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Mit Fotos wird den Menschen, die am 7. Oktober getötet und entführt wurden, am Ort des Massakers in der Nähe des Gaza-Zauns gedacht, 29. November 2023. Foto: Chaim Goldberg/Flash90

Die feministische Befreiungsbewegung darf sich nicht vom Krieg spalten lassen

Die zwei wichtigsten politischen Kämpfe in meinem Leben sind der Kampf gegen geschlechtsbasierte Gewalt und der Kampf gegen die israelische Besatzung. Sie waren für mich nie voneinander zu trennen, denn beide setzen sich für die Freiheit und Gleichberechtigung unterdrückter Gruppen ein: Frauen und Palästinenser*innen. Doch jetzt habe ich zum ersten Mal das Gefühl, dass sich zwischen beiden Sphären eine Kluft auftut.

Seit Beginn des Krieges in Gaza werden wir dazu genötigt, uns auf eine Seite zu schlagen – uns zu etwas zu bekennen, oder zu verurteilen, dafür oder dagegen zu sein. Dieser polarisierende Sprachgebrauch, den wir schon aus dem Werkzeugkasten des Patriachats kennen, rückt nun auch in feministische Kreise ein. Noch im Schockzustand sollen jüdische und palästinensische Feminist*innen Stellung beziehen: Sie sollen glauben oder leugnen, dass jüdische Frauen während des von der Hamas geführten Angriffs auf den Süden Israels am 7. Oktober Opfer sexualisierter Gewalt wurden. Diese Frage wurde alsbald Teil des Kampfes zwischen unterschiedlichen Narrativen, der mit dem Angriff vom 7. Oktober angestoßen wurde und auch die israelische Bombardierung des Gazastreifens begleitet.

Ich bin davon überzeugt, dass am 7. Oktober geschlechtsbasierte Verbrechen begangen wurden. Auch wenn wir nicht wissen, was genau passiert ist, oder welche Form und welches Ausmaß die sexualisierte Gewalt angenommen hat, die an diesem Tag ausgeübt wurde (selbst wenn es bereits jetzt einige Anhaltspunkte gibt). Ich bin davon überzeugt, dass sexualisierte Gewalt stattgefunden hat, weil ich mich ausführlich mit der Geschichte von Frauen in Kriegsgebieten auseinandergesetzt habe[1].

Wir wissen, dass systematische Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt gegen Mädchen und Frauen in Kriegsgebieten ein verbreitetes Phänomen sind. Für bewaffnete, machtrunkene Männer sind Frauenkörper eine Erweiterung des Kampffeldes. Menschen, die Zivilist*innen angreifen, töten, einschüchtern, kontrollieren und ihr Land besetzen, die Unschuldige als Geiseln nehmen, werden es wahrscheinlich nicht dabei belassen, einer Frau eine Waffe an den Kopf zu halten.

Wir wissen zum Beispiel, was im ehemaligen Jugoslawien passierte, wo serbische Soldaten Tausende bosnische Frauen vergewaltigten. Ihre Geschichten kamen erst ans Licht, als sie in den Geflüchtetenlagern ungewollte Kinder zur Welt brachten. Es vergingen viele Monate, bis das volle Ausmaß der systematischen Vergewaltigungen sichtbar wurde.

Wir wissen, was Frauen während der Kämpfe in der Demokratischen Republik Kongo erlitten haben. Wir wissen, was die Boko Haram mit jungen Frauen in Nordafrika gemacht hat. Wir wissen, was britische und amerikanische Soldaten den Frauen in Irak antaten. Wir wissen, was mit den Jesidinnen passiert ist, die in die Gefangenschaft des IS gerieten. Wir wissen um die sexuelle Versklavung syrischer Frauen und Mädchen während des Krieges. Und wir wissen auch, dass indigene Frauen in Kanada in Wäldern vergewaltigt und ermordet wurden. 

