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Zwischen Realpolitik und Radikalopposition - Ein Interview mit Knesset-Mitglied Mossi Raz

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Mossi, jetzt, wo Du die Meretz wieder in der Knesset vertrittst, musst Du nahezu täglich nach Jerusalem fahren! Die Knesset, der Oberste Gerichtshof, der Präsident, die meisten Ministerien sitzen in Jerusalem. Jetzt möchte US-Präsident Donald Trump die US-amerikanische Botschaft nach Jerusalem verlegen. Eine gute Idee?

Für uns als israelische Linke ist es klar, dass West-Jerusalem die Hauptstadt Israels ist. Ebenso ist uns klar, dass Ost-Jerusalem die Hauptstadt Palästinas ist. Unter den gegebenen Umständen sollte Herr Trump lieber darauf hinarbeiten, dass ein Friedensvertrag zwischen Israel und den Palästinenser*innen geschlossen wird. Dann soll die US-amerikanische Botschaft in Israel unbedingt nach West-Jerusalem ziehen und gleichzeitig in Ost-Jerusalem die US-Botschaft in Palästina eröffnet werden.

Der US-amerikanische Präsident kommt und sagt, was immer er auch sagt. Mich interessiert aber weniger, was ein Trump sagt, als das, was wir hier dringend tun müssen, was Israel mit seinen Nachbarn tut, die es seit 50 Jahren militärisch beherrscht und deren Land es besetzt.

Wir können aber beobachten, dass der israelisch-palästinensische Konflikt nicht mehr ganz oben auf der internationalen oder gar regionalen Prioritätenliste steht, angesichts des Mordens in Syrien oder in Jemen. In der Trump-Administration und in der Netanjahu-Regierung sprechen sie davon, dass Israels Sicherheit und regionale Anerkennung am besten dadurch garantiert wäre, wenn Israel eine von den USA unterstützte „sunnitische“ Front, bestehend unter anderem aus Saudi-Arabien, den Emiraten und Ägypten gegen den Iran unterstützen würde?

Die absolut zentrale, ja existentielle Frage, vor der wir Israelis stehen, ist wie es mit den Palästinenser*innen weitergeht. Es gibt keine Umwege, die langfristig nachhaltig, gar im Ansatz gerecht sind. Alles andere ist weltfremd, eine Chimäre. Unser Hauptanliegen sind die Palästinenser*innen - weil wir ihr Land seit 50 Jahren besetzen und weil darüber hinaus 20 Prozent der israelischen Staatsbürger*innen Palästinenser und Palästinenserinnen sind.

Frieden mit den arabischen Nachbarn? Ja, unbedingt. Ich weiß nicht, was im Geheimen zwischen Saudi-Arabien und Israel stattfindet, aber auch wenn ich dem Regime in Riad gelinde gesagt skeptisch gegenüberstehe, so möchten auch wir in der Linken, dass Israel in Frieden mit Saudi-Arabien lebt, unabhängig von den jeweiligen Regimen.

Netanjahu und viele in der israelischen Rechten und manch ihrer Gesinnungsgenossen in den USA beobachten tatsächlich, wie hier in der Region eine Frontenbildung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien mit ihren jeweiligen Alliierten entsteht. Israel solle also Saudi-Arabien, Ägypten, Jordanien gegen den Iran unterstützen, etwa im Libanon oder im Jemen. Im Gegenzug würden die Saudis und ihre Alliierten Beziehungen mit Israel aufbauen, ohne dies mit der Bedingung zu verknüpfen, zuerst den Konflikt mit den Palästinenser*innen zu lösen. Dieser Logik kann ich nicht folgen. Sie ist zum einen hoch gefährlich, denn sie würde uns in einen Kampf, der uns nicht angeht, verwickeln. Andrerseits ist die Annahme, Saudi-Arabien und andere arabische Länder würden die Beziehungen zu Israel langfristig normalisieren wollen und können, ohne dass die Besatzung Palästinas endet, schlicht und einfach ein Trugschluss. Das wird einfach nicht passieren.

