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Hin zur linken Hegemonie in Israel!

Die israelische Politik war in den letzten Jahren von einem Rollentausch geprägt. Die Organisationen der Neuen Rechten haben die Schlüsselkonzepte der kritischen Theorie verinnerlicht und versuchen, zu «enthüllen», dass wissenschaftliche und kulturelle Institutionen in Israel im Geheimen politische Ziele verfolgen. Dabei beziehen sie sich auch auf die von Gramsci entworfene politische Strategie des Kampfes um Hegemonie. Im Gegensatz dazu vertreten die linken und kritischen liberalen Kräfte in Israel eine konservative Sichtweise, die eine solche Politisierung ablehnt. Infolgedessen konzentrieren sich viele gemeinnützige Organisationen auf moralische Verurteilung, die Aufdeckung von Unrecht und die Anrufung von Gerichten, um gegen die Organisationen der Neuen Rechten vorzugehen. Damit vermeiden sie eine Diskussion über Machtstrukturen. Es sind diese Handlungsmuster, die der gegenwärtigen Krise der Linken in Israel zugrunde liegen.

2019 erhielt die Dokumentation «Lea Tsemel, Anwältin» auf dem internationalen Filmfestival Docaviv, das seit 2015 in Tel Aviv stattfindet, den Preis für den besten Film. Der Film porträtiert die jüdisch-israelische Menschenrechtsanwältin Lea Tsemel, die vor allem dadurch bekannt wurde, dass sie palästinensische politische Gefangene vertritt. Als die Bewegung Im Tirtzu und andere radikal rechte Organisationen eine Kampagne gegen die Preisverleihung starteten, entschied sich die staatliche Lotteriegesellschaft künftig die Finanzierung der Festivalpreise einzustellen. Dies wurde zu Recht als Kapitulation gesehen und in linken und liberalen intellektuellen Kreisen erwartungsgemäß scharf kritisiert. Während jedoch Im Tirtzu den Film wegen seiner politischen Aussage angriff, bestritten Linke und Liberale, dass die Preisverleihung auch eine politische Entscheidung war. Sie beriefen sich stattdessen auf die allgemeinen liberalen Prinzipien der Meinungs- und künstlerischen Freiheit sowie auf meritokratische Vorstellungen von künstlerischer Exzellenz. Wie die Vereinigungen der Künstler*innen und der Kulturschaffenden sowie das Forum der Kulturinstitutionen schrieben: «Der von der staatlichen israelischen Lotterie vergebene Preis prämiert hervorragende Leistungen im Bereich Dokumentarfilm und nicht die juristische oder politische Arbeit, die in dem Film dokumentiert wird.»

Die Leitung der Lotterie hat zwar ihre Entscheidung, Docaviv die Preisgelder zu streichen, vor Kurzem zurückgenommen, aber die Angelegenheit zeigt eine beunruhigende politische Entwicklung an: Die Organisationen der Neuen Rechten haben Schlüsselkonzepte der neo- und postmarxistischen kritischen Theorie, die das «Natürliche» und das gesellschaftlich Selbstverständliche politisieren, insbesondere Antonio Gramscis Begriff der Hegemonie und Pierre Bourdieus Begriff des kulturellen Kapitals, aufgegriffen und nutzen sie für ihre politischen Aktivitäten. Die Liberalen und die kritische Linke in Israel dagegen ignorieren diese völlig in ihrer Analyse und bei der Ausarbeitung ihrer Positionen. Die Neue Rechte hat nicht nur diesen kritischen Diskurs übernommen. In den letzten 15 Jahren haben rechte Organisationen auch ganz praktisch ein hegemoniales Projekt im Sinne Gramscis verfolgt, während die liberale als auch die radikale Linke vor jedem Versuch, ihre politische Macht auf diese Weise aufzubauen, zurückschreckt. Dies macht unter anderem die gegenwärtige Krise der Linken in Israel aus – es ist folglich sehr wichtig, dass diese sich hiermit auseinanderzusetzt.

