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Israel erkennt sich selbst nicht wieder

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Meine Nachbarin aus dem zweiten Stock hatte tief geschlafen, als wir uns nachts um drei im Treppenhaus trafen. In den Armen ihres Sohns hielt sie sich Augen und Ohren zu, ehe die beiden zehn Minuten nach Abklingen der Sirenen wieder in ihre Wohnung schlichen. Ich fand danach keine Ruhe mehr, es war der erste Raketenangriff der Hamas, den ich in Israel zu Hause erlebte. Seit Dienstag, dem 10. Mai, habe ich fünf, sechs Mal ein paar solcher Minuten mit meinen Nachbar*innen auf dem Treppenabsatz im ersten Stock verbracht. Den letzten Raketenalarm gab’s vor mehr als 100 Stunden, fünf Nächte konnten wir nun in Tel Aviv schon durchschlafen; die Menschen im und um den Gazastreifen herum können das nicht.

Vor fünfzehn Jahren waren es die Einschläge israelischer Bomben, die mich aus dem Schlaf rissen. Beirut, im Juli 2006: Als Nahostkorrespondent berichtete ich aus dem Libanon, als die Hisbollah mit der Entführung von zwei israelischen Soldaten einen Krieg auslöste, der 34 Tage dauern sollte. Die Detonationen waren genauso laut, die Anspannung die gleiche. Denn auch wenn es im Libanon anders als in Israel kein Hightech-Abwehrsystem Iron Dome gibt, das 90 Prozent der Raketen abfängt, fühlte ich mich auch in Beirut nach drei Bombennächten nicht mehr persönlich bedroht. Die Geschosse schlugen vier Kilometer südwestlich von unserem Viertel ein, im von der Hisbollah kontrollierten Haret Hreik.

Aus der Bar in den Bunker

So verwebt sich in diesem Text meine Erinnerung an den letzten israelischen Krieg gegen die Hisbollah im Sommer 2006 mit der Aktualität des sicherlich nicht letzten gegen die Hamas, der heute vor elf Tagen begann. Tel Aviv war vier Wochen nach Ende des letzten Lockdowns gerade richtig am Durchstarten, Corona nach 15 Monaten besiegt, Israel Impfweltmeister. Und dann wie aus heiterem Himmel die Raketen der Hamas auf Jerusalem, dem eine Nacht später der Beschuss der Mittelmeermetropole folgte. Aus der Bar direkt in den Bunker, irgendwie routiniert. Welcome to Tel Aviv, my friend!

Im Juli 2006 in Beirut war es ähnlich, die Stadt im WM-Taumel, ganze Straßenzüge voller Deutschland-Fahnen, in anderen argentinische, französische oder italienische, den weltgewandten Libanes*innen sei Dank. Dann – zwei Nächte nach dem Sieg Italiens über Frankreich im Berliner Olympiastadion – aus der Traum vom Rekordbesuchersommer in den Hotels und Bars Beiruts: Nach einer 15 Monate währenden Attentatsserie, die mit dem Mord am langjährigen Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri im Februar 2005 begann, verschärfte sich die Staatskrise im Libanon nur noch. 2008 stürmte die Hisbollah Westbeirut, es folgten Jahre ohne demokratisch gewähltes Parlament, ohne Staatsoberhaupt.

In fragilen politischen Systemen multikonfessioneller Gesellschaften sind das die Zutaten für anhaltende gewaltsame Konflikte. Israel hat diese seit 1967 externalisiert, in die besetzten palästinensischen Gebiete, von 1978 bis 2000 auch in den Südlibanon, doch nun schlägt die Kolonie zurück. Das Land steckt in einer tiefen institutionellen Krise, den Krieg gegen die Hamas führt eine parlamentarisch nicht mehr legitimierte Regierung. Zwar ist Israel nach vier Wahlen in zwei Jahren immer noch deutlich stabiler als der zwischen «failing» und «failed state» schwankende Libanon. Das Vertrauen in die politische Klasse aber ist massiv geschwunden, was auch einem möglichen Nachfolger Benjamin Netanjahus das Regieren schwer machen wird.

