Alternative text missing

Premierminister Benjamin Netanjahu präsentiert Dokumente, die Irans Atomprogramm belegen sollen, bei einer Pressekonferenz in Tel Aviv am 30. April 2018. Foto: Mirim Alster/Flash90

Ein politisches Spiegelbild: Israel, Iran und die atomare Bedrohung

Ein Gespräch mit Sharon Dolev, der Begründerin der israelischen Anti-Atomwaffen-Bewegung. 2017 erhielt Dolev als Mitarbeiterin der Organisation Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) den Friedensnobelpreis

Könntest du uns  einen kurzen Überblick über die aktuelle globale Lage bezüglich atomarer Waffen geben? Welche Staaten verfügen über Atomwaffen, welche Übereinkünfte gibt es im Hinblick auf Atomwaffen und welche Restriktionen gelten für ihren Gebrauch?   

Es gibt derzeit neun atomare Staaten, das heißt Staaten, die über eine Atomwaffe verfügen. Fünf von ihnen sind ständige Mitglieder im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) und auch Unterzeichner des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen. Diesem zufolge ist es ihnen erlaubt, über eine Atomwaffe zu verfügen, zugleich ist in ihm aber auch eine Art Verpflichtung zur vollständigen Abrüstung festgesetzt. Diese fünf Staaten sind Russland, die USA, England, Frankreich und China. Diese Staaten sind es auch, vor allem die USA und Russland, die über den Großteil des globalen Atomwaffenarsenals verfügen.  Wenn wir heute von etwa 15.000 weltweit existierenden Bomben sprechen, dann befinden sich in etwa 13.500 oder 14.000 davon allein in den Händen jener beiden Großmächte.

England, Frankreich und China verfügen ebenfalls über ein atomares Waffenarsenal. Außerhalb jenes Vertrags haben Indien, Pakistan und Israel Atomwaffen entwickelt. Da sie den Vertrag jedoch nie unterzeichnet haben, unterstanden sie hier auch keinerlei Verpflichtung.  Zudem haben wir noch Nordkorea, das zwar Teil des Vertrages gewesen ist, aus ihm jedoch während der Entwicklung seiner Nuklearwaffen wieder ausstieg.

Laut Schätzungen ist Israel im Besitz von etwa 80 bis 90 Atombomben. Indien und Pakistan verfügen jeweils über eine ähnliche Menge, während Nordkorea ungefähr zehn Bomben oder das Material für zehn Bomben besitzt. Neben den genannten Staaten ist noch der Iran zu nennen, von dem viele denken, dass er über eine Atomwaffe verfügt, was jedoch nicht korrekt ist. Der Iran besitzt keine Atomwaffe, er gehört derzeit nicht zu den Atommächten.

Es ist prinzipiell ziemlich schwierig an die Komponenten zu gelangen, die für ein Atomprogramm nötig sind. Normalerweise erhält man diese nur mittels eines Abkommens. Ein Grund dafür, dass es sich für den Iran nicht lohnt, eine Nuklearwaffe zu entwickeln, ist genau hier zu finden: Die Entwicklung einer Nuklearwaffe würde ein so schweres Vergehen darstellen, dass es dem Iran auch nicht mehr möglich wäre, die Bestandteile zu bauen, die für das zivile Atomprogramm nötig sind, wie etwa der Stromversorgung oder der pharmazeutischen Forschung.

Welche Position nimmt Israel global gesehen in der atomaren Entwicklung ein?

Auf der Karte der Atommächte scheint Israel überhaupt nicht vorhanden zu sein. Was ich damit sagen möchte, ist, dass Israel an fast keiner einzigen Diskussion über die atomare Entwicklung teilhat. Ehrlich gesagt gibt es aber auch nur zwei Orte, an denen Israels Partizipation an diesem Diskurs möglich ist. Der eine Ort ist das sogenannte Erste Komitee der Generalversammlung der Vereinten Nationen, das jeden Oktober tagt. Bei diesem Komitee kommen tatsächlich alle Staaten der Welt zusammen und diskutieren über die Dauer von fast einem Monat strategische Angelegenheiten, darunter eben auch die Frage der atomaren Aufrüstung. Überraschenderweise hat Israel sich der Forderung nach einem von Massenvernichtungswaffen befreiten Nahen Osten, die über viele Jahre vorgebracht wurde, nie widersetzt. Ganz im Gegenteil: Unter der Voraussetzung, dass für etwaige Verhandlungen bestimmte Bedingungen zuvor erfüllt worden sind, hat Israel diese Forderung unterstützt.