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Das Konzept der Hegemonie wurde von Antonio Gramsci entwickelt. Kulturelle und ideologische Hegemonie ist dann erreicht, wenn ein bestimmtes Modell der gesellschaftlichen Organisation als selbstverständlich erachtet wird. Die damit verbundenen Ansichten werden als «natürlich» wahrgenommen und finden Ausdruck in allen Teilen der Gesellschaft, in den Institutionen, im Privatleben, in der Moral und der Kultur. Zum Beispiel wurde dadurch, dass der neoliberale Kapitalismus eine hegemoniale Stellung erlangte, eine Situation geschaffen, in der die Marktwirtschaft in ihrer heutigen Form den meisten Menschen als die einzig logische Organisationsweise des Wirtschaftslebens erscheint und Marktgesetze quasi als Naturgesetze behandelt werden.

Die Tatsache, dass ein Gesellschaftsmodell als «natürlich» oder selbstverständlich erscheint, bedeutet nicht, dass Hegemonie das Ergebnis von Manipulation ist, bei der eine böse Elite die törichten Massen verführt. Hegemonie entsteht dann, wenn es zu Allianzen kommt und das gesellschaftliche Modell nicht nur den zentralen Interessen der gesellschaftlichen Gruppe oder Gruppen entspricht, die das hegemoniale Projekt und die Allianzen anführen, sondern zumindest auch ansatzweise den Interessen anderer Gruppen, die das Modell als Teil eines sogenannten historischen Blocks stützen. In dieser Hinsicht basiert jedes hegemoniale Projekt auf einer Art Bündnis zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und damit auch auf der Bereitschaft der herrschenden Gruppe, einen Konsens zu suchen und die notwendigen Kompromisse einzugehen, um schwächere Gruppen für ihre Zwecke mobilisieren zu können.

Jedes hegemoniale Modell der gesellschaftlichen Organisierung ist durch alternative Modelle bedroht. Die Gesellschaft ist eine Arena, in der das hegemoniale Gesellschaftsmodell und alternative Projekte, die andere Interessen and Ansichten vertreten, aufeinanderstoßen. Jedes Modell versucht, eine bestimmte Lebens- und Denkweise zur dominanten zu machen und als die bestmögliche für alle darzustellen. Daher ist Hegemonie nicht nur ein vollendeter Zustand, sondern ein Prozess, ein ständiges Ringen um die Durchsetzung eines bestimmten Gesellschaftsmodells zulasten anderer Modelle bzw. darum, den Status quo zu erhalten. Der Begriff Konsens verweist zum einen auf den Umstand, dass das hegemoniale Projekt zumindest teilweise mit den Interessen vieler gesellschaftlicher Gruppen verbunden ist, zum andern auf das Vorhandensein einer Reihe von Mechanismen, welche die wesentlichen Merkmale des hegemonialen Projekts in «natürliche» verwandeln: das Bildungssystem, die Medien, religiöse und kulturelle Institutionen, Kunstschaffende und laut Gramsci sogar die städtische Architektur. In Fällen, in denen kein Konsens erlangt werden kann, greifen gesellschaftliche Gruppen, deren Interessen in dem hegemonialen Modell überhaupt nicht berücksichtigt werden, häufig auf das Mittel Gewalt zurück.

