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Gil Shohat auf Vortragstour in Österreich, Juni 2025. Foto: Lukas Zwerina

“Gaza wird gerade ethnisch gesäubert”

Gil Shohat im Gespräch mit Anselm Schindler vom Mosaik-Blog über die Katastrophe in Gaza und die Rolle linker Kräfte in Israel 

In Gaza tobt immer noch Krieg. Und die israelische Regierung spricht inzwischen offen davon, dass die Bevölkerung umgesiedelt werden soll. Was passiert gerade in Gaza?

Gil Shohat: 2005 hat der damalige israelische Ministerpräsident Ariel Scharon in Gaza illegale israelische Siedlungen räumen lassen. Die rechtsextreme Siedlerbewegung hat damals Rache geschworen und angekündigt, die Siedlungen irgendwann wieder aufzubauen. Und zwar in mindestens doppelter Größe. Diesen Zeitpunkt sieht die Bewegung jetzt gekommen – die Siedler haben inzwischen Schlüsselpositionen in der Regierung in staatlichen Ämtern und in der Armee und damit großen Einfluss. Es gibt Siedler, die an der Grenze zu Gaza warten, um das Land zu besetzen, wenn die Menschen von der Armee von dort vertrieben worden sind. Gaza wird gerade ethnisch gesäubert.

Die israelische Regierung spricht von „freiwilliger Ausreise“, wo sollen die Leute denn hin?

Die israelische Armee treibt die Bevölkerung Gazas in den Süden, wo immer mehr Menschen auf immer engerem Raum zusammengedrängt werden. Inzwischen wurde auch eine Behörde für die Ausreise dieser Menschen geschaffen. Bislang hat sich aber noch kein Staat gefunden, der die Menschen aus Gaza aufnehmen will. Auch, weil es die historische Erfahrung gibt, dass die Menschen dann nicht mehr in ihr Land zurück können.

Trotz eines internationalen Haftbefehls gegen Netanjahu wird die israelische Regierung von Deutschland und Österreich weiter unterstützt. Macht es heute überhaupt noch Sinn, sich auf Menschenrechtskonventionen und das Völkerrecht zu beziehen?

Auf jeden Fall! Dass das Völkerrecht offen ignoriert wird, darf für Linke kein Grund sein, nicht mehr darauf zu beharren. Die juristische und diplomatische Ebene ist wichtig. Es ist zum Beispiel ein Fortschritt, dass die Europäische Union ihr Assoziierungsabkommen mit Israel auf den Prüfstand stellt. Es ist klar, dass diese Schritte zu langsam und unzureichend sind. Trotzdem müssen wir uns als Linke dazu verhalten und Druck auf die Institutionen aufbauen.

In Kriegen wird ja auch viel um Begriffe gekämpft. Gerade im deutschsprachigen Raum gibt es da auch den Streit, ob das, was die israelische Regierung in Gaza tut, als Genozid bezeichnet werden kann. Wie zielführend sind solche Diskussionen?

Es gibt diverse Menschenrechtsorganisationen und führende Expert*innen für Genozidforschung, die schon seit längerer Zeit von Völkermord sprechen. Zum Beispiel der Historiker und Holocaust-Forscher Amos Goldberg. Es ist legitim, das so einzuordnen. Gleichzeitig warne ich davor, diejenigen als Verräter an der Sache zu diskreditieren, die sich in dieser Frage unsicher sind oder den Begriff nicht nutzen wollen. Viel wichtiger als die Bezeichnung dessen, was in Gaza passiert, ist doch, eine Opposition gegen diese Verbrechen aufzubauen. Wir sollten uns hier nicht wegen Wörtern spalten lassen. Die eigentliche Frage ist doch: Was hilft den Menschen vor Ort?

Du lebst in Tel-Aviv und arbeitest als Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Israel. Was macht die Rosa-Luxemburg-Stiftung dort?

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung betreibt in mehr als 20 verschiedenen Ländern Büros, um die Zusammenarbeit mit progressiven Kräften in anderen Ländern voranzutreiben. Seit 2009 gibt es auch in Tel-Aviv ein Büro, ein Jahr zuvor wurde das Büro in Ramallah im Westjordanland aufgemacht. Wir arbeiten vor Ort mit verschiedenen NGOs zusammen, beispielsweise mit dem progressiven Medienprojekt +972 Magazine oder auch mit dem Haifa Feminist Center Isha L’Isha.