Der andere Ort, an dem Israel am Diskurs über die atomare Entwicklung teilnimmt, ist die UN-Konferenz für Abrüstung, die bereits seit Jahrzehnten in Genf stattfindet. Die Sache ist nun folgende: Da alle Entscheidungen einen vollständigen Konsens verlangen, steckt man seit circa 30 Jahren in Grundsatzfragen fest. Bisher konnte man nämlich noch zu keinem Konsens darüber gelangen, was Verantwortung bedeute und was die Agenda der Konferenz sei.

Somit lässt sich sagen, dass diese beiden Orte es Israel eigentlich ermöglichen, sich nicht zu äußern. Beide, sowohl die Konferenz für Abrüstung als auch das Erste Komitee, sind ineffektiv. Israel stimmt deren Bestrebungen zu, aber nur insofern bestimmte Bedingungen gegeben sind, das heißt regionaler Frieden, nachbarschaftliche Beziehungen und so weiter.

In Israel gibt es eine Politik der Uneindeutigkeit: Man spricht nicht darüber. Und wenn wir doch einmal etwas sagen, so geschieht das „according to foreign sources“, fremden Quellen zufolge. Ich erinnere mich noch ziemlich genau: Als ich das erste Mal zu den Vereinten Nationen kam – das war im Rahmen des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen – da war ich wirklich baff. Wenn du dich in Israel befindest, hat die Politik der Uneindeutigkeit Geltung. Bei der UN zweifelt jedoch niemand daran, dass Israel ein Atomprogramm besitzt.

In den Augen des Restes der Welt sind wir eine Atommacht, punkt. Und zwar sind wir nicht einfach nur eine Atommacht, sondern eine solche, die mit niemand anderem spricht. Damit will ich nicht sagen, dass wir uns nicht ab und zu mit unseren Atomwaffen brüsten. Wir wissen hierzulande einfach nicht Bescheid und das ist traurig. Im Ausland versteht man hingegen sehr wohl, was vor sich geht. Zum Beispiel wurde einmal ein nichtatomarer Raketentest durchgeführt, und zwar am helllichten Tag und an einem Ort, den jeder, der in der Nähe im Stau saß, sehen konnte. Es wurde selbstverständlich die Frage gestellt, was das gewesen war, dieses Ding, das in die Luft aufstieg. Woraufhin eine wohlüberlegte Meldung veröffentlicht wurde, in der es hieß, dass das eine Rakete gewesen ist, die lange Strecken zurücklegen und einen Gefechtskopf von einer Tonne Gewicht tragen kann. Es war klar, dass damit die Strecke von Tel Aviv nach Teheran gemeint war. Nun, in der Regel werden keine tonnenschweren Gefechtsköpfe auf Raketen montiert. Das wird nur in ganz bestimmten Fällen gemacht. So fungiert die Bestimmtheit, mit der das Gewicht bekannt gegeben wird, als die Art von Bedrohung, für die ein nuklearer Gefechtskopf repräsentativ steht.

"Der israelisch-amerikanische Angriff – zur Zeit von Verhandlungen – könnte den Iran folglich dazu bewegen, die Entscheidung zum Bau einer Atomwaffe zu fällen. Denjenigen, die denken, dass die Sanktionen es verhindern, dass der Iran an Nuklearwaffen gelangt, kann der Fall Nordkoreas vorgehalten werden."

