religiöse Soldat*innen, die im Gazastreifen kämpfen – insbesondere die «Hardalim», rechtsextreme Nationalist*innen, deren politische Überzeugungen von religiösem Eifer durchdrungen sind –, haben den aktuellen Krieg genutzt, um die Armee in ihrem Sinne umzugestalten und die Soldat*innen mit extremistischer Rhetorik zu beeinflussen.
Moshe Feiglin, ein rechtsextremer Siedler und ehemaliger Knessetabgeordneter der regierenden Likud-Partei, berief sich auf Adolf Hitler, um zu schildern, was mit den Palästinenser*innen in Gaza geschehen solle. Bezalel Smotrich, israelischer Finanzminister und eine der mächtigsten Personen in der gegenwärtigen Regierung, forderte öffentlich eine permanente militärische Kontrolle des Gazastreifens, lehnte jede Verantwortung für die Ereignisse des 7. Oktober ab und sagte den Familien der Geiseln, dass jede Vereinbarung mit der Hamas über die Rückkehr ihrer Angehörigen einem «kollektiven Selbstmord» gleichkäme.
In der Zwischenzeit wurden im Gazastreifen Dutzende Soldaten, darunter auch Offizieren, dabei beobachtet, wie sie orangefarbene Fahnen schwenkten, die mit der Bewegung für die Wiederbesiedlung von Gush Katif in Verbindung gebracht werden, und Plakate hochhielten, auf denen der Wiederaufbau von Siedlungen angekündigt oder zur Wiedererrichtung jüdischer Gemeinden in diesen Gebieten aufgerufen wurde.
«Nie zuvor hatten sie einen derartigen Einfluss auf die israelische Politik, und Netanjahu hat Angst, dass sie die Regierung zu Fall bringen könnten, was ihnen enormen Einfluss und Macht verleiht, um den Krieg am Laufen zu halten.»
Es überrascht daher nicht, dass der Versuch, einen Siedlungsaußenposten im nördlichen Gazastreifen zu errichten, nur einen Monat nach der Teilnahme von 15 Mitgliedern der Regierungskoalition, darunter auch Smotrich, an der «Konferenz des Sieges» in Jerusalem erfolgte. Dort forderten sie die israelische Regierung auf, die Wiedererrichtung von Siedlungen im Gazastreifen zu fördern. Zu einer Zeit, in der die Zahl der im Gazastreifen gefallenen israelischen Soldat*innen stieg, wurden Siedlerführer*innen beim ekstatischen Tanzen gefilmt. An der Wand des Konferenzsaals war eine riesige Karte des Gazastreifens zu sehen, auf der die Standorte möglicher neuer Siedlungen eingezeichnet waren, die auf den Ruinen von Städten, Dörfern und Flüchtlingslagern errichtet werden sollten. Was mit den 2 Millionen Palästinenser*innen, die in diesem Streifen leben, geschehen sollte, wurde nicht diskutiert. Eine ähnliche Konferenz zur Förderung der Besiedlung des Südlibanon fand Mitte Juni statt.
Innerhalb weniger Monate hielt die so genannte Lobby für die Besiedlung des Gazastreifens ihre erste Sitzung in der Knesset ab, bei der der Likud-Abgeordnete Tzvika Fogel Israel aufforderte, «das Al-Shifa-Krankenhaus in ein Museum für den 7. Oktober zu verwandeln», und Zvi Sukkot, Mitglied der Religiösen Zionistischen Partei und Vorsitzender des Knesset-Unterausschusses für Judäa und Samaria [Westjordanland], versprach, dass «unsere Kinder eines Tages auf den Straßen von Gaza spielen werden».
Vor Ort setzten Siedler*innen und andere Rechtsradikale inzwischen alles daran, Lastwagen mit Hilfsgütern zu blockieren oder deren Ladung zu zerstören, damit sie nicht in den Gazastreifen gelangten, wo nach Angaben der Vereinten Nationen eine «ausgewachsene Hungersnot» herrschte. In einigen Fällen schaute die Polizei einfach zu und unternahm nichts.
