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Das Khashabi Theater, ein neues künstlerisches Konzept palästinensischer Selbstbehauptung

Das künstlerische Konzept des neuen palästinensischen Khashabi-Theaters

An einem Herbstabend im Oktober 2015 macht sich der Regisseur Bashar Murkus bei Einbruch der Dunkelheit daran, im Foyer des palästinensischen Khashabi-Theaters in Haifa die kleinen Kerzen auf den Holztischen und auf zwei grünen an der Wand hängenden Stühlen anzuzünden. Am Anfang des Monats ist der Theatersaal eröffnet worden, und Murkus, der zusammen mit vier Studienkolleg*innen das Khashabi-Ensemble gegründet hat, hat das Gefühl, endlich zu Hause angekommen zu sein. „Das ist genauso wie die Feier zum Einzug in ein Wohnhaus, so wird es jedenfalls für die nächsten sechs Jahre sein,“ sagt er, während er hin und her läuft, gleichzeitig die Besucher*innen am Eingang des renovierten osmanischen Gebäudes empfängt und bei der Ausgabe von Erfrischungen im Theater-Café mithilft. In Kürze wird hier mit der Aufführung von „Set Bel Ouffeh – A Theatrical Dinner“, bei der Murkus Regie führt, die erste Saison des Ensembles eröffnet werden. Die Atmosphäre ist festlich und erwartungsfroh. Während im Internet über eine weitere Messerattacke berichtet wird und in den sozialen Netzwerken eine Zerrissenheit vorherrscht, die in hetzerischen Äußerungen und solchen, die die Wichtigkeit der Koexistenz von jüdischen und arabischen Menschen betonen, zum Ausdruck kommt, vermischen sich beim Small Talk im Foyer des Khashabi-Theaters und auf dem Platz vor den Holztüren der Mauern des Gebäudes ganz selbstverständlich Hebräisch, Arabisch und Englisch. In der Hatib-Straße in Haifa hat sich anscheinend ein kultureller Freiraum entwickelt, der vor dem draußen tobenden Hass geschützt ist.

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In den Wochen davor, als die Spannungen angesichts der Sicherheitslage im Land zunahmen und Opfer forderten, hatte die Mitglieder des Ensembles aufgrund ihrer starken Betroffenheit die Vorstellung mehrmals abgesagt. Aber heute Abend läutet Murkus um 8 Uhr mit einer Metallglocke im Foyer und fordert die Zuschauer*innen dazu auf, sich in den Theatersaal zu begeben, der ausgestattet mit Bänken, Korbstühlen und Holzplatten, auf denen dicke bequeme Matratzen liegen, 90 Sitzplätze bietet. Die Schauspieler*innen Shaden Kanboura und Khulood Tannous betreten die Bühne, stellen sich vor und öffnen den großen weißen Spitzenvorhang, der an eine häusliche Gardine erinnert. Dahinter breiten die beiden in Haifa geborenen Frauen ihre Geschichte aus, basierend auf den Erinnerungen der Großmutter von Tannous an ihre Kindheit in Palästina in den 1930er und 1940er Jahren.

Tannous nimmt die eleganten Kleider, die ihre Großmutter getragen hat, zieht sie an, spielt die Musik, die ihre Großmutter besonders mochte, und spricht über deren Liebe zum Tanzen, während Kanboura damit beschäftigt ist, „Set Bel Ouffeh“ zuzubereiten, eine Art Grütze mit vielen Gewürzen, ein schnelles und einfaches Gericht, das Palästinenser*innen meist während der Olivenernte essen. Beim Kochen vermischt sich ihre persönliche Geschichte als Schauspielerin mit der Geschichte ihrer Großmutter, die im Dorf al-Bassa aufwuchs, als Palästina noch unter britischem Mandat stand. Das Verhalten der britischen Soldaten den arabischen Bewohner*innen gegenüber hatte sie nachhaltig traumatisiert. In einem der lustigsten, aber auch eindringlichsten Momente der Aufführung erzählt und spielt Tannous nach, wie der Vater ihrer Großmutter seine Haare zur Seite zu kämmen pflegte, um Israels ersten Premierminister David Ben-Gurion dabei zu imitieren, wie dieser die Unabhängigkeitserklärung Israels vorliest. Am Ende der Aufführung, das die Bezeichnung „theatralisches Abendessen“ trägt, servieren Tannous und Kanboura den Zuschauer*innen das schmackhafte Gericht.