Kulturelles Kapital, eine der drei Kapitalsorten, die der Soziologe Pierre Bourdieu beschreibt (die beiden anderen sind ökonomisches und soziales Kapital), ist zentraler Bestandsteil jedes hegemonialen Projekts. Laut Bourdieu dient kulturelles Kapital den höheren gesellschaftlichen Schichten als quasi-religiöse Rechtfertigung ihrer Privilegien. Dadurch, dass bestimmte kulturelle Phänomene in «Kapital» verwandelt werden (können), bilden sie eine soziale Kraft. Dies verwandelt die Privilegien der dominanten Gruppen im hegemonialen «historischen Block» in «natürliche» Gegebenheiten. Die Akkumulation von kulturellem Kapital und seine Weitergabe von Generation zu Generation werden unter der Überschrift Meritokratie verkauft, da ihre Mystifizierung bzw. Verschleierung von entscheidender Bedeutung für ihre Wirksamkeit sind. So werden in kapitalistischen Gesellschaften bevorzugt meritokratische Argumente verwendet, um die ungleiche Verteilung von Ressourcen und Macht zu rechtfertigen: Bestimmten Gruppen «steht es zu», mehr zu verdienen oder einen größeren Teil des gesamtgesellschaftlichen Vermögens zu besitzen, weil sie angeblich fleißiger, unternehmerischer, talentierter oder kreativer sind. Die Vorteile, die sie aus asymmetrischen Machtverhältnissen und Ungleichheiten ziehen, werden durch die Behauptung gerechtfertigt, dass diejenigen, die diese genießen, außergewöhnlich qualifiziert sind und dass die Kultur, die sie schaffen und konsumieren, «qualitativ besonders hochwertig» ist. Aus diesem Grund «gebühren ihnen» bestimmte Privilegien.

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Der strategische Angriff von Im Tirtzu und anderen radikal rechten Gruppen auf Kulturinstitutionen, Hochschulen und zivilgesellschaftliche Organisationen zielt darauf ab, das neoliberale nationalistische Projekt in Israel zu stärken und durch Angriffe auf die Machtzentren des liberalen Modells als hegemonial zu etablieren. Gleichzeitig versuchen diese rechten Gruppierungen, den Status und die Erkenntnisse der Sozial- und Geisteswissenschaften sowie die kulturellen Hierarchien und die politischen Grundlagen, auf denen sie beruhen, infrage zu stellen, um das ihnen inhärente hegemoniale Potenzial zu schwächen und um sie zu delegitimieren. Dies geschieht zum Beispiel mithilfe von Aktionen, die sich gegen die Zuordnungen bestimmter kulturelle Werke als besonders oder weniger wertvoll und die diesen zugrundeliegenden Annahmen über Qualität und Ästhetik wenden. Damit wollen die Organisationen der Neuen Rechten herausstellen, dass sich aus akademischem Wissen und aus diesen Hierarchien kulturelles Kapital schlagen lässt und dies auch für politische Zwecke eingesetzt wird.

Attacken gegen kritische kulturelle Institutionen, Universitäten und linke Organisationen nützen dem nationalistischen Projekt und fördern dessen hegemonialen Bestrebungen, ungeachtet ihrer Auswirkungen im konkreten Fall. Sie sind Medienereignisse, die den öffentlichen Diskurs verändern. Obwohl zum Beispiel die Leitung der staatlichen Lotterie ihre Entscheidung, den Docaviv-Preis nicht weiter zu finanzieren, zurückgenommen hat, waren die Rechten mit ihrer öffentlichen Skandalisierung der Preisverleihung politisch erfolgreich. Dies trifft auch auf viele andere ihrer Angriffe auf Institutionen und Organisation in den letzten zehn Jahren zu. Im Fall der staatlichen Lotterie war die von Im Tirtzu in den Medien ausgelöste Diskussion wichtiger als die Frage der Finanzierung des Docaviv-Preises. Solche Angriffe verschieben die Grenzen dessen, was als legitime öffentliche Diskurse und allgemein akzeptierte Werte gilt, das heißt, die Grenzen des politisch und gesellschaftlich Selbstverständlichen. Das ist das grundlegende Ziel eines jeden hegemonialen Projekts.