Meron Rapoport, ein erfahrener israelischer Journalist und Redakteur bei Local Call, meint, dass die Euphorie der rechten Siedler*innen nicht überbewertet werden sollte. Trotz Kriegstreiberei und anhaltender Radikalisierung sei die israelische Öffentlichkeit nicht daran interessiert, ihre Kinder zum Schutz messianischer Siedler*innen in den Gazastreifen zu schicken. «Einerseits ist der Einfluss der Siedler*innen auf dem Höhepunkt», sagt Rapoport. «Nie zuvor hatten sie einen derartigen Einfluss auf die israelische Politik, und Netanjahu hat Angst, dass sie die Regierung zu Fall bringen könnten, was ihnen enormen Einfluss und Macht verleiht, um den Krieg am Laufen zu halten.» Auf der anderen Seite, so Rapoport, sei die israelische Öffentlichkeit der messianischen Vision der Siedler*innen gegenüber immer noch «absolut ablehnend» eingestellt, insbesondere nach neun Monaten massiver Proteste gegen die Versuche der extremen Rechten, eine Justizreform zu erzwingen, der die Macht der juristischen Institutionen schwächen und es extrem erschweren würde, die Rechte von der Macht zu verdrängen.
Laut Rapoport sind sich die Siedler*innen bewusst, dass Israel die Palästinenser*innen nicht vollständig aus dem Gazastreifen vertreiben wird, sondern sich darauf beschränken wird, das Gebiet dem Erdboden gleich und unbewohnbar zu machen. «Sie glauben, dass Israel so schreckliche Bedingungen in Gaza schafft, um das Chaos aufrechtzuerhalten. Sie wissen, wie es im Westjordanland läuft und sind davon überzeugt, dass sie Siedlungen bauen können, sobald die Armee den gesamten Gazastreifen kontrolliert. Wenn es kein Waffenstillstandsabkommen gibt und wir uns auf einen langen Zermürbungskrieg im Gazastreifen einlassen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass genau das passiert.»
Dennoch glaubt er, dass die Siedler*innen vor einem entscheidenden Moment stehen.
Die Rechte versteht, dass die Palästinenser*innen nach dem Krieg – wann auch immer das sein wird – im Fokus stehen werden, nachdem sie jahrelang von der ganzen Welt ignoriert wurden. Die Siedler*innen befürchten, dass eine mögliche zukünftige Regierung unter Benny Gantz [Netanjahus wichtigster politischer Rivale] die Prämisse einer Zweistaatenlösung akzeptieren und damit 50 Jahre Arbeit zunichte machen wird. Sie waren einen Schritt davon entfernt, den göttlichen Plan zu verwirklichen, das Land von seinen nichtjüdischen Bewohner*innen zu befreien und es seinen «ursprünglichen Besitzern» zurückzugeben, und plötzlich bewegt sich das Land auf eine Diskussion über zwei Staaten zu? Das ist die größte Bedrohung für ihr politisches Projekt, und dies werden sie nicht zulassen.
Lange ersehnt
Um die Siedlungsbewegung im Jahr 2024 zu verstehen, muss man nicht nur zu ihren Wurzeln zurückgehen, sondern auch zu den Traumata, die sie bis heute verfolgen. Bis 1967 war die nationalreligiöse oder Religiös Zionistische Bewegung klein und relativ machtlos neben der regierenden Arbeitspartei Mapai, die in den ersten Jahren des Staates die politische, wirtschaftliche und kulturelle Ordnung Israels prägte. Der überwältigende Sieg Israels im Krieg von 1967 und die anschließende Besetzung des Westjordanlands, des Gazastreifens, Ost-Jerusalems, der Golanhöhen und der Sinai-Halbinsel – wodurch sich die Größe des Staates verdreifachte – führten jedoch zu einer gewissen Euphorie im nationalen Bewusstsein. Dies gilt insbesondere für die nationalreligiöse Gemeinschaft, die im Westjordanland, das sie «Judäa und Samaria» nennt, die Wiege der jüdischen Zivilisation und das historische Kernland des jüdischen Volkes sieht.
Die neu besetzten Gebiete und ihre Bewohner*innen wurden unter Militärregierung gestellt. Während Ost-Jerusalem und die Golanhöhen illegal annektiert wurden, übte Israel über das Westjordanland und den Gazastreifen eine Art Militärdiktatur aus. Die Debatten über das Schicksal der Gebiete begannen fast unmittelbar nach Beginn der Besatzung, zusammen mit den Plänen der Regierung, die Bevölkerung zu dezimieren und jeden Aufstandsversuch der Hunderttausenden von Palästinenser*innen zu unterdrücken, die plötzlich einer israelischen Verwaltung unterstellt waren, die ihnen grundlegende Menschen- und Bürgerrechte verweigerte.