Das Khashabi-Ensemble besteht aus fünf Schauspieler*innen und Künster*innen, die sich während ihres Studiums der Theaterwissenschaften an der Universität in Haifa kennen gelernt haben. Sie haben die Türen ihrer neuen Spielstätte und Heimat vier Jahre nach Gründung ihres Ensembles geöffnet. Neben Murkus, Tannous und Kanboura gehören ihm noch Majdala Khoury und Henry Andrawes an. Murkus erzählt, dass ihre künstlerische Zusammenarbeit während seiner Abschlussarbeit als Regisseur an der Universität begonnen habe. „Wir entdeckten, dass wir gern zusammenarbeiten und dass wir einander mögen, was bis heute das Allerwichtigste ist,“ sagt er. „Wir stellten auch fest, dass wir aus den gleichen Gründen Theater machen und dass wir in zentralen Fragen, was Theater bedeutet und wie Theater aussehen soll, weitgehend übereinstimmen.“

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Das Ensemble hat sich an Produktionen verschiedener arabischer und jüdischer Theater in Israel beteiligt, unter anderem an dem im al-Midan-Theater in Haifa aufgeführte Stück „Parallel Time“, das von Murkus geschrieben und inszeniert wurde. Das Theaterstück handelt von einem von israelischen Sicherheitskräften Verhafteten Palästinenser, der im Gefängnis eine Oud (Laute) für seine Hochzeitsfeier bauen möchte. Inspiriert ist es von der Geschichte von Walid Daka, Mitglied der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), der der Beteiligung an der Entführung und Ermordung des israelischen Soldaten Moshe Tamam im Jahre 1984 für schuldig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Am Gedenktag für die palästinensischen Gefangenen kam es im Jahr 2015 am Eingang des al-Midan-Theaters zu einem Zusammenstoß zwischen Mitgliedern von Tamams Familie und einigen Theaterleuten, was eine Kontroverse in den Medien über den politischen Inhalt des Theaterstückes zur Folge hatte. Daraufhin beschloss der Stadtrat von Haifa, die staatlichen Fördermittel für das Theater einzufrieren, bis ein städtischer Ausschuss die Angelegenheit untersucht und Empfehlungen vorgelegt habe. Das Geld wurde einbehalten und Ende 2015 wurden alle Vorführungen im al-Midan Theater eingestellt. Nach einer einjährigen Auseinandersetzung zwischen dem al-Midan-Theater und dem Ministerium für Kultur erhielt das Theater schließlich wieder die ihm zustehenden Haushaltsmittel und die Erlaubnis, das umstrittene Stück wieder aufzuführen.

Diese Kontroverse hat für das Ensemble mehr denn je die Notwendigkeit der Existenz eines arabischsprachigen Theaters deutlich gemacht, das nicht nur den eigenen Aktivitäten eine Heimat bietet, sondern auch allen Künstler*innen und Theatergruppen offenstehen soll, die dort ihre Werke aufführen oder proben wollen. „Das, was al-Midan und dem Stück ‚Parallel Time‘ zugestoßen ist, hat uns als Team zu verstehen gegegen, dass unser Projekt – das im Jahr 2011 begann, also lange vor dem Tumult rund um al-Midan – der beste Weg ist, zu arbeiten“, betont Murkus. „Die Situation machte deutlich, wie wichtig unser Projekt ist. Wir haben erkannt, dass sich um Khashabi ein Kreis von Menschen herausgebildet hat, die uns unterstützen und die auch unser Publikum sind. Ich sehe dieses Theater als einen Ort, der von den Menschen etwas nimmt, ihnen aber auch etwas zurückgibt, und dieser Kreislauf ist für mich die vernünftigste Art und Weise, Kunst zu machen. Nach einem langen Weg, den wir zurückgelegt haben, haben wir festgestellt, dass das Wichtigste für uns ist, dass wir ein Zuhause haben, wo wir arbeiten können,“ fügt Murkus hinzu. „Seit ungefähr zwei Jahren überlegen wir, was dieses Heim ausmacht, wie es aufzubauen ist und warum es benötigt wird. Uns wurde auch klar, dass wir hier nicht nur unter uns bleiben wollen, denn in dem Haus gibt es ausreichend Räume und Platz für eine ganze Familie. So ist dieses Projekt entstanden, das Projekt eines unabhängigen Theaters, das ein Haus für Künstler*innen sein will, damit diese dort in völliger Freiheit schauspielern und inszenieren können.“