Zutaten eines Bürgerkriegs

Und noch an einer anderen Stelle tun sich Parallelen zwischen dem Libanon und Israel auf, die noch vor wenigen Jahren undenkbar waren: Im ganzen Land arabische und jüdische Mobs, die Geschäfte kurz und klein schlugen, Wohnungen und Synagogen in Brand setzten, loslegten, als ginge es tags darauf in den Bürgerkrieg. Der im Libanon fand zwischen 1975 und 1990 statt, im israelischen Kernland hingegen blieben die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen seit 1948 gedeckelt – die Zweite Intifada mit Selbstmordattentaten war terroristisch geprägt, der Konflikt der 2000er Jahre einer um Land und Rechte und nicht ethnokonfessionell motiviert wie die Ausschreitungen in der vergangenen Woche in Haifa, Jaffa, Akko und anderen Städten mit arabischen und jüdischer Bevölkerung.

So zeigt Israel der Welt plötzlich ein Gesicht, das es so selbst nicht von sich kannte. Nichts erschreckt meine Kolleginnen mehr als die Ausschreitungen in ihren Städten, die Angst, dass rechte Angreifer wieder in arabische Viertel eindringen könnten. Gaza-Kriege gibt es alle Jahre wieder, Erschütterungen des fragilen Gleichgewichts zwischen den beiden größten Bevölkerungsgruppen in dieser Form für viele zum ersten Mal. Und wieder fühlen sich die knapp zwei Millionen arabischen Israelis als Bürger*innen zweiter Klasse behandelt: 116 Anklagen gegen Randalierer erhob die Staatsanwaltschaft bis Wochenbeginn – ausschließlich gegen Araber*innen, keine einzige gegen Jüdinnen* Juden.

Die ethnisch und konfessionell aufgeladenen Ausschreitungen sind das Ergebnis eines Jahrzehnts rechter Hetze, die durch Netanjahu befördert wurde. Immer intoleranter wurden die Kabinette, die er mangels eigener Parlamentsmehrheit seiner Likud-Partei zusammenstellte. Aber auch der Regierungschef selbst goss Öl ins Feuer: Als «existenzielle Bedrohung» beschrieb er israelisch-arabische Politiker in der Vergangenheit, die das Ziel verfolgten, «uns alle auszulöschen». Zuletzt, im Wahlkampf für die vierte Knesset in zwei Jahren, unterstützte Netanjahu sogar Mitglieder der ultrarechten Kahanisten-Bewegung.

Ein Jahrzehnt rechter Hetze

So sitzen nun Abgeordnete wie der Rechtsextremist Itamar Ben Gvir von der Partei Jüdische Stärke im Parlament, der sich offen für die Vertreibung arabischer Israelis einsetzt, «die dem Staat gegenüber nicht loyal sind». Und der Mann, der vor gerade einmal zehn Tagen wie der künftige Regierungschef aussah, der Vorsitzende der Rechtspartei Jamina, Naftali Bennett, verglich noch 2018 Palästinenser*innen mit Moskitos: «Wenn du sie tötest, gelingt es dir, 99 von ihnen zu töten, und der hundertste Moskito, den du nicht tötest, tötet dich. Die echte Lösung ist deshalb, den ganzen Sumpf auszutrocknen.»

Doch fünf Jahrzehnte Besatzung haben gezeigt, dass das nicht möglich ist. Die Eskalation in Gaza ist dafür nur das jüngste Beispiel: Elf Tage dauert die militärische Konfrontation zwischen den ungleichen Gegnern nun schon, die sich während des muslimischen Fastenmonats Ramadan zwar nicht abzeichnete, aber im Rückblick betrachtet politisch aufbaute – und zwar in Jerusalem.

Einerseits im annektierten Osten der geteilten Stadt, im palästinensischen Viertel Sheikh Jarrah, wo mehreren Familien Zwangsräumungen durch die Klagen jüdischer Siedlerorganisationen drohen. Zum anderen auf dem Tempelberg/Haram Al-Scharif (dt. «edles Heiligtum»), wo israelische Sicherheitskräfte ausgerechnet in der Laylat al Qadr in den Felsendom eindrangen, um muslimische Gläubige auseinanderzutreiben. Der Überlieferung nach wurde dem Propheten Mohammed in dieser Nacht der Koran offenbart. Eine Provokation ohnegleichen, an einem der wichtigsten Orte des Islams.

Provokationen in Jerusalem

Die Abriegelung des Platzes vor dem Damaskustor zu Ramadanbeginn, wo abends Gläubige traditionell zum Fastenbrechen zusammenkommen, und das israelische Vorgehen in Sheikh Jarrah hatten die palästinensische Bevölkerung schon in den Wochen zuvor zusammengeschweißt wie lange nicht mehr. 15 Jahre nach den letzten Wahlen in den besetzten Gebieten sollte eigentlich am 22. Mai ein neues Parlament gewählt werden; Millionen Menschen hätten zum ersten Mal ihre Stimme abgeben können. Doch der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, sagte den Urnengang Anfang Mai ab. Die Weigerung der israelischen Behörden, auch die Bewohner*innen des annektieren Ostjerusalems abstimmen zu lassen, diente ihm als willkommener Vorwand.