Es gibt also gewisse Codes. Um zu verstehen, was es bedeutet, wenn Netanjahu entscheidet, sich vor dem Kernreaktor in Dimona interviewen zu lassen, braucht man diese Codes allerdings nicht. 2018 war das: Er steht mit dem Rücken zu dem Kernreaktor, sodass alle sehen können, dass wir diesen Reaktor haben, und sagt, dass Israel jeden angreift, der vorhat, es anzugreifen. Dabei ist klar, dass er den Iran meint. Das ist eine atomare Bedrohung, die wir hier in Israel nicht begreifen. Wir begreifen nicht, dass wir in jenem Moment einen anderen Staat atomar bedroht haben. Im Ausland aber weiß man generell Bescheid, selbst wenn diese atomare Bedrohung dort kein besonderes Aufsehen erregt. Es heißt dort: „Israel ist die einzige Atommacht im Nahen Osten, es ist der einzige Staat im Nahen Osten, der über eine Atomwaffe verfügt.“ In Israel wird dieser Punkt überhaupt nicht berührt. Das geht so weit, dass man Leute sogar sagen hört: „Okay, aber wir können nicht die Ersten sein, die abrüsten.“ Selbstverständlich verstehe ich, warum sie nicht die Ersten sein wollen, die abrüsten. Bloß können sie gar nicht die Zweiten sein, da niemand vor uns abrüsten kann. Der ganze Diskurs hat in Israel etwas ganz Widersinniges an sich. Im Ausland ist es hingegen vollkommen klar: Israel ist eine der Atommächte und so verhält man sich uns gegenüber auch.

Wie erklärst du dir diese in Israel vorherrschende Uneindeutigkeit – weder wird bestätigt noch dementiert, dass es Atomwaffen in Israel gibt –, während anderswo in der Welt diesbezüglich gar keine Frage aufkommt?

Zum einen vermute ich – und diese Vermutung scheint mir die sinnvollste zu sein –, dass dies damit zu tun hat, dass Israel genau zu dem Zeitpunkt zu einer Atommacht wurde, als es zur Unterzeichnung des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen kam. Dass es fünf Staaten gibt, denen es erlaubt ist, über Atomwaffen zu verfügen, liegt daran, dass diese bereits atomare Waffentests durchgeführt hatten, als der Vertrag 1970 unterzeichnet wurde. Es wurde nämlich beschlossen, dass die Staaten, die bis 1967 bereits einen atomaren Waffentest durchgeführt haben, über Atomwaffen verfügen dürfen. Zugleich wurden diese Staaten jedoch auch zur atomaren Abrüstung verpflichtet. Da Israel sein Atomprogramm außerhalb des Vertrags entwickelt hat, bestehen für die USA, die zu dessen Unterzeichnern gehören, etliche Beschränkungen hinsichtlich einer etwaigen Unterstützung des israelischen Atomprogramms. Da Israel dem Vertragsbündnis nicht angehört, ist jene Uneindeutigkeit notwendig, denn ansonsten würde man die USA in Unannehmlichkeiten bringen, die Kooperation zwischen den USA und Israel könnte nicht länger so fortbestehen, wie sie es tut, und Israel könnte folglich nicht mehr die Unterstützung von den USA erhalten, die es haben will. Der erste Grund für die Politik der Uneindeutigkeit ist somit das Verhältnis zwischen den USA und Israel.

Das Leben besteht geradezu nur noch aus der iranischen Bedrohung: Das Leben in Israel wird unerträglich und unsicher, um das Gesundheits- und das Bildungssystem sowie die öffentliche Infrastruktur wird sich nicht mehr gekümmert. Wir geben das alles auf. Aber eine Atomanlage haben wir, eine Anlage, die uns alle gefährdet, und wir halten freiwillig den Mund und äußern uns nicht.