Im Gegensatz zum al-Midan-Theater operiert Khashabi als unabhängige Initiative, ohne jegliche finanzielle Unterstützung von offiziellen Stellen. Zahlreiche jüdische und arabische Menschen, Unternehmen und philanthropischen Organisationen haben Geld gespendet und in das Projekt investiert, unter anderem den etwa einjährigen Umbau des Theatergebäudes unterstützt. „Set Bel Ouffeh“ wird wie alle in dieser Saison auf der Khashabi-Bühne zu sehenden Stücke in arabischer Sprache aufgeführt, mit englischen Übertiteln. Auch das Branding, Packaging und die Werbung des Theaters, dessen arabischer Name Bühne oder Holzbrett bedeutet, wird nur in Arabisch und Englisch publiziert. Dies ist ein Theater, dessen Hauptsprache Arabisch ist, dessen Stücke für jedes mögliche Publikum übersetzt werden,“ erklärt Murkus, „Es macht am meisten Sinn, ins Englische zu übersetzten, weil das verstehen Hebräisch sprechende wie auch ausländische Zuschauer*innen. Wenn allerdings irgendein Künstler oder eine Künstlerin seine oder ihre Arbeit bei uns auf Hebräisch aufführen will, ist das auch möglich.“

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‚Parallel Time‘, Khashabi Ensemble (Foto: Activestills)

Das Arbeitsformat, das die Mitglieder des Khashabi-Ensembles für ihr Theater gewählt haben, unterscheidet sich ebenfalls weitgehend von dem anderer Theater. Die Theatersaison dauert hier ein halbes Jahr (von Oktober bis Ende März). In der zweiten Hälfte des Jahres werden verschiedene Gruppen eingeladen, das Gebäude für die Durchführung von Studien sowie die Entwicklung und das Proben von Stücken zu nutzen, die dann in der nächsten Saison aufgeführt werden. Das Ensemble wählt jedes Jahr ein Thema aus, mit dem sich die Aufführungen befassen sollen. In der ersten Saison war das Thema die Stadt Haifa. Eines der Stücke war „The Year of Snow“ (Das Jahr des Schnees), eine neue von Murkus inszenierte Aufführung, die sich mit dem Zustand der Stadt zwischen ihrer Vergangenheit und Gegenwart beschäftigt. Außerdem finden in dem Gebäude Filmvorführungen, Konzerte und Stand-up-Comedy statt.

Murkus ist fest davon überzeugt, dass gerade der Funktionsmodus von Khashabi als Produktionsstätte, die Ausrüstung und technisches Personal, Designer*innen und einen Proberaum zur Verfügung stellt, eine erfolgreiche Interaktion zwischen dem Ort und den dort arbeitenden Künstler*innen ermöglichen kann. „Die Gruppen, die diesen Raum nutzen, ihre Arbeit verbessern und am Ende [das Gebäude] mit einer fertigen eigenständigen Produktion verlassen,“ erklärt er, „sind für dieses Haus wie ein Geschenk. Diese Aufführungen helfen ihm, weiter zu existieren und zu arbeiten. Unserer Meinung nach ist dies die einzige Möglichkeit, Kunst von einem privaten Akt, den jeder für sich allein in seinen bekannten Kreisen vollzieht, in eine Art Bewegung umzuwandeln, in einen geordneteren und kollektiven Prozess, der zugleich von größerer Wirkmächtigkeit und Bedeutung für die Gesellschaft ist.“

Der Artikel ist ursprünglich in der Tageszeitung Haaretz am 29.10.2015 erschienen.

(Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin)