
Die gleichen grauen und verkohlten Gebäudeskelette wie in Gaza. Die Überreste eines Gebäudes in Ramat Gan, das am 14. Juni 2025 von einer iranischen Rakete getroffen wurde. Foto: Erik Marmor/Flash90
Nicht die Hamas, nicht der Iran: Unser Ende ist das Phantasma der Unverletzlichkeit
Die absolute Verehrung des Militärs und die Verachtung unserer Nachbarn versetzen die israelische Gesellschaft in den Glauben, dass sie niemals einen Preis zahlen wird. Doch die Bilder der Zerstörung in Ramat Gan und Rischon LeZion beweisen das Gegenteil. Die Hybris einer sich allein auf Gewalt stützenden Existenz führt notwendigerweise in den Bereich der Vernichtung, und letztlich auch zum Niedergang
Wer kann uns etwas anhaben? Seit fast achtzig Jahren ist der endgültige Sieg nur einen Schritt entfernt: Wir brauchen nur die Palästinenser*innen zu überzeugen, die Hamas zu vernichten, den Libanon zu zerschlagen, die Atomkapazitäten des Iran zu zerstören, und welches Paradies werden wir hier haben.
Seit fast achtzig Jahren stellen sich alle militärischen Siege als Pyrrhussiege heraus. Jeder von ihnen gräbt die Grube der Abtrennung, der Bedrohung und des Hasses für Israel noch tiefer. Die Nakba von 1948 hat das Problem von Geflüchteten produziert, das sich weigert zu verschwinden, und die Grundlage für ein Apartheidregime geschaffen; der Sieg von 1967 hat die Besatzung hervorgebracht, die den palästinensischen Widerstand kontinuierlich nährt; der Krieg, der im Oktober 2023 begann, ist zu einem Völkermord geworden, der Israel letztendlich zum Pariastaat schlechthin gemacht hat.
Hier sind die Sprengung von Funkgeräten in den Hosentaschen von Männern auf einem libanesischen Markt und die erfolgreiche Errichtung einer Basis für Drohnen im Herzen eines feindlichen Staates zu nennen. Dieses Militär befolgt den Befehl eines Staates, der es auf einen Genozid absieht, sich immer tiefer in Kriege zu begeben, für die es keinerlei Exitstrategie gibt.
Im Laufe der Jahre hat sich die israelische Gesellschaft weisgemacht, sie könne in dieser Region allein mittels Gewalt existieren, ihren Nachbarn mit tiefer Verachtung begegnen und in verbrecherischer und mörderischer Weise gegen jeden wüten, wann und wie viel es ihr beliebt. Schließlich haben wir die stärkste Armee des Nahen Ostens.
Unter dem Schutz dieses scheinbar alleskönnenden Militärs hat sich die israelische Gesellschaft im Laufe vieler Jahre eingeredet, dass sie unverletzlich sei. Die absolute Verehrung des Militärs sowie die hochmütige Verachtung der regionalen Nachbarn hat sie glauben gemacht, dass sie niemals einen Preis zahlen wird. Und dann kam der 7. Oktober und hat für einen Moment die imaginäre Hülle der Unverletzlichkeit zerrissen. Anstatt sich mit der Bedeutung dieses Moments auseinanderzusetzen, hat sich die israelische Gesellschaft einem Rachefeldzug gewidmet, denn nur so könne ihre Welt wieder eine Bedeutung erhalten – Israel schlachtet ab, die Palästinenser*innen werden abgeschlachtet. So ist die Ordnung wieder hergestellt.
Die Ansichten der bombardierten Gebäude in Ramat Gan, Rischon LeZion und Tel Aviv, Mitten im Zentrum des Staates, hatten demnach etwas Schockierendes an sich. Ansichten, die so sehr den für uns zur Gewohnheit gewordenen Bildern aus Gaza ähneln. Die gleichen grauen und verkohlten Gebäudeskelette, die gleiche sich emporschlängelnde Staubwolke, der gleiche Asche- und Trümmerteppich, der die Straße bedeckt, die gleichen Bilder von Spielzeugpuppen in den Händen der Rettungskräfte. Die Dimension ist selbstverständlich eine ganz andere. Doch bringen diese Bilder für einen Moment das konfuse Phantasma zum Einsturz, dass wir gegen alles geschützt seien.