Die gleichen Gräueltaten wurden auch an Frauen in Algerien, Myanmar, Darfur und Ruanda verübt. Und ja, auch hier in Palästina gibt es schreckliche Geschichten über sexualisierte Gewalt gegen palästinensische Frauen während der Nakba. Diese Verbrechen wurden nicht fotografisch festgehalten, dokumentiert oder ermittelt. Uns bleiben nur die Geschichten der Überlebenden – unserer Großmütter.

Diese historische und geografische Häufung sexualisierter Übergriffe schmälert keineswegs den Schmerz, den israelische Frauen erfahren haben, noch mindert sie die Solidarität, die wir ihnen entgegenbringen müssen. Im Gegenteil: Sie sollte uns in unserem Willen bekräftigen, den Aussagen dieser Frauen ernsthaft Gehör zu schenken.

Es steht außer Frage, dass die Geschehnisse gründlich untersucht werden müssen. Dabei dürfen wir allerdings nicht vergessen, dass Geschichten über geschlechtsbasierte Gewalt in Kriegsgebieten für gewöhnlich nur langsam ans Licht kommen. Viele Überlebende sexualisierte Gewalt brauchen mehrere Jahre, wenn nicht ein ganzes Leben lang, bevor sie über das, was ihnen widerfahren ist, sprechen können. Zu oft wird die Wahrheit in einem patriarchalen System totgeschwiegen, kleingeredet oder geleugnet. Daher ist es umso wichtiger zu betonen, dass wir den Berichten der Frauen glauben.

Gleichzeitig müssen wir aufgrund unserer feministischen Prinzipien mit den palästinensischen Frauen in Gaza Solidarität üben, die seit dem 7. Oktober unsägliches Leid durch die israelische Armee erleiden. Unsere Frauenbewegung darf sich nicht am Grenzzaun um Gaza spalten lassen.

Der israelische Feminismus in der Offensive

Mit der Behauptung, internationale Frauengruppen hätten sich nach dem 7. Oktober nicht mit den Israelinnen solidarisiert, geht der jüdisch-israelisch-feministische Mainstream-Apparat in die Offensive. Ihre Kritik richtet sich nicht nur gegen jene, die schweigen, sondern auch gegen solche, die es sich angemaßt haben, eine externe Untersuchung der geschlechtsbasierten Verbrechen des 7. Oktobers zu verlangen. Sie werden als Rassist*innen dargestellt, die sich auf die Seite der Palästinenserinnen geschlagen hätten und jetzt die israelischen Frauen im Stich ließen.

Diese Rhetorik zielte bisher hauptsächlich auf die Frauenrechtseinheit der Vereinten Nationen UN Women ab, die von israelischen feministischen Organisationen beschuldigt wird, die sexualisierte Gewalt gegen israelische Frauen zu leugnen – was am angeblichen «Antisemitismus» der UN liege. Die Wahrheit ist um einiges einfacher: Wie jede Organisation, die dem riesigen Konstrukt der UN angehört, arbeitet UN Women sehr, sehr langsam.

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Israelinnen protestieren vor dem UN-Hauptsitz in Jerusalem, 27. November 2023. Foto: Flash90

Tatsächlich hätte UN Women schneller auf die Berichte über sexualisierte Gewalt am 7. Oktober reagieren müssen. Das erste am 12. Oktober 2023 veröffentlichte Statement war zurückhaltend und vage. Es enthielt einen Aufruf, die Kämpfe einzustellen, um zu verhindern, dass unschuldige Menschen, insbesondere Frauen und Kinder, zu Schaden kommen. Ein zweites Statement vom 1. Dezember ging etwas weiter: Es drückte «tiefe Besorgnis über die Berichte von skrupelloser sexualisierter und anderer geschlechtsspezifischer Gewalt während der Anschläge vom 7. Oktober» aus und fügte hinzu, dass die Organisation die Untersuchungskommission der UN bei der Ermittlung von Kriegsverbrechen beider Seiten, insbesondere bezüglich sexualisierter Gewalt, unterstütze.

