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Zwei Staaten, eine Heimat

Der Appell des UN-Nahostgesandten klang wie ein Abgesang. „Volk Palästinas, verzweifle nicht, gib nicht auf“, rief der Bulgare Nikolaj Mladenow letzte Woche in Jericho Tausenden zu. Ein verzweifelter Aufruf an einem symbolischen Ort. In der biblischen Oasenstadt hatte Jassir Arafat im Juli 1994 das erste Büro der palästinensischen Autonomiebehörde eröffnet und nach Jahrzehnten im Exil seine Anhänger aufgefordert, zu kämpfen, „bis wir einen palästinensischen Staat mit Jerusalem als Hauptstadt gründen“.

Mehr als ein Vierteljahrhundert nach Arafats triumphaler Rückkehr wirkt diese Vorstellung wie eine surreale Utopie. Stattdessen droht mehr als zwei Millionen Palästinensern der Verlust weiterer Gebiete an Israel. Und das möglicherweise schon in den kommenden Wochen. Der Koalitionsvertrag zwischen der Likud-Partei von Premier Benjamin Netanjahu und dem Blau-Weiß-Bündnis von Außenminister Benny Gantz spricht sich für Gesetze aus, die es ermöglichen, Teile der Westbank zu annektieren, darunter drei große Siedlungsblöcke und das Jordantal.

Die seit Jahren von der israelischen Rechten befeuerten Annexionspläne könnten allein deshalb bald Realität werden, weil sie das Wohlwollen Washingtons genießen – anders als unter Barack Obama, dessen Nahostdiplomatie trotz Friedensnobelpreis nie Fahrt aufnahm. So sieht der im Januar vorgestellte, von ihm selbst als „Jahrhundertdeal“ gepriesene Nahostplan Donald Trumps vor, dass gut 30 Prozent des Westjordanlands annektiert werden können.

Im Zentrum des 1967 von Israel besetzten Gebiets liegt Jericho. Zwar würde die Stadt dem Plan zufolge nicht unter israelische Souveränität fallen, sondern als autonome Enklave weiterbestehen – ohne Bürgerrechte für ihre Bewohner allerdings, wie sie israelische Siedler in der Westbank genießen. Ein zusammenhängendes Territorium für einen Palästinenserstaat, wie ihn der Trump-Plan durchaus vorsieht, wird dadurch de facto unmöglich. Mit einer Annexion wird palästinensisches Terrain weiter zerstückelt. Was bleibt, ist ein Flickenteppich rund um die bereits bestehenden mehr als 130 jüdischen Siedlungen, durchkreuzt von israelischen Verkehrswegen, verbarrikadiert mit Straßensperren und Barrieren, kleingehalten von einem ausgetüftelten System der Terminals, für die Passierscheine nötig sind. Die Bürokratie der Besatzung nimmt schon heute Hunderttausenden Palästinensern die Luft zum Atmen. Verbal deutlich, politisch aber wenig wirksam waren denn auch die bisherigen Warnungen der Vereinten Nationen der und Europäischen Union vor erneuter Landnahme. Das einstige Nahost-Quartett aus den USA, Russland, UNO und EU ist nur noch ein Papiertiger.

Kalt erwischt

Die Realität des neuen Nahen Ostens ohne die alte, auf einen Kompromiss zwischen Israel und Palästinensern bedachte Ordnungsmacht USA erwischt nicht nur die EU auf dem falschen Fuß, mehr noch die palästinensische Führung. Nur vier Seiten lang war der im Juni vorgelegte Gegenvorschlag der Autonomieregierung in Ramallah zum Trump-Plan. Darin hält sie an der Gründung eines „souveränen, unabhängigen und entmilitarisierten Palästinenserstaats“ fest und schlägt lediglich „geringfügige Änderungen der Grenzen“ vor, „wo es notwendig ist“. Das dürfte kaum dafür ausreichen, den möglicherweise letzten Schritt bei der Einverleibung Palästinas aufzuhalten. Schließlich ist eine Regelung des alten Nahostkonflikts seit Beginn des „Arabischen Frühlings“ Ende 2010 in den Hintergrund gerückt. Nicht mehr die Achse moderater Staaten, angeführt von Ägypten und Jordanien, die 1979 bzw. 1994 Frieden mit Israel schlossen, bestimmt die Geschicke in Nahost. An erster Stelle steht der Kampf um regionale Hegemonie zwischen Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten – den Führungsmächten des Golf-Kooperationsrats (GCC) – und dem Iran. Gespalten wird dadurch auch die palästinensische Führung: Während die im Gazastreifen herrschende Hamas von Teheran unterstützt wird, setzen Abbas und seine Gefolgsleute weiter auf Beistand aus Riad und Abu Dhabi.

Dass die internationale Gemeinschaft dennoch an ihrem Ziel einer Zweistaatenlösung festhält, ist schierer Ratlosigkeit geschuldet – und der Weigerung, von einem Plan Abschied zu nehmen, der bereits seit zwei Jahrzehnten obsolet ist: Im Juli 2000 scheiterten in Camp David die vom damaligen Präsidenten Bill Clinton initiierten Friedensverhandlungen zwischen Arafat und dem israelischen Regierungschef Ehud Barak. Zwei Monate später begann die Zweite Intifada, Anfang 2001 unterlag Barak bei der Wahl dem rechten Likud-Kandidaten Ariel Scharon.