Unmittelbar nach dem Krieg zögerte die israelische Regierung unter Premierminister Levi Eschkol, eine umfassende Besiedlung der besetzten Gebiete zu befürworten, da sie befürchtete, dass eine internationale Reaktion wegen Verletzung der vierten Genfer Konvention die Aussichten auf Friedensverhandlungen erschweren würde. Als jedoch die Zahl der Siedler*innen wuchs und sie sich in Schlüsselgebieten niederließen, verfolgten die nachfolgenden Regierungen eine nachsichtigere Politik und boten Anreize und Unterstützung für den Siedlungsausbau.
Während die meisten der ersten Siedlungen in den besetzten Gebieten von säkularen jüdischen Bürger*innen gegründet wurden, die sich mit der israelischen Linken identifizierten, dauerte es nicht lange, bis die nationalreligiöse Gemeinschaft begann, sich für die Siedlungstätigkeit zu organisieren. Eine der frühesten und einflussreichsten Siedlungsorganisationen war die 1974 gegründete Gush Emunim, die sich für den Aufbau jüdischer Gemeinden im Herzen des Westjordanlands und des Gazastreifens einsetzte. Gush Emunim wurde von religiösen Zionist*innen unterstützt, die in der Besiedlung die Erfüllung biblischer Prophezeiungen und ein Mittel zur Stärkung des israelischen Einflusses in den neuen Gebieten sahen.
Die Siedlungsbewegung breitete sich in den 1970er und 1980er Jahren in den besetzten Gebieten rasch aus, insbesondere nach der Wahl der rechtsliberalen Likud-Partei im Jahr 1977 – oft mit staatlicher Zustimmung und finanzieller Unterstützung. Die neuen Siedlungen reichten von kleinen Außenposten bis zu großen städtischen Siedlungen und veränderten die demografische und geografische Landschaft des Westjordanlands und des Gazastreifens. Ende der 1980er Jahre lebten 200.000 israelische Juden und Jüdinnen in Dutzenden von Siedlungen und Außenposten in den besetzten Gebieten.
«Der Rückzug im Jahr 2005 stellte einen Wendepunkt – und einen Verrat – für die Bewegung dar, den sie seither um jeden Preis rückgängig machen will.»
Die zwischen 1993 und 1995 unterzeichneten Oslo-Abkommen stellten für die Siedlungsbewegung eine Zäsur dar, da sich Israel und die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) zumindest auf dem Papier auf eine palästinensische Selbstverwaltung und den israelischen Rückzug aus weiten Teilen der besetzten Gebiete einigten. Einige Siedler*innen und rechtsextreme Nationalist*innen lehnten den Friedensprozess ab und verübten Gewalttaten, darunter die Ermordung von Premierminister Jitzchak Rabin, während andere die Aussicht auf die Evakuierung bestimmter Gebiete im Austausch für das Versprechen verbesserter Sicherheit und normalisierter Beziehungen nur widerwillig akzeptierten. Das Scheitern des Camp David Gipfeltreffens im Jahr 2000 und der Ausbruch der zweiten Intifada gaben dem Aktivismus und Expansionismus der Siedlungsbewegung jedoch schon bald wieder Aufwind.
Als Israel im Jahr 2005 im Zuge des Abkoppelungsplans einseitig seine Truppen abzog und 9.000 jüdische Siedler*innen aus dem Gazastreifen umsiedelte, war das für die Bewegung ein Wendepunkt – und ein Verrat –, den sie seither um jeden Preis rückgängig machen will. «Der Abzug war ein Schlag ins Gesicht. Es war die erste große Krise, mit der die Siedlungsbewegung konfrontiert war, vor allem, weil sie von der Rechten und nicht von der Linken ausging», sagt Aviad Houminer-Rosenblum, stellvertretender Generaldirektor des Berl Katznelson Center und Mitglied der Bewegung der Faithful Left. «Nach ihrer Evakuierung begannen die Siedler*innen, sich direkt an die israelische Öffentlichkeit zu wenden – um den Mainstream zu erreichen.»