Die Forderung nach einer Untersuchung und Dokumentation der Schrecken des 7. Oktober und der Aufnahme der Aussagen der Überlebenden nimmt den Ereignissen in keiner Weise ihre Schwere. Genauso wenig ist ein Angriff auf die internationale Frauenbewegung ein Beweis für eine stärkere Solidarität mit den Opfern. Im Gegenteil: Feminist*innen werden in eine defensive und zurückhaltende Position gedrängt und es wird eine Loyalitätsprüfung verlangt, die feministische Werte wie Schwesterlichkeit, das politische Engagement für die Freiheit aller Frauen unabhängig von Ethnie und Nationalität sowie die Pflicht, die Würde der Opfer zu verteidigen und zu wahren, grundlos infrage stellt.

Darüber hinaus wird mit dieser Rhetorik die israelische Bombardierung des Gazastreifens seit dem 7. Oktober und dessen verheerende Konsequenzen für das Leben der Palästinenserinnen im Gazastreifen völlig ausgeblendet. Mehrere Zehntausend Frauen wurden bereits getötet oder verletzt, ihre Kinder verstümmelt und ihre frühgeborenen Babys ersticken ohne Sauerstoff in Inkubatoren. Frauen sind gezwungen, in Zelten zu gebären und ohne Zugang zu sauberem Wasser, Hygieneartikeln, Privatsphäre und sauberer Kleidung zu stillen und zu menstruieren.
Diese Zahlen und Bilder erreichen die Frauen in Israel nicht. Aber der Rest der Welt sieht, was passiert, und sollte den Angriff auf Gaza auch aus feministischer Perspektive betrachten.

Aktuell wiegt die Last des vergossenen Blutes und der Schrecken auf palästinensischer Seite schwerer. Das können wir nicht ignorieren. Aber ebenso wenig darf das Elend der Frauen in Israel und in Gaza gegeneinander ausgespielt werden.
 

Wir müssen gemeinsam kämpfen

Es wäre um einiges einfacher für mich, mich in den Videos der getöteten Frauen in Gaza zu verlieren und zumindest bis zum Ende dieses Krieges eine eindeutige palästinensische Position, aber dafür eine schwammige feministische Position zu vertreten. In dieser Hinsicht kann ich die israelischen Frauen verstehen, für die es einfacher war, in ihr nationales Lager zurückzukehren und sich in die Reihe der Kriegsbefürworter*innen zu stellen. Aber wenn wir uns in dieser Zeit nach innen wenden, verraten wir damit die Werte, für die wir so viele Jahre gekämpft haben, und schaden letztlich israelischen und palästinensischen Frauen gleichermaßen.

Vor fünf Jahren war ich Teil einer Gruppe palästinensischer und jüdischer Feminist*innen, die sich zusammenschlossen, um gegen Pläne für einen erleichterten Zugang zu Waffenscheinen in Israel anzugehen. Wir wussten, dass dies eine Zunahme des häuslichen Missbrauchs und der Gewalt gegen Frauen mit sich bringen würde. Die Reform wurde von Gilad Erdan vorgeschlagen, der damals der Minister für Innere Sicherheit war und heute Israel in den Vereinten Nationen vertritt. Leider sehen einige israelische Feminist*innen Erdan nun aufgrund seiner heftigen Attacken gegen UN Women nach dem 7. Oktober als Verbündeten.

Ebenso wenig können wir Premierminister Benjamin Netanjahu, der israelischen und palästinensischen Frauen auf mehr als nur eine Art das Leben schwer gemacht hat, als Verbündeten betrachten, nur weil er der Welt die Frage stellt: «Wo seid ihr? Ihr schweigt, weil es jüdische Frauen sind.»

Als palästinensische Feministin stehe ich in diesen erschütternden Zeiten an der Seite meiner jüdischen feministischen Kolleg*innen und Partner*innen und erwarte auch von ihnen, dass sie an meiner Seite für den palästinensischen Feminismus eintreten, wenn Israel unsere Schwestern in Gaza mordet. Ich erwarte, dass sie den Mut haben, sich zu erheben und einen sofortigen Waffenstillstand zu fordern, der das Leben unzähliger Mütter und Kinder retten wird, die sonst getötet oder verwundet werden.