Diese Uneindeutigkeit ist in einer Gesellschaft entstanden, die ein sehr hohes Pflichtbewusstsein gegenüber dem Staat hat, ja ihm fast schon ergeben ist. Als wir zum Beispiel 2007 mit der Kampagne gegen die atomare Aufrüstung in Israel begonnen haben, waren wir zuerst einmal mit der Frage konfrontiert, was wir sagen dürfen und was nicht, das heißt was das Gesetz ist. Es ist jedoch unfassbar schwer herauszufinden, was erlaubt und was verboten ist, denn es gibt kein diesbezügliches Gesetz. Man mag es kaum glauben, aber es gibt hier keine Regulation. Die einzigen Personen, denen es untersagt ist, darüber in Israel zu sprechen, sind die, die in einem Atomkraftwerk, für die Atomenergiekommission oder einer anderen angebundenen Institution arbeiten und irgendeinen Geheimhaltungsvertrag unterschrieben haben. Die Uneindeutigkeit hat bereits ein Eigenleben angenommen, was den israelischen Institutionen, wie etwa der Atomenergiekommission, zugutekommt. Diese Institutionen haben die Kontrolle über eine der gefährdetsten Anlagen im Land. Ein Angriff auf einen Kernreaktor in einem derart kleinen Staat wie Israel hätte Konsequenzen für mehrere Generationen, so wie in Tschernobyl und Fukushima. Ein solcher Angriff könnte, je nach Ausmaß, uns alle oder die meisten von uns betreffen. Und es gibt in dieser Hinsicht keine Überwachung, wir wissen nicht, wie gefährdet und in welcher Weise dieser Kernreaktor gesichert ist. Darüber wird nicht gesprochen. Wir wissen auch nicht, was uns das kosten würde, wir können nur schätzen, wie groß die Umweltzerstörung sein würde. Israelische Umweltorganisationen reden von erneuerbaren Energien, wissen aber nicht zu sagen, ob sie für oder gegen Atomenergie sind. Der Erfolg der Politik der Uneindeutigkeit besteht darin, dass wir alle freiwillig zu ihr beitragen. Wir alle glauben daran, dass uns das Sprechen verboten sei – dass das Sprechen über die Atomwaffen uns gefährden würde. Das ist eine Art Geheimnis, und wir wissen nicht, warum. Ich betone noch einmal, dass das meine persönliche Vermutung ist. Ich denke, dass es eine innenpolitische Notwendigkeit ist, die uns dazu bringt, nicht zu kritisieren, nicht zu sprechen, keine Schwierigkeiten zu machen und nicht zu fordern, dass der älteste Reaktor der Welt geschlossen wird, obwohl wir dessen Bestandteile nicht mehr bekommen und austauschen können, da wir kein Mitglied des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen sind. Wir können nicht einmal die Frage aufwerfen, ob der Besitz von Atomwaffen für uns mehr Sicherheit oder mehr Gefährdung bedeutet. Als unser Premierminister sich vor die Vereinten Nationen gestellt hat – nur einen Tag nachdem ein Abkommen mit dem Iran geschlossen wurde, ein Abkommen, welches selbst die Israelische Atomenergiekommission für gut befand – als er da stand mit seinen lächerlichen und peinlichen Bombenbildern und sagte, dass wir immer noch in Gefahr sind – da glaubten wir ihm. Die Medien wissen nicht die richtigen Fragen zu stellen. Das Leben besteht geradezu nur noch aus der iranischen Bedrohung: Das Leben in Israel wird unerträglich und unsicher, um das Gesundheits- und das Bildungssystem sowie die öffentliche Infrastruktur wird sich nicht mehr gekümmert. Wir geben das alles auf. Aber eine Atomanlage haben wir, eine Anlage, die uns alle gefährdet, und wir halten freiwillig den Mund und äußern uns nicht.

Wie kommst du, als jemand, der an der Spitze der israelischen Bewegung gegen die atomare Aufrüstung steht, an glaubwürdige Quellen?

Indem ich auf das Grundsätzliche gehe. Damit meine ich, dass ich nicht nach dem Geheimen frage, sondern nach dem, was allgemein nachvollziehbar ist – wir besitzen einen Kernreaktor, der seit so und so vielen Jahren in Betrieb ist und Israel wird als eine Atommacht wahrgenommen. Die Frage, ob wir eine oder siebzig oder achtzig Bomben haben, ist überflüssig, denn solange man uns als Atommacht betrachtet, solange bezieht man sich auf uns auch in diesem Sinne. So sieht die Diplomatie uns gegenüber aus.

Darüber hinaus haben Experten Einschätzungen darüber abgegeben, wie viel atomares Material nach Israel gelangt ist, wie groß der hiesige Kernreaktor ist und was dieser produzieren kann. Basierend auf diesen Einschätzungen wurde dann geschlussfolgert, wie viele Bomben Israel haben könnte. Selbst an Orten wie der Internetseite des Büros des Premierministers, auf der auch die Atomenergiekommission präsentiert wird, ist es möglich, alles zu finden. Man kann viele Informationen von zugänglichen Quellen erhalten und anhand dieser versuchen zu verstehen, was der Sachverhalt ist. Alles, was ich publiziert habe, ist aus zugänglichen Quellen gezogen. Ich muss nicht das Geheime kennen und auch nicht wissen, wie eine Atomwaffe gebaut wird. Was ich weiß, ist, dass es von vornherein verboten gewesen ist, eine Waffe zu bauen, die letztlich in der Lage wäre, die Menschheit zu vernichten.