Diese neue Siedlungsbewegung, so Houminer-Rosenblum, habe versucht, ihr Image als elitäres, aschkenasisch dominiertes, verhätscheltes Bevölkerungssegment abzulegen und stattdessen gemeinsame Sache mit dem Likud-Kern zu machen, der sich zu einem großen Teil aus Mizrachim aus der Arbeiter- und Mittelschicht zusammensetzt. «Dies ermöglichte es der Siedlerbewegung, einfache säkulare Menschen anzusprechen, ohne die Sprache des Messianismus, der Erlösung oder des religiösen Nationalismus zu verwenden.»
Innerhalb weniger Jahre sind in israelischen Städten mit relativ geringem religiösem Bevölkerungsanteil oder an Orten, in denen Juden und Jüdinnen und Palästinenser*innen Seite an Seite leben, wie in den so genannten «gemischten Städten» (oder binationale Städte), fundamentalistische religiöse Gemeinschaften, so genannte «Keimzellen der Tora» (auf Hebräisch «Garin Torani»), aus dem Boden geschossen. Das erste Opfer interkommunaler Gewalt im Mai 2021 war ein palästinensischer Einwohner der Stadt Lod (Lyd), der mutmaßlich von einem Mitglied einer dort angesiedelten Garin Torani erschossen wurde.
Der Mord führte – zusammen mit der versuchten Vertreibung von Palästinenser*innen aus dem Jerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah, Angriffen auf Gläubige in der al-Aqsa-Moschee und dem Raketenbeschuss durch die Hamas aus dem Gazastreifen – zu tagelangen tödlichen Unruhen und Lynchmorden an israelischer Juden und Jüdinnen und Palästinenser*innen.
Die Bilder von Siedler*innen, die mit Bussen aus dem Westjordanland nach Lod gebracht wurden, wo sie palästinensische Einwohner*innen angriffen, waren Beweis genug, dass die Mission des religiösen Zionismus, sich nach der Abkoppelung «in den Herzen» der israelischen Bevölkerung zu verankern, mit einer Art von Gewalt einherging, die dem palästinensischen Volk seit den Anfängen des zionistischen Projekts vertraut ist.
«Der Rückzug war die große Wunde, und heute ist der Krieg und der Wunsch, den Gazastreifen wieder zu besiedeln, der Versuch, diesen Kreis zu schließen»
Der Rückzug war die große Wunde, und heute ist der Krieg und der Wunsch, den Gazastreifen wieder zu besiedeln, der Versuch, diesen Kreis zu schließen", sagt Houminer-Rosenblum.
Ich wäre überrascht, wenn die Siedlungsbewegung nicht zu 90 Prozent für die Wiederbesiedlung des Gazastreifens wäre. Während die israelische Mitte-Links-Bewegung ihren Traum zerstört sieht, empfindet die Siedlungsbewegung das Gegenteil. Sie sagt: «Wir hatten die ganze Zeit recht, und jetzt haben wir die Chance, die Situation zu korrigieren. Wenn man sich die [Siedler-]Medien anschaut, findet man überall Unterstützung dafür.»
Im Jahr 2023 lebten allein im Westjordanland nachweislich fast 520.000 Siedler*innen, weitere 200.000 in jüdischen Siedlungen in Ost-Jerusalem, der Stadt, die die Palästinenser*innen als ihre künftige Hauptstadt beanspruchen. Unabhängig von ihrem Erfolg oder Misserfolg gehen die Ambitionen der Siedler*innen weit über den Wiederaufbau von Gush Katif hinaus: Sie wollen eine Annexion nach dem Vorbild des Westjordanlands durchsetzen, wo die Absprachen zwischen Siedler*innen und Armee fast schon offizielle Staatspolitik geworden sind, die Kolonisierung palästinensischen Landes einen Höhepunkt erreicht hat und die Palästinenser*innen praktisch schutzlos sind.
Eskalation an allen Fronten
Am 21. Juni 2024 veröffentlichte die New York Times einen beunruhigenden Bericht, der in der israelischen Presse kaum Beachtung fand. Demnach wurde Finanzminister Bezalel Smotrich, der auch Minister im Verteidigungsministerium mit weitreichenden Befugnissen über das Westjordanland ist, bei einem kürzlichen Treffen von Siedlungsführer*innen und -anhänger*innen aufgenommen, wie er erklärte, dass die Regierung heimlich versuche, mehr Befugnisse von der Armee – die das Westjordanland seit 1967 offiziell verwaltet – auf die Zivilverwaltung zu übertragen, die für die Verwaltung der zivilen Aspekte der militärischen Besetzung des Westjordanlands durch Israel zuständig ist. Dies ist ein weiterer Schritt in Richtung Annexion und Festigung der formellen Kontrolle über das Gebiet.