Der Kampf gegen den Militarismus und die Militarisierung ist seit Jahren ein Kampf, den jüdische und palästinensische Feminist*innen gemein haben. Gerade jetzt ist dieser Kampf wichtiger denn je. 

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Palästinensisches Mädchen an der Einschlagstelle eines israelischen Luftangriffs in Rafah im südlichen Gazastreifen, 21. Dezember 2023. Foto: Abed Rahim Khatib/Flash90

Ebenso wie ich die Erfahrungen israelischer Frauen nicht leugne, erwarte ich von jüdischen Feminist*innen und dem Rest der Welt, dass sie die Auswirkungen der geschlechtsbasierten Gewalt gegen palästinensische Frauen anerkennen, die sich jahrelang hingezogen hat: die sexualisierte Gewalt durch israelische Soldaten an den Checkpoints, der Missbrauch weiblicher Gefangener sowie die Art und Weise, wie israelische Soldaten derzeit die Palästinenserinnen sogar in ihrer Abwesenheit erniedrigen wenn sie Gefallen daran finden, ihre persönlichen Gegenstände zu durchwühlen, nachdem sie gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben wurden.

Ich bin stolz auf meine Freundinnen in palästinensischen Frauenorganisationen und das Statement, das sie veröffentlicht haben und das ich auch unterschrieben habe. Es findet klare Worte: «Wir stehen weiterhin uneingeschränkt gegen sämtliche sexualisierte Übergriffe, Belästigung und Vergewaltigung und unterstützen alle Frauen, die darüber sprechen, unabhängig von ihrer Nationalität, Religion und Ethnie.»

«Wir stellen die Glaubwürdigkeit der Berichte israelischer Organisationen, die gegen sexualisierte Übergriffe ankämpfen, zum 7. Oktober nicht infrage», hieß es weiter im Statement. «So rufen wir auch die Aktivist*innen israelischer Frauenrechtsorganisationen, die ihre Stimmen gegen die sexualisierte Übergriffe des 7. Oktobers erhoben haben, dazu auf, alle Menschenrechtverletzungen, einschließlich der Tötungen, Zerstörungen und Vertreibungen im Rahmen des unerbittlichen Krieges gegen das palästinensische Volk, von denen insbesondere Frauen und Kinder in Gaza betroffen sind, entschieden zu verurteilen.»

Wir sind gegen die Instrumentalisierung sexualisierter Übergriffe für politische Zwecke. Als palästinensische und jüdische Feminist*innen sind unsere Kämpfe nicht voneinander zu trennen. Sie müssen immer und überall auch den Kampf gegen Besatzung, Rassismus, Diskriminierung, Patriachat und Fundamentalismus umfassen. Wir werden diesen Kampf nicht gewinnen, wenn wir uns spalten lassen: Wir müssen Seite an Seite weitermachen.

Übersetzung aus dem Englischen von Gegensatz Translation Collective

Dieser Artikel ist am 22.12.2023 ursprünglich in englischer Fassung in +972Magazine erschienen.

Anmerkungen:

[1] Am 4. März 2024 hat die UN ihren ersten Untersuchungsbericht zu sexualisierter Gewalt am 7. Oktober veröffentlicht. Dieser Bericht legt nahe, dass während der Angriffe am 7. Oktober 2023 an verschiedenen israelischen Ortschaften im Grenzbereich des Gazastreifens sexuelle Gewalt, etwa in Form von Vergewaltigung und Gruppenvergewaltigung stattgefunden hat. Es gibt auch glaubwürdige Hinweise auf andere Formen von sexueller Gewalt wie Genitalverstümmelung und sexuelle Folter. Es wird schließlich empfohlen, eine umfassendere Untersuchung durchzuführen, um das Ausmaß und die genaue Zuschreibung dieser Übergriffe zu klären und das Vertrauen der Überlebenden und Opfer dieser Verbrechen in die Institutionen der UN zu stärken.

Autor:in

Samah Salaime ist eine palästinische feministische Aktivistin und Autorin.