Israel behauptet bereits seit Jahren, dass der Iran auf die Produktion einer Atomwaffe zuschreitet. Die offizielle Rechtfertigung des aktuellen Angriffs auf den Iran ist, dass dieser sehr nah an der Fertigung einer Atomwaffe sei, die, so wie der Iran oft bekanntgegeben hat, der Vernichtung Israels dienen soll. Auf der einen Seite haben wir hier Netanjahus bekannte Strategie des Angstschürens, die seine politische Position stärkt. Auf der anderen Seite ist es jedoch wirklich beängstigend, sollte ein fundamentalistisches Regime, das Israel mit der Vernichtung droht, an eine Atomwaffe gelangen. Was ist der Hintergrund dieses Konflikts und inwieweit ist die Bedrohung deiner Ansicht nach real?

Erst einmal ist vollkommen klar, dass jeder Staat, der eine Atomwaffe besitzt, eine weitere Bedrohung für die Welt ist. Ob wir, die USA oder der Iran, wenn der die Grenze überschreiten und eine Atomwaffe bauen würde. Selbstverständlich muss es das Ziel sein, dass es weniger und nicht mehr Atomwaffen in der Welt gibt. Die Sache mit den Iraner*innen ist die, dass im Nahen Osten der Iran in vielen Hinsichten das Spiegelbild Israels ist. Der Iran stellt eine von arabischen Staaten umgebene Minorität dar. Es ist natürlich gar keine Frage, ob der Iran existieren soll oder nicht. Aber der Iran wurde bereits im Ersten Golfkrieg vom Irak mit Massenvernichtungswaffen angegriffen, mit Chemiewaffen, und die Welt schwieg. Wir kennen dieses Gefühl; wir erinnern uns vielleicht nicht an dieses Gefühl, aber wir kennen es. Über sehr viele Jahre hat der Iran ein ziviles Atomprogramm entwickelt, das übrigens zur Zeit des Schahs begonnen wurde. Und wer hat die Amerikaner mehr oder weniger davon überzeugt, dem Iran die nötigen Materialien zu geben? Das war Israel; wir waren dafür. Bereits seit zwanzig oder dreißig Jahren hören wir, dass der Iran nur Wochen oder Monate davon entfernt sei, eine Atombombe zu produzieren. Dann besteht wieder für einige Zeit Schweigen, bevor es erneut heißt, dass es nur noch einige Monate seien und der Iran habe seine Bombe. Jedes Mal, wenn der Iran Uranium bis zu einem bestimmten Grad angereichert hat, sagen wir, dass er demnächst eine Bombe produzieren wird. Dann verlangsamen sie die Anreicherung wieder, um sie erneut zu beschleunigen, immer so im Wechsel. Wenn der Iran die Anreicherung seit zwanzig bis dreißig Jahren abwechselnd verlangsamt und beschleunigt, – denn mehr als das tut er nicht –, dann ist er bereits seit Jahren ein nuklearer Schwellenstaat. So wie zum Beispiel Deutschland und Japan. Aber was sagt das schon? Diese Staaten haben alle nötigen Bestandteile sowie das nötige Know-how, sodass sie, sollten sie eines Tages die Entscheidung fällen, eine Atomwaffe zu bauen, dies auch tun könnten. Der Iran ist bereits seit Jahren ein nuklearer Schwellenstaat; die Produktion einer Atomwaffe ist allein eine Frage der Entscheidung des Irans. Heute könnte jeder Staat, der zumindest über einige der hierfür nötigen Bestandteile verfügt, eine Atomwaffe herstellen. Wenn die USA das 1945, noch während des Zweiten Weltkriegs, geschafft haben, so scheint es doch wahrscheinlich zu sein, dass jeder andere Staat das, wenn er nur will, auch schaffen könnte.