Smotrich, der die Ansiedlung von einer Million neuer Juden und Jüdinnen im Westjordanland gefordert hat, ist der einflussreichste Befürworter der Annexion und der Massenvertreibung der palästinensischen Bevölkerung in einer rechtsextremen Regierung, die den 7. Oktober als einmalige Gelegenheit betrachtet, jede Möglichkeit zur Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates zu begraben. Während Smotrich dieses Ziel im Rahmen seiner Politik zu verwirklichen sucht, waren die Siedler*innen vor Ort in der Westbank nicht weniger effektiv.
Seit dem 7. Oktober ist im Westjordanland, insbesondere in der vollständig unter militärischer Kontrolle stehenden Zone C, eine Zunahme der Gewalt von Siedler*innen gegen Palästinenser*innen zu verzeichnen. Nach palästinensischen Angaben haben israelische Truppen und Siedler*innen seit Beginn des Gaza-Krieges mindestens 550 Palästinenser*innen im Westjordanland getötet. Nach Angaben von Yesh Din, einer israelischen Menschenrechtsgruppe, die Gewalt gegen Palästinenser*innen verfolgt, haben Siedler*innen mindestens 15 palästinensische Gemeinden mit insgesamt 800 palästinensischen Familien aus ihren Dörfern vertrieben.
Shahd Fahoum, Datenbeauftragte von Yesh Din, erklärt, dass die Soldat*innen, die für den Schutz von Palästinenser*innen zuständig sind, in der Vergangenheit den Angriffen der Siedler*innen tatenlos zugesehen hätten. In den letzten Jahren jedoch, so Fahoum, nehmen sie aktiv an gemeinsamen Aktionen der Milizen teil. Oder sie werden, insbesondere seit dem 7. Oktober, als Reservist*innen in so genannten «regionalen Verteidigungsbataillonen» eingesetzt, die Teil einer Notfalltruppe sind, die es den Siedler*innen ermöglicht, ihre Siedlungen in Kriegszeiten zu verteidigen. Unter dem Deckmantel des Krieges sollen Mitglieder dieser Bataillone an Gewalt, Drohungen und der Zerstörung von Eigentum beteiligt sein.
Fahoum berichtet, wie die vollständige Militarisierung der Siedler*innen und die Bildung gemeinsamer Milizen zu zügelloser Gewalt gegen Palästinenser*innen geführt haben.
Heute dringen Soldat*innen in Dörfer und Städte ein und greifen Palästinenser*innen mit Steinen an. Manchmal zünden sie auch Autos an. Wenn Menschen aus den Dörfern zu Hilfe eilen, eröffnen die Soldat*innen oft das Feuer auf sie. Manchmal rücken Soldat*innen gemeinsam mit den Siedler*innen an. Manchmal kommen die Siedler*innen allein und die Soldat*innen greifen dann die Palästinenser*innen an, die ihr Dorf verteidigen wollen. Die israelischen Medien nennen das natürlich «Zusammenstöße zwischen Palästinensern und Sicherheitskräften», was die Realität vor Ort völlig verkennt.
Gewalt durch Siedler*innen wird kaum strafrechtlich verfolgt.
Dies spiegelt sich auch in den Zahlen wider. Im Jahr 2023 wurden nur 6,6 Prozent der Siedler*innen, gegen die ein Verfahren eingeleitet wurde, angeklagt. In den letzten Jahren waren es rund 8 Prozent; verurteilt wurden noch weniger. Schaut man sich die Urteile an, findet sich selten eine Strafe, die in einem angemessenen Verhältnis zur Tat steht. In der Regel handelt es sich um gemeinnützige Arbeit oder Militärdienst – ein Klaps auf die Finger.