Es gab einmal jüdische Führungspersönlichkeiten in Israel, die verstanden haben, dass wir uns auf Grundlage des Phantasmas vollkommener Unverwundbarkeit in dieser Region keine Existenz aufbauen können. Sie waren vielleicht nicht frei von Gefühlen der Suprematie, aber wenigstens verstanden sie diese. Der ehemalige Meretz-Abgeordnete und Friedensaktivist Jossi Sarid hat uns zu Lebzeiten mitgeteilt, dass Jitzchak Rabin einmal zu ihm sagte: „Wenn eine Nation über fünfzig Jahre ihre Muskeln anstrengt, so werden diese am Ende ermüden“. Mit anderen Worten: Rabin verstand, dass, im Gegensatz zu Netanjahus Versprechen des Schreckens, ein ewiges Leben mit dem Schwert keine Option ist.
Heute gibt es kaum noch jüdische Politiker*innen dieser Art. Während die zionistische Linke aus Aufregung über den verrückten und gefährlichen Angriff auf den Iran in Bewegung geriet, hörte sie nicht auf, sich an das Phantasma vom allesvermögenden Militär zu klammern. Was auch geschehen sein mag und wie sehr wir uns auch in dieser Region, in der wir leben, verächtlich gemacht haben, unsere Armee wird uns immer beschützen. „Ein starkes Volk, eine fest entschlossene Armee und eine kräftige Heimatfront. So haben wir immer gewonnen, und so werden wir auch heute gewinnen.“ So twitterte in Folge des Angriffs auf den Iran der Vorsitzende der Demokraten, Yair Golan. Naama Lazimi, der aufsteigende Stern am Himmel der Arbeiterpartei, fand es richtig, sich zu bedanken: „[Danke] für die fortgeschrittene Kriegsführung und die Überlegenheit des Geheimdienstes. An die israelischen Verteidigungsstreitkräfte und das ganze Sicherheitssystem. An die heldenhaften Piloten und die Luftwaffe. An die Verteidigungssysteme Israels.“
In diesem Sinne ist das Phantasma der absoluten Unverletzlichkeit dank des Schutzes durch das Militär viel stärker innerhalb der zionistischen Linken als in der Rechten. Denn für die Rechte sind Vernichtung und ethnische Säuberung die Lösung für ihr Sicherheitsbedürfnis. Das ist ihr Endspiel. Das Mitte-links-Lager aber verlässt sich prinzipiell auf die grenzenlosen Fähigkeiten des Militärs. In Israel verehren jüdische Politiker*innen der Mitte und der Linken das Militär zweifellos mehr als es Rechte tun. Diese sehen in ihm nicht mehr als ein Mittel um ihre Pläne der Vernichtung und Säuberung zu realisieren.
Wir sind nicht unverwundbar. Die Hybris einer sich allein auf Gewalt stützenden Existenz führt notwendigerweise in den Bereich der Vernichtung, und letztlich auch zum Niedergang. Wenn wir keine grundsätzliche Lehre aus den letzten zwei Jahren ziehen, von den letzten achtzig Jahren ganz zu schweigen, so werden wir wirklich verloren sein. Nicht wegen dem iranischen Atomprogramm oder dem palästinensischen Widerstand, sondern wegen der dummen und arroganten Hybris, an der eine ganze Nation erkrankt ist.
Übersetzung von Christoph Hopp
Dieser Artikel ist am 14. Juni 2025 ursprünglich in Hebräisch auf Local Call erschienen.
Autor:in
Orly Noy ist Redakteurin der Nachrichtenseite Local Call, politische Aktivistin und Übersetzerin von Lyrik und Prosa aus dem Farsi.