Wenn es also eine Sache der Entscheidung ist, und immer eine Sache der Entscheidung gewesen ist, so haben wir das klare Interesse, dass der Iran diese Entscheidung nicht trifft. Und was haben wir nun getan? Die Amerikaner hatten zusammen mit Russland, China, England, Frankreich und Deutschland ein Atomabkommen mit dem Iran erreicht, von dem selbst die Atomenergiekommission sagte, dass es ein gutes Abkommen sei. Der Iran stimmte einer strengen behördlichen Überwachung seiner Atomanalagen zu, einem Überwachungsregime, dem meines Wissens nach kein anderer Staat zugestimmt hätte. Das Abkommen hatte bestand, was eine politische Gefahr für Netanjahu darstellte. Dieser nutzte die Wahl Trumps zum Präsidenten aus, um ihn davon zu überzeugen, dass er aus dem Abkommen aussteigen müsse. Der Iran veränderte während des ersten Jahres nach dem Ausstieg der USA aus dem Abkommen jedoch nichts an seinem Verhalten, sondern hielt das Abkommen weiterhin ein. Das Abkommen besteht weiterhin zwischen dem Iran und den anderen Staaten, die sich ihm angeschlossen haben. Diese Staaten versuchen es auch aufrechtzuerhalten. Biden hat versucht erneut Verhandlungen aufzunehmen, jedoch mit zu großer Zögerlichkeit. Und dann, als Israel den Iran angriff, ist Trump mitten in Verhandlungen gewesen. 

Der israelisch-amerikanische Angriff – zur Zeit von Verhandlungen – könnte den Iran folglich dazu bewegen, die Entscheidung zum Bau einer Atomwaffe zu fällen. Denjenigen, die denken, dass die Sanktionen es verhindern, dass der Iran an Nuklearwaffen gelangt, kann der Fall Nordkoreas vorgehalten werden. Nordkorea hat Atombomben unter Sanktionen und in einer Isolation hergestellt, die noch viel härter gewesen sind als jene, mit denen es der Iran zu tun hat.

Israel ist der einzige Staat im Nahen Osten, der eine Atomwaffe besitzt. In der Vergangenheit wurden mehrere Versuche unternommen, ein Abrüstungsabkommen zu erreichen – Israel hat sich jedoch in den meisten Fällen geweigert zu partizipieren. Welche Gründe hat Israel für sein Handeln vorgebracht, und sind diese, zumindest teilweise, berechtigt gewesen?

Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen, der 1968 unterzeichnet wurde, trat 1970 in Kraft und hatte vorerst eine Gültigkeit von 25 Jahren. Aufgrund des Vertrages, den insgesamt 191 Staaten unterzeichnet haben, verfügen nicht mehr als jene genannten neun Staaten über Atomwaffen. Der Vertrag kommt Israel entgegen, denn alle arabischen Staaten sowie der Iran haben ihn unterzeichnet. Uns Israelis gefällt das, obwohl wir uns selbst nicht wirklich an die Vorgaben des Vertrags halten.  

1995, 25 Jahre nach dessen Inkrafttreten, fand die Konferenz zur Überprüfung und Verlängerung des Vertrages statt. Die arabischen Staaten sagten, dass sie den Vertrag unterzeichnet haben, da sie davon ausgegangen sind, dass alle anderen Vertragsmitglieder genügend Druck auf den Staat Israel ausüben würden, sodass dieser ihm ebenfalls beitritt. Sie haben sich selbst eingeschränkt, mit der Folge, dass Israel Atomwaffen besitzt, sie selbst aber nicht; was nicht gerecht sei. Sie werden einer Verlängerung des Vertrages deshalb nicht zustimmen. Die größte Sorge, die man damals hatte, war selbstverständlich die, dass es nicht zu einer Verlängerung käme und das ganze Spiel somit wieder von vorn beginnen würde.

Was die anderen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen gemacht haben, ist meines Erachtens jedoch noch schlimmer gewesen. Diese sagten – und ich erinnere daran, dass alle Entscheidungen per Konsens, nicht per Mehrheit, gefällt werden –, dass sie, damit die arabischen Staaten unterschreiben, die Etablierung einer atomwaffenfreien Zone im Nahen Osten fordern werden. Nun, wo liegt hier das Problem? Ein Vertrag ist nur so stabil wie die Verpflichtung seiner Mitglieder. Indem es zu dieser Forderung kam, haben die Vertragsmitglieder sich zu etwas verpflichtet, was sie selbst letzten Endes nicht gewährleisten können. Sie haben sich zu etwas verpflichtet, was nur ein Staat gewährleisten kann: Damit der Nahe Osten eine atomwaffenfreie Zone wird, müsste Israel seine Atomwaffen abrüsten. Israel ist jedoch kein Mitglied des Vertrags und somit auch nicht an die in ihn aufgenommenen Entscheidungen gebunden.