Für Fahoum ist die mangelnde Strafverfolgung beabsichtigt und soll die israelische Herrschaft über das palästinensische Volk festigen. «Wir reden viel über Siedlergewalt, als wäre sie das Problem, aber sie ist ein Symptom des Problems – das eigentliche Problem ist die Besatzung und der Siedlerkolonialismus. Der Staat betrachtet seine Siedler*innen als eine gute Sache für die eigenen Expansionsbestrebungen. Daher ist es logisch, dass die Strafverfolgung gegen sie nahezu ausbleibt.»
Wie Fahoum sieht auch Hagar Shezaf, Westjordanland-Korrespondentin von Haaretz, die aktuelle Welle der Siedlergewalt als Höhepunkt eines jahrelangen Prozesses, der bereits vor dem Amtsantritt dieser Regierung begonnen habe. «Als ich im Jahr 2019 mit der Berichterstattung aus dem Westjordanland begann, war das vorherrschende Gefühl, dass sich nur sehr wenige Menschen für die Geschehnisse in den besetzten Gebieten interessierten.», sagt Shezaf. «Wir sahen, wie die Außenposten immer weiter ausgebaut wurden, aber es schien, als sei das alles völlig normal.»
Doch Mitte 2021, als Netanjahu durch die so genannte «Regierung des Wandels» unter der Führung von Naftali Bennett, Yair Lapid und Benny Gantz abgelöst wurde, begannen sich die Dinge zu ändern. Zunächst sei Evyatar wieder errichtet worden, ein wilder Siedlungsaußenposten in einem ländlichen Gebiet in der Nähe des palästinensischen Dorfes Beita, der einen langwierigen Kampf auslöste, in dessen Verlauf zehn Bewohner*innen durch israelische Soldat*innen getötet wurden. Die Siedler*innen von Evyatar erklärten sich schließlich bereit, den Außenposten aufzugeben, die Strukturen blieben aber intakt. Auch heute noch bewacht eine Gruppe von Soldat*innen die leeren Gebäude und legt damit den Grundstein für die Rückkehr der Siedler*innen.
«In den letzten 25 Jahren ist jede effektive politische Hürde für die Vorherrschaft der Siedler*innen in der israelischen Politik deutlich gesunken.»
Shezaf erinnert auch daran, dass Gantz, der damals Verteidigungsminister war, den Siedler*innen die dauerhafte Rückkehr nach Homesh erlaubte – eine der vier Siedlungen im Westjordanland, die während des Abzugs 2005 geräumt worden waren und die die Siedler seitdem wieder aufzubauen versuchen –, nachdem ein Siedler im Dezember 2021 von bewaffneten Palästinenser*innen in diesem Gebiet getötet worden war. Im Mai 2021, so Shezaf, hätten Siedler*innen hochrangige Führungspositionen im Westjordanland übernommen und damit begonnen, offen in einer Weise zu missionieren, die zuvor einfach nicht akzeptiert worden sei.
In den Jahrzehnten seit Beginn der Besatzung 1967 haben Israel und die Siedlungsbewegung ein wahres Imperium errichtet, das die Waffenstillstandslinie (Grüne Linie) fast ausradierte, palästinensisches Land verschlang und durch den Bau von Siedler*innen vorbehaltenen Straßen, die die Siedlungen im Westjordanland mit dem verbinden, was manchmal als «das wahre Israel» bezeichnet wird, eine Matrix der Kontrolle geschaffen hat. Heute gibt es trotz internationaler Boykottkampagnen gegen die Siedlungen kaum noch eine Unterscheidung zwischen der israelischen Wirtschaft und ihrem Gegenstück, den Siedler*innen.
Als im November 2022 die aktuelle Regierung gewählt wurde, war der Weg geebnet für das, was die Anti-Besatzungs-NGO Peace Now als das «wahrscheinlich beste Jahr» für das Siedlungsprojekt bezeichnete. Die Koalitionsverhandlungen mündeten in die nationalistischsten und siedlungsfreundlichsten Vereinbarungen in der Geschichte Israels. Die Koalitionspartner gingen sogar so weit zu erklären, dass das jüdische Volk ein «natürliches Recht» auf das Land Israel habe, und versprachen, den Siedlungsbau auszuweiten und Siedlungsaußenposten, die selbst nach israelischem Recht illegal waren, rückwirkend zu legalisieren. Innerhalb weniger Monate war Smotrich de facto für die Siedlungen verantwortlich, eine Rekordzahl von Wohneinheiten wurde im Westjordanland gefördert, 15 illegale Außenposten vorangetrieben, und die Regierung stellte 3 Milliarden israelische Schekel (etwa 740 Millionen Euro) für den Bau von Straßen in den Siedlungen bereit – etwa 20 Prozent des Gesamtbudgets dieser Investitionen.