Der Angriff von Im Tirtzu auf den Dokumentarfilm «Lea Tsemel, Anwältin» ist in der Tat nur eine von zahlreichen Aktionen, die als Teil einer umfassenden Strategie der Neuen Rechten verstanden werden können. Dahinter steht nicht nur die Im-Tirtzu-Bewegung und es betrifft nicht nur die Frage, was im Bereich der Film- und Kulturproduktion erlaubt sein soll und was nicht. Wie von dem Soziologen Shlomo Swirski beschrieben, dient das neoliberale nationalistische Projekt den Interessen zweier Eliten: denen des Kapitals und denen der Besatzer. Die Neue Rechte ist bestrebt, ihre politische Dominanz durch kulturelle und ideologische Hegemonie zu festigen, und sie geht dabei geordnet and systematisch vor. Sie hat im Gegensatz zur Linken die volle Bedeutung des Hegemoniekonzepts verstanden und es sich angeeignet. Es handelt sich dabei nicht um ein allmächtiges Monster, das die Menschen einfängt und zu seinen Marionetten macht, wie das von kritischen Autor*innen oft dargestellt wird. Bei dem Projekt der Rechten handelt es sich vielmehr um einen langwierigen Kampf, der darauf aus ist, für ein bestimmtes Gesellschaftmodell einen Konsens herbeizuführen und es damit auf Dauer zu stellen. Zu dieser Strategie gehört, alle Alternativen zu diskreditieren und die Argumente der Kritiker*innen als «Wahnvorstellungen» zu präsentieren.

In den letzten zehn Jahren hat sich die nationalistische Rechte intensiv mit der systematischen Entwicklung verschiedener Mechanismen und Instrumente befasst, die maßgeblich für die Erlangung von kultureller und ideologischer Hegemonie sind. Hierzu gehört die Arbeit von Thinktanks wie die des konservativen Forschungsinstituts Kohelet Policy Forum und des Institute for Zionist Strategies, die erfolgreich nationalistische Argumentationsmuster mit neoliberalen Politikansätzen verbinden sowie einen Kader von Intellektuellen und Redner*innen aufgebaut haben, die entsprechende Thesen und Forderungen vertreten. Hierzu zählen ideologische Verstärker wie die für eine breite Öffentlichkeit bestimmte Tageszeitung Israel HaYom und die Zeitschrift Schilo’ach; darüber hinaus Workshops und Bildungsprogramme, aus denen junge Menschen hervorgehen, die die Botschaften der Neuen Rechten beredt und selbstbewusst in die Welt hinaustragen. Viele von ihnen können nach Abschluss ihres geisteswissenschaftlichen Studiums an der Universität von Tel Aviv geschliffen über kulturelles Kapital und Gramscis Hegemoniekonzept parlieren. Ein Großteil dieser Aktivitäten wird von der in den USA ansässigen Stiftung Tikvah Fund finanziert, die die militante und kompromisslos nationalistische Agenda von «gesellschaftlich konservativen» Kreisen in Israel unterstützt. Aber es gibt auch andere Förderer.

Neben der ideologischen Infrastruktur und den intellektuellen Kadern finden sich aktivistisch ausgerichtete rechte Organisationen wie Im Tirtzu, die es als ihre Aufgabe betrachten, mit Kampagnen wie der gegen die staatliche Lotterie «Skandale» zu produzieren und damit öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Diese Organisationen werden von Politiker*innen und anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterstützt, die diesen Botschaften der Neuen Rechten noch eine größere Resonanz verschaffen (können).

Wie jedes hegemoniale Projekt ist auch das neue nationalistische Projekt in Israel intensiv darum bemüht, dass Neue Rechte in die Mainstream-Medien gelangen. Ihr Kampf enthält auch einen «Stellungskrieg» (den Gramsci als wichtigen Teil des Kampfes um Hegemonie beschrieben hat), der darauf abzielt, jene Institutionen zu erobern, in denen sich die Überreste eines alternativen liberalen Projekts verschanzt haben – der Oberste Gerichtshof, einige Medien und Hochschulabteilungen.

