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Protest gegen den Angriff auf Gaza

Legal, illegal, binational

Wie kaum eine andere israelische Stadt stand im Mai 2021 Lyd im Fokus, hebräisch Lod. Vor 1948 war die 75.000-Einwohnergemeinde palästinensisch, heute gilt sie nach offiziellen israelischen Angaben als «gemischte Stadt», weil es dort sowohl jüdische wie arabische Bevölkerung gibt. Vielschichtige Orte wie Lyd könnte man auch anders nennen: «binationale Städte».

Noch vor Beginn des Bombardements des Gazastreifens im Mai 2021 kam es in der Stadt zu Massendemonstrationen in Solidarität mit palästinensischen Familien im Jerusalemer Viertel Sheikh Jarrah, denen Vertreibung und Enteignung drohte. Die von jungen Leuten angeführten Proteste überraschten Israel. Die Regierung reagierte mit dem Einsatz von Grenzpolizei und verhängte den Ausnahmezustand – zum ersten Mal seit Ende der Militärregierung palästinensischer Israelis 1966.

Davon ließ sich die Jugend in Lyd und anderen Städten wie Haifa, Akko, Jerusalem und Jaffa, die ebenfalls als binationale Städte gelten, nicht einschüchtern. Bei den Protesten kam es nicht nur zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei, sondern auch mit der jüdischen Bevölkerung – darunter auch Siedler:innen, die 2005 von der israelischen Regierung aus Gaza nach Lyd umgesiedelt wurden. Sowohl das Erscheinungsbild als auch die Politik der Stadt, die auf eine lange Geschichte von Gewalt und Enteignung zurückblickt, veränderten sich dadurch stark.

Die Ursachen für die Wut der Palästinenser:innen aus Lyd reichen bis ins Jahr 1948 zurück. Israelische Mainstream-Medien behaupten gerne, die sogenannten Krawalle von Mai hätten ohne irgendeinen Anlass und Hintergrund eingesetzt. Aber jede Geschichte hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Wenn man den Anfang nicht versteht, kann es kein gutes Ende nehmen.

Eine Geschichte von Vertreibung und Zerstörung

Die Eroberung der Stadt und die Vertreibung ihrer Bevölkerung wurde von Massakern durch israelische Milizen begleitet. Der Krieg von 1948 führte zur israelischen Unabhängigkeit und zur palästinensischen Nakba (Katastrophe). In diesem wichtigen Wirtschaftszentrum mit 50.000 Einwohner:innen durften verschiedenen Historiker:innen zufolge nur 500 bis 1000 Palästinenser:innen bleiben. Ähnliches geschah auch in anderen palästinensischen Städten wie Haifa und Jaffa, die für die zunehmende Urbanisierung der palästinensischen Gesellschaft standen. Diesen Prozess brachten jüdische Milizen zum Erliegen, als sie den Stadtraum ethnisch säuberten, die palästinensische Gesellschaft schwächten und auf ein primär ländliches Leben zurückwarfen.

Der Palmach-Platz, der zentrale Platz in der Stadt, ist nach den Einheiten benannt, die für die ersten Vertreibungen verantwortlich waren. An ihm steht auch die Dahmash-Moschee, auf deren Wand steht: «1948 verübten die Besatzungsmächte an diesem Ort ein grausames Massaker. » 300 palästinensische Männer, Frauen und Kinder wurden getötet. Aufgrund dieses traumatischen Ereignisses nennen Palästinenser:innen den Platz auch heute noch «Märtyrerplatz» und lehnen die offizielle Bezeichnung ab.

Das frühere Tor Palästinas zur Welt, an dem heute der internationale Flughafen von Israel, der Ben Gurion Airport, liegt, prägen nunmehr Verbrechen und Armut. In den frühen 1950er Jahren zerstörte der junge Staat Israel die meisten verlassenen Häuser, damit Geflüchtete nicht zurückkehren konnten. Wo früher in der Altstadt schöne Steinhäuser standen, tun sich heute viele Brachflächen auf.

In den 1990er Jahren wurde die Kriminalität unerträglich. Es war die Rede von «der Drogenhauptstadt des Nahen Ostens». In den Straßen sah man viele Drogensüchtige. Ich kann mich daran erinnern, wie wir als Kinder beim Fußballspielen immer wieder Spritzen fanden. Einmal brauchten wir für das Tor zwei Pfosten. Auf die eine Seite stellten wir eine Tasche, auf der anderen lag eine drogensüchtige Person.

Gezielte Ansiedlung religiöser jüdischer Gruppen

Da die notleidende arabische und jüdische Stadtbevölkerung außerdem mit Investitionsabbau und Vernachlässigung von staatlicher Seite zu kämpfen hatte, kamen die Behörden auf die schlechteste aller möglichen – wie sie es nannten – «Lösungen». Sie wollten die Stadt «judaisieren». Statt den jüdischen und arabischen Einwohner:innen mehr Gestaltungsspielraum zu geben, entschied man sich für demografische Maßnahmen.