Risse in der Fassade
In den letzten 25 Jahren ist jede effektive politische Hürde für die Vorherrschaft der Siedler*innen in der israelischen Politik deutlich gesunken. Die zionistische Linke, einst die dominante Kraft in der israelischen Gesellschaft, zerbrach mit dem Scheitern des Osloer Friedensprozesses und dem Aufflammen des bewaffneten palästinensischen Kampfes während der zweiten Intifada in den 2000er Jahren. Das gesamte politische Spektrum Israels verschob sich in der Folge nach rechts.
Diejenigen Israelis, die weiterhin an eine Zweistaatenlösung glaubten, bildeten zwar zahlenmäßig immer noch eine Mehrheit, aber sie bewegten sich in Richtung einer politischen Mitte, die Themen wie Lebenshaltungskosten, die Beziehungen zwischen Säkularen und Haredi (Ultraorthodoxe), bürgerliche Freiheiten und die Bekämpfung der politischen Korruption in den Vordergrund stellte. Netanjahu kehrte 2009 mit Hilfe der zionistischen Linken und der Mitte an die Macht zurück, und zwar unter dem Vorwand, den Konflikt zu «managen», anstatt ihn zu lösen. Die Besatzung, seit 1967 Fokus der israelischen Politik, rückte erst nach den Anschlägen des vergangenen Jahres wieder in den Mittelpunkt.
Palästinenser*innen und linke Israelis hoffen nicht mehr darauf, dass die israelische Öffentlichkeit die Straflosigkeit der israelischen Siedlungspolitik beenden wird. Doch kann die internationale Gemeinschaft noch etwas tun? Seit Anfang Februar haben die USA, gefolgt von Großbritannien, der EU, Kanada und Frankreich Sanktionen wie das Einfrieren von Vermögen und Einreiseverbote gegen eine Reihe prominenter Siedler*innen und Siedlergruppen verhängt, die im Verdacht stehen, Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben.
Michael Schaeffer Omer-Man, Forschungsleiter für Israel-Palästina bei DAWN, erklärt, dass dieser Schritt nach Jahren des Drucks auf die USA erfolgte, Maßnahmen gegen die Siedler*innen zu ergreifen. «Lange Zeit fehlte einfach der politische Wille», sagt er, «aber das änderte sich mit der neuen Regierung, in der der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, die Polizei anwies, Siedlergewalt nicht zu verfolgen, Smotrich die Zivilverwaltung übernahm und die israelische Regierung praktisch leugnete, dass irgendetwas Ungewöhnliches im Westjordanland vor sich ging.»
Dann kam der 7. Oktober und die darauffolgenden brutalen Angriffe der Siedler*innen. «Das Weiße Haus verstand, dass etwas getan werden musste, um die Gewalt im Westjordanland zu stoppen, und sie ergriffen die Gelegenheit», fährt Schaeffer Omer-Man fort. «Und was taten sie? Sie haben in ihre Werkzeugkiste geschaut, in diesem Moment, als sie dringend zeigen mussten, dass es immer noch Grenzen gibt für das, was Israel tun kann, und auch für das, was die USA unterstützen wird.»
Die Sanktionen hätten die Schleusen geöffnet und andere Länder dazu gebracht, dem Beispiel zu folgen. «Die Sanktionen gegen die Siedler*innen könnten eine nachhaltige Wirkung haben, vor allem im Hinblick auf den unumkehrbaren politischen Umschwung, der sich derzeit gegenüber Israel vollzieht. Es spielt keine Rolle, wie viele Republikaner*innen im Kongress ihre Unterstützung für Israel zum Ausdruck bringen – die Grenzen sind überschritten, und es wird schwierig sein, zu einem Punkt zurückzukehren, an dem die Menschen nicht bereit sind, sie zu überschreiten.»
«Selbst wenn die USA versuchen sollten, Israel zu Verhandlungen über die Gründung eines palästinensischen Staates zu drängen, ist die Lage vor Ort zu gravierend, als dass sie ignoriert werden könnte.»