Seitdem ist die israelische Gesellschaft weiter nach rechts gerückt, während es in der Westbank den um einen demokratischen Rechtsstaat bemühten Kräften nicht gelungen ist, die autoritäre Herrschaft der Fatah von Mahmud Abbas zu brechen. Das gilt umso mehr für den Gazastreifen, wo die Hamas und der Islamische Dschihad eine Verhandlungslösung weiter gewaltsam hintertreiben. Hinzu kommt, dass die europäischen Gegner des Trump-Plans zu schwach sind, um neue Verhandlungen ohne die USA voranzutreiben. Deshalb lassen sich auch Alternativen zur Zweistaatenlösung, wie sie seit mehr als 20 Jahren zirkulieren, ohne politischen Willen und internationalen Druck kaum durchsetzen. Das gilt ebenso für eine mögliche Ein-Staat-Lösung, die angesichts palästinensischer Bevölkerungsmehrheit Existenzängste auf jüdischer Seite auslöst, wie für Pläne eines binationalen Staats mit gleichen Rechten für alle Bürger.

Konföderationsmodelle hingegen könnten einen Kompromiss darstellen, der es ermöglicht, nationale Identitäten und kollektive Rechte stärker zu berücksichtigen. Es wäre der Tatsache Rechnung getragen, dass zwei getrennte Staaten den anstehenden Herausforderungen nicht gerecht werden. In Betracht käme die Initiative „Zwei Staaten, eine Heimat“. Das von israelischen Friedensaktivisten und palästinensischen Dissidenten unterstützte Konzept geht von zwei souveränen, unabhängigen Staaten in einem Land aus – mit offenen Grenzen für die jeweils andere Bevölkerung. Jüdische Siedler würden in einem Staat Palästina leben, eine auszuhandelnde Zahl palästinensischer Flüchtlinge bekäme Wohnrecht in Israel. Beide Gruppen blieben Bürger ihres eigenen Staates, dessen Regierung sie wählen. Hauptstadt beider Staaten wäre Jerusalem, die palästinensischen Bewohner blieben Staatsbürger Palästinas, die israelischen Staatsangehörige Israels.

Doch verhindern nicht zuletzt fehlender politischer Wille in der EU wie die Schwäche der palästinensischen Führung ein solches Projekt. So rückt eine regionale Strategie ins Visier, wie sie 2002 der damalige saudische König Abdullah vorschlug. Dessen Arabische Initiative beinhaltete das Angebot, dass – sollte sich Israel auf die Grenzen von 1967 zurückziehen und einen unabhängigen palästinensischen Staat mit Ostjerusalem als Hauptstadt anerkennen – die arabischen Staaten Israel anerkennen würden. Eine Option, die der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman 2018 bekräftigte, und die auch Mohammed bin Zayed gutheißt, Thronfolger in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Mit dem israelischen Sicherheitsregime in der Westbank haben sich beide stillschweigend abgefunden, Annexionen freilich lehnen sie ab.

Die beiden Golfmonarchien sind die Speerspitze einer restaurativen Achse, die seit dem Arabischen Frühling eine Rückkehr der alten Regime in Nordafrika und in der Levante betreibt. Die Diktatur des ägyptischen Präsidenten Fattah al-Sisi halten die Arabischen Emirate seit dessen Putsch gegen den Muslimbruder Mohammed Mursi 2012 mit Milliardentransfers am Leben; in Libyen steht das sunnitische Herrscherhaus auf der Seite von General Haftar, dessen Verbände gegen die international anerkannte Regierung in Tripolis kämpfen.

Die alten Fronten gelten nicht

In Syrien sind Saudi-Arabien und die Emirate von dem Ziel, Präsident Baschar al-Assad zu stürzen, längst abgerückt. Autokratische Regime von Kairo bis Damaskus zu erhalten, das wiegt schwerer als die Hilfe für dschihadistische Milizen. Zumal diese sich zuletzt immer stärker der Türkei zuwandten, dem neben Katar wichtigsten Unterstützer der verhassten Muslimbruderschaft. Deren palästinensischen Ableger Hamas zu schwächen, eint Netanjahu, bin Salman und bin Zayed. Gleiches gilt für den Kampf gegen die iranischen Revolutionsgarden in Syrien wie die libanesische Hisbollah, die Israel unmittelbar bedrohen.

Wirtschaftliche Interessen sorgen ebenfalls für eine Annäherung zwischen den beiden Golfmonarchien und Israel, wie sie 1993, zur Zeit der Oslo-Verträge, undenkbar gewesen wäre: Israel erlaubt Geschäftsleuten und Pilgerreisenden in diesem Jahr die Einreise nach Saudi-Arabien, in Abu Dhabi eröffnete bereits 2015 eine israelische Botschaft. Vor wenigen Wochen warnte Yousef Al Otaiba, Botschafter der Emirate in Washington, in einem auf Hebräisch verfassten Beitrag vor den Folgen einer Annexion für das Verhältnis zwischen den arabischen Staaten und Israel. Ein ungewöhnlicher Schritt, der zeigt, dass die gewohnten Fronten des Nahostkonflikts nicht mehr gelten.

Al Otaiba erinnerte in der auflagenstärksten israelischen Zeitung Jedi’ot Acharonot zudem daran, dass es auf dem Weg zum Frieden unerlässlich sei, sich direkt an die andere Seite zu wenden, wie das Ägyptens später ermordeter Präsident Anwar as-Sadat getan habe. Ohne dessen Besuch in Jerusalem 1977 wäre der Friedensvertrag mit Israel nicht möglich gewesen. Mehr als drei Jahrzehnte später braucht es wohl einen Sadat aus Riad, der zu einem solchen Schritt bereit ist. Auch wenn ein saudischer Monarch kaum von der Idee gleicher Rechte für alle Bürger angetan sein dürfte, ohne die ein gerechter Frieden nicht denkbar ist.

Markus Bickel war Chefredakteur des Amnesty Journals in Berlin. Ab September leitet er das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv

Der Artikel erschien am 01.07.2020 in der Wochenzeitung der Freitag.

Autor:in

Markus Bickel leitete das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv zwischen 2020-2023.