"Es stimmt, es sieht schrecklich aus, alles scheint in die Brüche zu gehen, und es ist unfassbar schwer, sich vom Gegenteil zu überzeugen. Aber wenn die Europäer*innen es nach dem Zweiten Weltkrieg geschafft haben, die Europäische Union zu etablieren, dann haben wir, denke ich, das Potenzial, das schneller und besser zu machen." 

Über eine Forderung ist man seit 1995 allerdings kaum hinausgekommen. Das ist nicht verwunderlich, da alle ein Interesse an diesem Zustand haben. Die meisten Staaten der Welt fordern einen atomwaffenfreien Nahen Osten, tun jedoch nichts für die Realisierung dieser Forderung. Irgendwann wurde diese Forderung erweitert in die nach einem „Nahen Osten frei von Massenvernichtungswaffen“, das heißt nicht nur frei von Nuklearwaffen, sondern auch von chemischen und biologischen Waffen. Israel wollte genau das, denn nun waren auch die anderen Staaten des Nahen Ostens, die über chemische und biologische Waffen verfügen, zur Abrüstung verpflichtet. Während die arabischen Staaten, der Iran und Israel sich obsessiv mit dieser Forderung beschäftigten, kam die Frage auf, wie man ihr nachkommen solle. Vielerorts hörte man, dass man zwar willens hierzu sei, es aber nicht für möglich halte.

2016 entschieden wir uns dazu, dies auf den Prüfstand zu stellen. Wir sagten uns: Wenn man denkt, dass es nicht möglich sei, so versuchen wir doch einmal ein Modell vorzuschlagen. Daraufhin haben wir den ersten Vertragsentwurf für einen Nahen Osten frei von Massenvernichtungswaffen angefertigt. Dieser Entwurf wurde für bahnbrechend gehalten, denn es gab schon frühere Versuche zu einem derartigen Modell. Diese mündeten jedoch in der Feststellung, dass es unmöglich sei, ein solches zu entwerfen.

Wir haben eigentlich nur eine Sache anders gemacht beim Entwerfen dieses „unmöglichen“ Vertrags, nämlich sind wir davon ausgegangen, dass die Staaten, die einen von Massenvernichtungswaffen befreiten Nahen Osten fordern, dies auch wirklich wollen. Das Ergebnis unseres ersten Versuchs einen Vertrag aufzusetzen ist gewesen, dass der Diskurs sich ein wenig zu verändern begann. Infolgedessen haben wir uns mit kraftvollen Worten an die involvierten Staaten gewandt und für den Vertrag geworben. Wir haben gesagt, wenn ihr etwas wollt, aber zugleich meint, dass es unmöglich sei, dann ist klar, dass es nicht geschehen wird. Es gibt doch eine Möglichkeit, von der ihr gesagt habt, dass sie gut sei. Seitdem haben wir weitere Modelle angefertigt, in die verschiedene Veränderungen eingegangen sind. In unserer Lobbyarbeit, die wir gänzlich unter Einbeziehung der Staaten des Nahen Ostens betrieben haben, sind wir unmissverständlich gewesen. Ihr habt gesagt, dass es nicht möglich sei, und dennoch habt ihr dem zugestimmt, dass es Möglichkeiten gibt. Wenn es also möglich ist, worin besteht dann eure Verantwortung?

2018 wurde eine Konferenz von den Vereinten Nationen einberufen, die alljährlich unter dem Vorsitz ihres Generalsekretärs tagen sollte. Diese Konferenz wurde mit dem Zweck einberufen, einen Vertrag für die Abrüstung aller Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten vorzulegen. Entscheidungen werden im Konsensverfahren getroffen, was heißt, dass jedem Staat, der an der Konferenz teilnimmt, faktisch ein Vetorecht zukommt. Wenn Israel an ihr teilnimmt, verpflichtet es sich dadurch zu nichts weiter als der Partizipation am Diskurs. Der Staat Israel braucht nicht zu unterzeichnen, nicht zu ratifizieren, aber er kann sich an der Schaffung eines Modells beteiligen, das die regionale Sicherheit erhöht.

Was kann und muss man deiner Ansicht nach gegenwärtig tun, um eine weitere Eskalation zu verhindern?