Die Basis für einen Frieden Israels mit all seinen Nachbarn liegt schon lange auf dem Tisch: die arabische Friedensinitiative von 2002, die die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Staaten sowie die Anerkennung Israels durch diese vorsieht. Im Gegenzug soll Israel alle 1967 besetzten Gebiete räumen, einen unabhängigen palästinensischen Staat mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt anerkennen und einer gerechten Lösung der Flüchtlingsfrage in Übereinstimmung mit der Resolution 194 der UN-Generalversammlung zustimmen. Diese Friedensinitiative wird sowohl von der Arabischen Liga als auch von der Organisation für Islamische Zusammenarbeit getragen.

Das wären die internationalen Rahmenbedingungen, aber wie steht es mit den beiden Konfliktparteien, die dem zustimmen müssten?

Zuerst die hoffnungsvollere Angelegenheit: Ich hoffe sehr auf die angekündigte Versöhnung zwischen Hamas und Fatah. Die Palästinenser*innen müssen doch mit einer Stimme sprechen können. Ich weiß, dass viele, und zwar mit einigem Grund, die Hamas für eine Terrororganisation halten, aber man muss dazu drei Fakten zur Kenntnis nehmen: Hamas hat einen militärischen, aber auch einen politischen Arm; Hamas vertritt einen großen Teil des palästinensischen Volks; und: Hamas hat die Grenzen von 1967 eben anerkannt, sprich die international anerkannten Grenzen Israels. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir mit ihnen sprechen müssen und anstatt sie zu boykottieren, müssen wir sie in einen kritischen Dialog einbinden.

Und auf israelischer Seite?

Da bin ich leider momentan recht pessimistisch. Wie sein Vorgänger Jitzchak Herzog, versucht auch der neue Vorsitzende der Arbeitspartei, Avi Gabbay, den Rechten nach dem Mund zu reden. Er weiß, dass Wahlen oft in der Mitte gewonnen werden und räumt dafür eine linke Position nach der anderen. Linke könnten ja schließlich uns, die Meretz wählen. Doch dabei räumt er eine linke Position nach der anderen und trägt zur Delegitimierung dieser Positionen bei. Leider wird es ihm auch nicht die erhofften Stimmzugewinne bringen, das zeigen schon jetzt die Umfragen.

Eher deprimierende Aussichten in der Knesset?

Wir lassen uns nicht runterkriegen. Einerseits machen wir Radikalopposition: Wir schreien täglich gegen die Besatzung, auch wenn es anscheinend nichts bringt. Das ist schlicht unsere ethische Pflicht. Andrerseits bin ich Realpolitiker genug, um zu wissen, wie schnell sich das Blatt wenden kann. Angesichts der Skandale und Misserfolge der jetzigen Regierung muss man kein Berufsoptimist sein, um auf eine Ablösung von Premier Netanjahu im kommenden Jahr hinzuarbeiten. Dazu möchten wir von Meretz beitragen.

Das Interview führte Tsafrir Cohen

Mossi Raz wurde 1965 in Jerusalem als Kind kurdisch-jüdischer Eltern aus dem Irak geboren. 1994-2000 war er Generalsekretär von Peace Now. Bei Meretz hatte er unterschiedliche Funktionen inne: Direkt nach der Parteigründung 1992 war er Fraktionssekretär, 2000-03 Mitglied der Knesset, seit 2015 ist er Generalsekretär der Partei. Raz trat am 22. Oktober 2017 wieder in die Knesset ein, nachdem die Meretz-Vorsitzende Zehava Gal-On ihren Sitz aufgegeben hatte. Seine Schwerpunkte sind neben der Friedenspolitik Umweltthemen, Verkehr sowie Land- und Raumplanung.

Weiterführende Links

• Israel im Nahen Osten, der Nahe Osten in Israel, David, Assaf

• Sozialistischer Universalismus oder nationales Projekt? Ein Blick auf die Geschichte linker Parteien in Israel, Sheizaf, Noam

• Alles begann mit dem linken Fuß – Plädoyer: Israels Arbeitspartei muss ihre linke Stimme wiederfinden, Liat Schlesinger

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