Dies geschah zur Zeit der Zweiten Intifada, als Ariel Scharon gerade zum Ministerpräsidenten Israel gewählt worden war (2001). Von offizieller Seite wurden idealistische, nationalistische und religiöse jüdischen Gruppen aufgefordert, sich anzusiedeln – im Hebräischen werden diese als «Garin Torani» bezeichnet, was wörtlich übersetzt «Tora-Nukleus» oder «Keimzelle der Tora») bedeutet. Zunächst zogen diese in primär jüdische Viertel, ohne Widerstand vonseiten der Palästinenser:innen. Später jedoch sollten sie bei der geplanten «Judaisierung» der Stadt eine Rolle spielen.

«Judaisierung» ist ein Konzept, das israelische Amtsträger:innen ganz unbedarft verwenden, obwohl diesem eine rassistische Haltung zugrunde liegt und es Ähnlichkeiten zur Siedlungspolitik von Han-Chines:innen in Tibet oder Xinjiang aufweist. In den 1950ern begann die israelische Regierung mit der Judaisierung des nördlichen Galiläas, indem sie Land konfiszierte, das im Privatbesitz von Palästinenser:innen war, und dort jüdische Menschen ansiedelte. Weitere Enteignungen in den 1970er Jahren zogen Demonstrationen nach sich, bei denen palästinensische Protestierende ums Leben kamen. Seitdem begeht man am 30. März den wichtigsten Jahrestag zur Erinnerung an diese Verluste als «Tag des Bodens».

Fast 50 Jahre später ist es in Israel nicht unüblich, offen von «jüdischer Vorherrschaft» zu sprechen und so viele jüdische Menschen wie möglich anzusiedeln, während man Araber:innen vertreibt oder auf möglichst wenig Land leben lässt. Auf Hebräisch gibt es sogar ein Sprichwort dafür: «Ein Maximum von Arabern auf einem Minimum von Land.»

Als die Regierung Scharon die Siedlungen in Gaza 2005 evakuieren ließ, wurden einige der dort lebenden rund 8.000 Siedler:innen nach Lyd ansässig umgesiedelt. Die Palästinenser:innen der Stadtmussten zusehen, wie die Neuankömmlinge eigene Wohnviertel errichteten, während ihnen keine Möglichkeit geboten wurde, weiteren Wohnraum zu erschließen. Außerdem kam es immer wieder zum Abriss von Häusern.

Wütende Jugend, wachsender Unmut

Aktivist:innen schätzen, dass etwa 80 Prozent der palästinensischen Häuser nach israelischer Einschätzung illegal gebaut wurden. Sie entstanden inoffiziell auf Privatgrundstücken, weil die Ämter sich weigerten, Baugenehmigungen auszustellen. Israelische Behörden konnten also willkürlich Abrissverfügungen erlassen. So wurden 10 bis 15 Häuser pro Jahr abgerissen, während die Stadtviertel der Garin Torani offiziell wachsen durften.

Vor etwa zehn Jahren wurde der Bau von Ramat Elyashiv, der ersten Siedlung der Garin Torani in der Stadt, offiziell für abgeschlossen erklärt. Sie wurde mitten in der Altstadt errichtet, wo früher palästinensische Häuser gestanden hatten. Die sauberen Straßen, hohen Gebäude, Parks und Schulen des geschlossenen Wohnkomplexes waren ein Affront für viele Palästinenser:innen. Den aufgeräumten Modernismus der Siedlung, der in Kontrast zu den palästinensischen Armutsvierteln ringsum steht, empfanden die alteingesessenen Stadtbewohner:innen als beleidigend.

Doch mit der Wahl des rechten Likud-Politikers Yair Revivo zum Bürgermeister 2013 wurde dieser Trend noch verstärkt. Revivo, der sich oft feindlich gegenüber Araber:innen geäußert hat, ernannte Aharon Atias, den führenden Kopf der Garin Torani in Lyd, zum Stadtdirektor. Die Garin Torani verwalteten nun also die Stadt und schufen Einrichtungen wie Kindergärten und Schulen nur für sich, während Araber:innen weiter marginalisiert wurden.

Die Unruhen im Mai 2021 wurden zwar durch die Räumungen im Jerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah entfacht, doch darin äußerte sich auch die aufgestaute Wut der arabischen Jugend gegen Stadt, Polizei und jüdische Extremist:innen, die inzwischen offen von ethnischer Säuberung sprechen, um «die jüdische Bevölkerung zu schützen». Wenn ihre Wut weiter brodelt, während sich die Ideologie der jüdischen Vorherrschaft ausbreiten darf, könnten die Ereignisse von Lyd nur ein Vorgeschmack zukünftiger Schrecken gewesen sein.

Rami Younis, Autor, Filmemacher und Kulturaktivist aus Lyd, Israel. Er war Fellow an der Harvard Divinity School und hat die Palestine Music Expo mitgegründet. Zur Zeit arbeitet er am Science-Fiction-Dokumentarfilm Lyd In Exile, der die Geschichte der Stadt von 1948 bis heute erzählt.

Der Artikel erschien am 28. Mai 2021 auf Englisch in der US-amerikanischen Zeitschrift Foreign Policy.

Übersetzung von Gegensatz Translation Collective

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