Zuerst einmal muss man mit der Schädigung diplomatischer Beziehungen aufhören. Ein Angriff während geführter Verhandlungen oder der Austritt aus einem funktionierenden Abkommen werden den Abschluss zukünftiger Abkommen erheblich erschweren. Da die genannte Konferenz jeden November tagt, ist es darüber hinaus an der Zeit, dass Israel aufhört sie zu boykottieren, was auch auf die USA zutrifft, die die Konferenz aufgrund ihrer Beziehungen mit Israel ebenfalls boykottieren. Stattdessen muss Israel sich an dieser wichtigen Diskussion beteiligen.

Neben dem Aufstellen eines Zeitplans für die künftige Abrüstung und der Festlegung dessen, was im Rahmen eines entsprechenden Vertrags den Unterzeichnerstaaten erlaubt und was verboten ist, bietet eine solche Konferenz die Möglichkeit, eine Reihe an Problemen zu lösen, Misstrauen zu beseitigen und eine gegenseitige Kontrolle zu vereinbaren. Es ist nämlich möglich, dass sich zusätzlich zu der bestehenden Kontrolle durch internationale Organisationen, auf die sich der Staat Israel nicht unbedingt verlässt, die nahöstlichen Staaten gegenseitig kontrollieren. Falls Israel diesem Modell zustimmt, könnte es, bevor es mit der Abrüstung beginnt, das Vorgehen anderer Staaten entweder selbst oder mittels Dritter kontrollieren. Dabei handelt es sich zum Beispiel um Informationen über die Mengen importierten und exportierten Waffenmaterials. Es geht darum gemeinsam Mechanismen zur Überprüfung chemischer und biologischer Waffen zu installieren (bezüglich biologischer Waffen gibt es bis heute keine allgemein verbindlichen Kontrollen, sodass der Nahe Osten an dieser Stelle einen Beitrag zur internationalen Debatte leisten könnte). Gewiss, das ist etwas, was man erst einmal aufbauen muss. Man fängt dort an, wo es Konflikte gibt, und erweitert die Befugnisse der bereits bestehenden Institutionen, sodass diese die Kontrollen durchführen können.

Zu Beginn des Vertrags wird an zentraler Stelle festgelegt, dass jeder Staat im Nahen Osten das Existenzrecht aller anderen Staaten der Region anerkennt. Man kann bereits eine Veränderung im Duktus einiger Staaten wahrnehmen – zum Beispiel wird der Staat Israel bei seinem Namen genannt und nicht nur als „zionistische Entität“ bezeichnet.

Frühere regionale Gespräche sind unter anderem deshalb gescheitert, weil eine überaus wichtige Frage nicht geklärt werden konnte, nämlich die, ob zuerst Frieden geschlossen werden müsse oder Israel seine Atomwaffen abzurüsten habe. Ich denke, dass beides Hand in Hand gehen muss. Wenn Israel an der Entwicklung eines Modells partizipiert, das garantiert, dass kein anderer Staat im Nahen Osten Atomwaffen bauen wird, dann wird es selbst ohne größere Bedenken seine Massenvernichtungswaffen abrüsten können. Ein solches Modell würde die Sicherheit nur vermehren und nicht vermindern. Parallel würde Raum entstehen für Gespräche über weitere Regelungen zwischen den Staaten im Nahen Osten, wodurch sich Israel sicherer fühlen wird. Hier wären zum Beispiel Normalisierungsabkommen denkbar oder Abkommen über regionale Kooperationen. Diese Abkommen würden den Frieden und die allgemeine Sicherheit in der Region fördern.

Es stimmt, es sieht schrecklich aus, alles scheint in die Brüche zu gehen, und es ist unfassbar schwer, sich vom Gegenteil zu überzeugen. Aber wenn die Europäer*innen es nach dem Zweiten Weltkrieg geschafft haben, die Europäische Union zu etablieren, dann haben wir, denke ich, das Potenzial, das schneller und besser zu machen. 

Aus dem Hebräischen übersetzt von Christoph Hopp

Interviewpartner:in

Sharon Dolev ist Friedens- und Menschenrechtsaktivistin sowie Gründerin der Organisation METO zur Förderung der Abrüstung von Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten. Als Mitarbeiterin der Organisation Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) erhielt Dolev den Friedensnobelpreis (2017).

Autor:in

Tali Konas ist Content Editorin für die RLS-Website.

Abonnieren Sie unseren Newsletter