Wie sieht diese Zusammenarbeit aus?

Unsere Arbeit geht von finanzieller Unterstützung von Projekten, über Bildungsveranstaltungen bis hin zum zur Verfügung stellen von Räumen – beispielsweise hat sich auch die jüdisch-arabische Bewegung Standing Together in unserem Büro gegründet. In den letzten Jahren hat sich das als sehr wichtig erwiesen, weil der Druck auf die kritische Zivilgesellschaft und die politische Linke immer weiter steigt. Und dann geht es uns natürlich auch darum, nicht nur in Israel und Palästina, sondern auch in Deutschland zu wirken, indem wir als progressive Denkfabrik die Debatte prägen. Dabei dienen wir auch als Informationsplattform für die Partei Die Linke, der wir nahe stehen. Und nicht zuletzt organisieren wir Delegationsreisen.

Klingt nach einem harten Job in diesen Zeiten…

Stimmt, es ist nicht einfach – aber es macht auch Spaß! Es gibt natürlich immer wieder Versuche, die Räume für progressive Debatten zu schließen. Teils werden wir auch von rechten Aktivisten bedroht und angegangen. Wenn wir Veranstaltungen organisieren, müssen wir immer ein Auge darauf haben, ob jemand plant, sie zu stören. Für jede Veranstaltung gibt es eine Risikobewertung. Letztens wurde zum Beispiel das Screening der gemeinsamen palästinensisch-israelischen Gedenkveranstaltung der Combatants for Peace im zentralisraelischen Ra’anana angegriffen. Die Veranstaltung fand in einer Reform-Synagoge statt. Die Polizei war über die Veranstaltung informiert, hat sie aber nicht geschützt. Die gesellschaftliche Stimmung in Israel ist sehr aggressiv, das trifft längst nicht mehr nur Linke, sondern letztlich alle Menschen, die sich gegen den Krieg aussprechen. Und der Druck steigt: Der derzeitige Sicherheitsminister, Ben Gvir, der auch für die Polizei zuständig ist, versucht, die Sicherheitsapparate noch mehr mit rechtsradikalen Akteuren zu besetzen.

Was macht das mit den Menschen, die gegen den Krieg aktiv sind?

Viele Aktivist*innen sind müde. Gleichzeitig wächst in der Bevölkerung das Bewusstsein für die Grauen in Gaza. Auch bei Protesten in Tel-Aviv sieht man jetzt öfter Menschen, die Bilder von getöteten Kindern in Gaza hochhalten. Immer mehr Menschen verstehen, dass das Töten von Zivilist*innen inakzeptabel ist. Und viele Leute in der Friedensbewegung finden inzwischen auch deutliche Worte, Standing Together beispielsweise bezeichnet das Vorgehen Netanjahus als Vernichtungskrieg.

Werden damit auch die Aktionen gegen den Krieg widerständiger?

Teilweise schon. Vor zwei Wochen gab es einen Protestmarsch an die Grenze zu Gaza, bei dem es auch einige Festnahmen gab. Auch diese Woche gibt es wieder einen Marsch, er startet am Mittwoch und soll am Freitag an der Grenze zu Gaza ankommen. Bislang fanden die meisten Proteste am Abend und am Wochenende statt, haben das Arbeitsleben und den Alltag also meistens nicht gestört. Das könnte sich jetzt ändern.

Gelingt es, dass jüdische und arabische Israelis zusammen protestieren?

Die letzten 20 Monate waren für die Friedensbewegung in Israel ein Prüfstein. Nicht alle Organisationen, in denen sowohl Jüdinnen und Juden als auch Palästinenser*innen arbeiten, haben das durchgehalten. Der Schmerz über das viele Leid und die systematischen Diskriminierung der Palästinenser*innen in Israel macht es nicht leicht, auf Augenhöhe zu arbeiten. An dieser Stelle müssen jüdische Aktivist*innen dann auch ihre Privilegien reflektieren. Die Partnerschaft zwischen jüdischen und arabischen Aktivist*innen ist jedoch eine menschliche und strategische Notwendigkeit und es ist gut, dass dies auch noch von den allermeisten Akteur*innen auf der Linken in Israel so gesehen wird.

Dieses Interview wurde ursprünglich am 4. Juni 2025 im Mosaik-Blog veröffentlicht.

Interviewpartner:in

Gil Shohat leitet seit März 2023 das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

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