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Im Gegensatz zu der eindrucksvollen Entschlossenheit der Neuen Rechten, sich einen immer größeren gesellschaftlichen Einfluss zu sichern, ignorieren die Linksliberalen in Israel – sowohl die, die Teil des Mainstreams sind, als auch die radikaleren – in ihrer Arbeit die Machtstrukturen. Ein Teil der Linken ist in der liberalen Illusion gefangen, dass der Staat neutral ist oder neutral sein kann und dass Institutionen wie Gerichte, Hochschulen und kulturelle Einrichtungen nur von rein «professionellen» Kriterien bestimmt werden, die sie als Ausdruck der «Wahrheit» sehen – der juristischen Wahrheit, der künstlerischen Wahrheit und dergleichen. In der großen Entrüstung vieler Liberale über die Entscheidung der staatlichen Lotterie, sich dem Druck rechter Organisationen zu beugen, spiegelt sich im Grunde ihre Weigerung wider, die Machverhältnisse anzuerkennen, die hinter reinen «professionellen» Entscheidungen stehen, insbesondere, wenn sie sich im Einklang mit liberalen Werten befinden. Darin zeigt sich, dass sie die Rolle von Kultur bei der Durchsetzung eines hegemonialen Projekts unterschätzen und die Tatsache ignorieren, dass kulturelle Institutionen auf kulturellem Kapital basieren und kulturelles Kapital schaffen. Die Vorstellung, dass verschiedene gesellschaftliche Bereiche zu trennen sind, dass Kunst und Politik oder Sport und Politik nicht vermischt werden sollten, ignoriert die institutionellen Rahmenbedingungen, die es Kulturschaffenden ermöglichen, aus ihrem Tun kulturelles Kapital zu schöpfen.

Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass die Wahrnehmung der politischen Rahmenbedingungen von Wissenschaft und Kultur nicht bedeutet, alle menschlichen Handlungsbereiche auf Politik zu reduzieren. Trotz der wichtigen Rolle, die der Kultur in hegemonialen Kämpfen und beim Erwerb von kulturellem Kapital zukommt, sind mitnichten alle Beurteilungskriterien auf die politischen Machtverhältnisse reduzierbar: So gibt es erkenntnistheoretische Kriterien, die es ermöglichen, die Richtigkeit oder Plausibilität von Behauptungen in den Sozial- und Geisteswissenschaften zu beurteilen, so wie es ästhetische Kriterien gibt, die es ermöglichen, Kunst zu bewerten. Diese Kriterien sind jedoch nicht «naturgegeben», sondern beruhen auf einem komplexen institutionellen Gefüge im Spannungsfeld von Machtverhältnissen.

Warum tendiert das untergehende liberale Projekt dazu, seinen politischen Charakter zu leugnen? In erster Linie deshalb, weil der Liberalismus generell dazu neigt, sich als vorpolitisch zu betrachten, und als solcher tendiert er dazu, die Grundlagen und Grenzen jedes politischen Raums zu bestimmen. Deshalb neigt er dazu, den politischen Charakter seiner eigenen Grundlagen zu leugnen. Die Überzeugung, dass verschiedene gesellschaftliche Bereiche – Wirtschaft, Politik, Kultur, Wissenschaft, Sport etc. – getrennt voneinander und autonom sind und gemäß jeweils eigenen spezifischen Kriterien operieren, ist ein zentraler Punkt der liberalen Weltanschauung.