Für Lara Friedman, Präsidentin der Stiftung für den Frieden im Nahen Osten, ist dieser Schritt jedoch kaum mehr als ein «Ventil» für eine Regierung, die wegen ihrer uneingeschränkten Unterstützung des israelischen Krieges in Gaza in der Kritik steht. «Sie wollen den Eindruck erwecken, dass sich das Weiße Haus um das Leben von Palästinenser und das Völkerrecht kümmert – aber nur bis zu einem gewissen Grad», sagt Friedman. «Auf diese Weise versucht die Biden-Administration, etwas Druck abzulassen und zu zeigen, dass sie im Westjordanland etwas unternimmt, während sie Israels Krieg weiterhin deckt.»
Friedman hält jedoch jeden Versuch, eine klare rote Linie zwischen den Siedler*innen und der israelischen Armee zu ziehen, für aussichtslos.
Wem klar ist, wie das Siedlungsprojekt im Westjordanland funktioniert, der weiß, dass es von der israelischen Regierung mitgesteuert, wenn nicht sogar aktiv gelenkt wird. Die Gewalt der Siedler*innen ist staatliche Gewalt, und es ist eine Tatsache, dass die USA sich im Moment nicht einmal die Mühe machen, auf die israelische Eliminierung der Grünen Linie zu reagieren. Es ist gut, sich ein paar Verantwortliche vorzunehmen, aber wenn Sie behaupten, dass dies das Blatt wenden wird, täuschen Sie sich.
Schaeffer Omer-Man beurteilt die Aussichten weniger pessimistisch und meint, dass die Sanktionen so gestaltet sind, dass sie auch auf lokale Beamt*innen, Regierungsminister*innen, Militärs, Siedlungsorganisationen und sogar ganze Siedlungen abzielten. «Man beginnt mit einigen Hauptverantwortlichen, aber jeder weiß, dass Sanktionsprogramme oft auch benachbarte und miteinander verbundene Instanzen erreichen.», sagt er. «Da es sich bei dem Siedlungsprojekt um ein staatliches Projekt handelt, nähert man sich den staatlichen Institutionen immer mehr an, je höher die entsprechende Ebene ist. Dadurch wird es schwieriger, die Abgrenzung zwischen den wirtschaftlichen Aktivitäten der Siedler und der israelischen Wirtschaft aufrechtzuerhalten.»
«Dieses Sanktionsprogramm wird weder die Besatzung noch die Siedlungen beenden», fügt Schaeffer Omer-Man hinzu, «aber es verändert die Zielrichtung in einer Weise, die einen Weg möglicher erscheinen lässt, als noch im letzten Jahr. Dass Israels Glaubwürdigkeit in Frage gestellt wird, hat nicht zwangsläufig Konsequenzen, aber es ist ein Riss entstanden, den es vorher nicht gab.»
Es ist unwahrscheinlich, dass die Sanktionen gegen die Siedler*innen trotz all des demonstrativen Getöses ausreichen werden, um in naher Zukunft einen grundlegenden Wandel herbeizuführen. Das gilt vor allem angesichts der unausgegorenen Politik der Biden-Administration in Gaza und umso mehr bei einer möglichen Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus. Selbst wenn die USA versuchen sollten, Israel zu Verhandlungen über die Gründung eines palästinensischen Staates zu drängen – sei es durch Machtausübung, durch ein Wunder oder durch großzügige Anreize nach dem Vorbild der Normalisierungspolitik gegenüber Saudi-Arabien –, ist die Lage vor Ort zu gravierend, als dass sie ignoriert werden könnte.
Die Siedlungsbewegung ist heute ein expandierendes, gebietsübergreifendes Imperium, ein Golem, der von den mächtigsten Akteuren der israelischen Gesellschaft über Jahrzehnte hinweg sorgfältig aufgebaut wurde. Letztlich ist es ein Projekt, bei dem es sehr viel zu verlieren und alles zu gewinnen gibt. Jeder ernsthafte Versuch, die Macht der Siedlungsbewegung zu brechen, könnte Gewalt zwischen Jordan und Mittelmeer auslösen, wie sie die Welt noch nie gesehen hat.
Aus dem Englischen von Gegensatz Translation Collective
Dieser Artikel erschien auf Englisch erstmals am 11.07.2024 im Rosa Luxemburg international magazine.
Autor:in
Edo Konrad ist Journalist und ehemaliger Chefredakteur des +972 Magazine.