Der eigentliche Grund dürfte ein anderer sein: Die Hamas als palästinensischer Ableger der Muslimbruderschaft hatte gute Chancen, die Fatah von der Macht im Westjordanland zu verdrängen.

Vor diesem Hintergrund stellte die Hamas der israelischen Regierung ausgerechnet am so genannten Jerusalem-Tag ein Ultimatum: Seit 1968 wird an diesem Tag der Rückeroberung Ostjerusalems durch die israelische Armee ein Jahr zuvor gedacht. Ein patriotischer Fahnenmarsch jüdischer Nationalisten wurde auch nach den Spannungen auf dem Tempelberg nicht abgesagt, sondern erst, als die Hamas am Nachmittag den vollständigen Rückzug israelischer Sicherheitskräfte forderte. Diesem Ultimatum kam Netanjahu nicht nach. Was folgte, waren die ersten Raketen auf Jerusalem seit 2014 und Vergeltung durch die israelische Luftwaffe noch in derselben Nacht.

Niederschlagung zivilen Protests

Die von der Hamas angezettelte, von der israelischen Luftwaffe mit unerbittlicher Härte beantwortete militärische Eskalation hat vor allem eins bewirkt: Der zivile Protest, mit dem die palästinensische Bevölkerung nicht nur im Westjordanland, sondern auch in israelischen Städten ihren Unmut über die anhaltende Besatzung kundtat, wurde schlagartig zum Schweigen gebracht. Wieder blickt die Welt nur noch auf Gaza und den bewaffneten Schlagabtausch zwischen der Islamistenmiliz und einer der am besten ausgestatteten Armeen der Welt. Berichte über die Niederschlagung friedlicher Demonstrationen in israelischen und palästinensischen Städten dringen da kaum noch durch.

So gehen Netanjahu und der Hamas-Anführer Ismail Haniyya vorerst als Sieger aus dem neuen Gaza-Krieg hervor, bei dem bislang 227 Palästinens*innen und zwölf Israelis getötet wurden. An einer dauerhaften Lösung des Konflikts ist weder dem einen noch dem anderen gelegen: Netanjahu nicht, weil er mit Verweis auf die Spaltung zwischen Hamas und Fatah weiterhin Verhandlungen über eine Zweistaatenlösung ablehnen kann. Haniyya nicht, weil immer neue Angriffe auf israelische Gemeinden den Mythos von der Wirksamkeit militärischen Widerstands gegen die Besatzungsmacht am Leben halten.

Das Alltagsleben unter der Besatzung aber bleibt von Ausbeutung, Demütigungen und einem perfiden System ausgeklügelter Passiergenehmigungen geprägt, und das nun schon länger als ein halbes Jahrhundert. Zugleich wächst die Zahl israelischer Siedlungen – eine Million Israelis sollen nach dem Wunsch rechter Politiker bis 2030 in den besetzten Gebieten leben. Schon heute hat die israelische Siedlungspolitik dafür gesorgt, diese territorial zu zerschneiden und zu zerfransen; die mit den Abkommen von Oslo 1993 und 1995 verbundene Hoffnung, sie enthielten die Blaupause für einen eigenständigen Staat, hat sich längst zerschlagen. Stattdessen ist Palästina ein Flickenteppich, zusammengesetzt aus 160 wirtschaftlich kaum überlebensfähigen, politisch hoch explosiven Enklaven.

Eine Realität, die in Tel Aviv kaum noch einer wahrnimmt, wenn man von Demonstrationen zivilgesellschaftlicher Gruppen wie Standing Together und Peace Now einmal absieht. Aus der Knesset haben sich nur Angehörige der sozialistischen Hadash und der ein oder andere Meretz-Abgeordnete gegen den Krieg ausgesprochen, die Besatzung war während der vier Wahlkämpfe der vergangenen beiden Jahre kein Thema. Derweil gehen die israelischen Luftangriffe weiter, wie 2006 im Libanon: Das Dröhnen der F-16-Kampfjets am Himmel über Tel Aviv bildet den Soundtrack für einen Krieg, der die Menschen in und um den Gazastreifen herum seit elf Tagen in Angst und Schrecken versetzt. Jeder weitere ist einer zu viel.

Autor:in

Markus Bickel leitete das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv zwischen 2020-2023.