Es lässt sich mit Recht behaupten, dass jedes Gesellschaftsprojekt davon ausgeht, dass es Grundwerte gibt, deren Gültigkeit eine Voraussetzung für den politischen Kampf ist und nicht dessen Ergebnis. Aber die Frage ist, welche Werte das sind. Die Grundannahmen des Liberalismus – die Annahme, dass die Gesellschaft auf einem Vertrag zwischen Individuen beruht; die Überzeugung, dass es voneinander getrennte und unabhängige Bereiche sozialen Handelns gibt; die Vorstellung, dass sich Kunst und Politik, Sport und Politik, Wirtschaft und Politik nicht vermischen sollen; die Annahme, dass der Staat neutral ist und seine Beamten in erster Linie nach professionellen Standards handeln – befördern eine Entpolitisierung. Im Gegensatz dazu steht die demokratische, republikanische Tradition, die davon ausgeht, dass alle das Recht haben sollten, an den sozialen Arrangements und Institutionen, die das gemeinsame Leben der politischen Gemeinschaft, der wir angehören, gestalten, gleichberechtigt mitzuwirken. Diese Annahme politisiert das gesellschaftliche Leben, weil damit die zentrale Rolle der politischen Partizipation betont wird.

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Die Angriffe der rechten Organisationen als Angriff auf die «Wahrheit» oder als Angriff auf die Freiheit bzw. Unabhängigkeit der Kunst und Wissenschaft zu interpretieren, ist nicht nur ein analytischer Fehler, sondern auch ein Rezept für strategisches Scheitern. Die Tatsache, dass sich die rechten Organisationen der politischen Grundlagen ihres Kampfes bewusst sind, während dies bei den liberalen und linken Kräften nicht der Fall ist, ist für die rechten Organisationen von großem Vorteil. Es erleichtert ihnen, die letzten Überreste des alternativen hegemonialen Projekts hinwegzufegen und ihr neues hegemoniales Projekt umzusetzen.

Während sich die nationalistische Rechte ganz darauf konzentriert, auf der Grundlage von Gramscis Konzept Macht aufzubauen, bleiben die Liberalen und Linken in Israel einer Agenda verhaftet, die auf moralische Verurteilung, «Aufdeckung der Wahrheit» und Klagen vor dem Obersten Gerichtshof setzt. In einer Situation, in der es kaum mehr eine politische Opposition gegen die Besatzung gibt und diese für die jüdische Gesellschaft in Israel zur Normalität geworden ist, leisten zivilgesellschaftliche Organisationen wie Breaking the Silence, Yesh Din, B’Tselem, Physicians for Human Rights Israel und das Public Committee against Torture in Israel wichtige Arbeit, weil sie weiterhin auf die Missstände der Besatzung hinweisen. Diese Aktivitäten können jedoch nicht als Grundlage für den Aufbau von Macht und die Formierung eines «historischen Blocks» dienen, der ein alternatives gegenhegemoniales Projekt zu dem neoliberalen nationalistischen verfolgen könnte. Statt Macht aufzubauen und zu kämpfen, geben die Liberalen und Linken Machtpositionen auf, treten zum Beispiel aus Protest von Ämtern zurück, was moralisch lobenswert sein mag, aber Raum und Einfluss neoliberalen nationalistischen Kräfte überlässt. Solche Aktionen und Aktivitäten, so wichtig sie auch sein mögen, sind kein Ersatz für eine politische Strategie, die gezielt eine Alternative zum neoliberalen nationalistischen Projekt vorantreibt.

Der einzige Weg, um die Dominanz des neoliberalen nationalistischen Projekts zu brechen, besteht darin, (Gegen-)Macht aufzubauen, neue Institutionen und Organisationen herauszubilden und auf jedem denkbaren Feld der gesellschaftlichen Auseinandersetzung einen «Stellungskrieg» zu führen. Nur so kann systematisch ein hegemoniales Gegenprojekt zum neoliberalen nationalistischen Projekt geschaffen werden – eine demokratische und auf Gleichberechtigung ausgerichtete Alternative, die nicht auf einem engen liberalen Verständnis beruht. Bei Vorfällen wie der Streichung der Gelder für den Docaviv-Preis sollten wir darauf verzichten, empört über die Politisierung der Entscheidung zu sein und damit zu einer weiteren Verschleierung der Machtverhältnisse beizutragen. Vielmehr käme es darauf an, in der Öffentlichkeit deutlich zu machen, dass es sich nicht um einen Konflikt zwischen «reiner Entscheidung» und «politischer Einmischung» handelt, sondern um einen offenen politischen Machtkampf zwischen zwei grundlegend verschiedenen Weltanschauungen.

Die Organisationen der Neuen Rechten propagieren eine antidemokratische Vision der jüdischen Vorherrschaft, eine anti-pluralistische Vision, die allen Andersdenkenden die Meinungsfreiheit abspricht, eine Vision der Heiligung des sozialen Egoismus, der Rücknahme sozialstaatlicher Errungenschaften und der politisch-ökonomischen Herrschaft durch eine Allianz, die sich aus Eliten des Kapitals und der Besatzung zusammensetzt. Ihre Angriffe auf kulturelle Werke oder akademische Arbeiten sind ein Werkzeug, um ihre Vision zu verwirklichen. Dieser Schreckensvision muss wegen ihres Inhalts entgegengetreten werden und nicht, weil sie «professionelle Standards» oder die «Autonomie» des Kulturbetriebs verletzt. Ein solcher Kampf, der sich des politischen Charakters von akademischem und kulturellem Wissen bewusst ist, sollte die spezifischen Werte eines Kunstwerks oder eines wissenschaftlichen Seminars hervorheben und verteidigen und sich nicht nur zum Fürsprecher einer abstrakten «akademischen Freiheit» oder der Forderung nach «Nichteinmischung in professionelle Entscheidungen» machen.

Das neoliberale nationalistische Projekt ist durch und durch ein antidemokratisches. In seiner theokratischen Ausprägung – wie es zum Beispiel von nationalreligiösen Eiferern wie Verkehrsminister Bezalel Smotrich, Bildungsminister Rafael Peretz und dem Rechtsaußenpolitiker Mosche Feiglin vertreten wird - ist das Projekt antidemokratisch, weil die Quelle der Autorität bzw. Souveränität nicht das Volk ist, sondern die Stimme Gottes, wie sie von den Rabbinern interpretiert wird. In seiner ethnisch-nationalistischen Fassung – wie sie von «gemäßigteren» Kräften vertreten wird wie etwa Benjamin Netanjahu und Miri Regev (Likud), Avigdor Lieberman (Unser Zuhause Israel), Ayelet Shaked oder Verteidigungsminister Naftali Bennett (Neue Rechte) – ist es antidemokratisch, weil es auf der totalen Negierung des Gleichheitsgrundsatzes und der Schaffung von ethnonationalen und Klassenhierarchien basiert. Es gibt keine Demokratie ohne die Akzeptanz des Grundsatzes der vollen rechtlichen Gleichheit und des Rechtes aller Bürger*innen, an der Festlegung der Gesetze, die das gemeinsame Leben bestimmen, mitzuwirken. Beiden Varianten des neoliberalen nationalistischen Projekts ist nicht mit einem Diskurs über «die Wahrheit» oder mit rein rationalen Argumenten beizukommen. Es ist stattdessen notwendig, (Gegen-)Macht aufzubauen und Instrumente und Mechanismen zu entwickeln, um ein alternatives linkes hegemoniales Projekt voranzutreiben, dem die Prinzipien Demokratie sowie wirtschaftliche, soziale und politische Gleichheit zugrunde liegen, was ein Ende der Besatzung notwendigerweise miteinschließt.

Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin

Der Artikel wurde auf Hebräisch im Dezember 2019 in der Zeitschrift HaZman HaZeh veröffentlicht.

Dani Filc ist Professor für Politikwissenschaften an der Ben-Gurion-Universität des Negev und forscht über Populismus in Israel und in anderen Teilen der Welt. Er gehört dem nationalen Koordinationsteam und dem Sekretariat der Bewegung «Standing Together» an.

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