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Den Tempelberg im Visier

Mit der Erfindung der Fotografie wurde der Tempelberg zum Gegenstand der Beobachtung und Dokumentation durch europäische Fotograf*innen, Tourist*innen, Gelehrte und Abenteurer. Sie betrachteten ihn und das Leben um ihn herum als lebendiges Überbleibsel der biblischen Zeit, sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments. Eine systematische Durchsicht der Fotoarchive in Israel zeigt, dass seitdem Aufnahmen vom Tempelberg immer wieder im Bildmaterial über Israel/Palästina auftauchen. Die von einer Mauer umgebene vergoldete Kuppel des Felsendoms – fotografiert aus der Luft oder vom Boden aus, während Kriegs- oder Friedenszeiten, an Feiertagen oder unter der Woche – wurde zum immer wiederkehrenden Objekt für Fotograf*innen, die im Auftrag oder mit Billigung des Staats und seiner Institutionen arbeiten.

In diesem Artikel konzentrieren wir uns auf Fotografien aus zwei Perioden, die kritische Momente für den Status des Tempelbergs im zionistischen öffentlichen Diskurs waren und die rund ein Jahrhundert auseinanderliegen: aus dem dritten Viertel des 19. Jahrhunderts, der Blütezeit der orientalistischen Fotografie im Nahen und Mittleren Osten, und aus dem dritten Viertel des 20. Jahrhunderts, in dem der Krieg von 1967 stattfand und Israel den Tempelberg eroberte.[1] Durch eine Analyse der Fotografien werden wir sehen, dass das langweilige ikonische Bild des Tempelbergs, das in der israelischen Öffentlichkeit so bekannt und scheinbar nur eine neutrale Landschaftsfotografie ist, ein System von Botschaften enthält, die von den Betrachter*innenn entschlüsselt wurden und die dem fotografierten Ort für den Kontext und die Zeit spezifische Bedeutungen gaben. Im Gegensatz zu anderen Studien zur Fotografie in Palästina/Israel, die sich auf die künstlerischen Werte und die Inspiration der im Land arbeitenden Fotograf*innen konzentrieren, werden wir hier den historischen Zusammenhang zwischen den Fotografien des Tempelbergs und den politischen Entwicklungen in der Region aufzeigen.

Das 19. Jahrhundert: unberührte Wildnis

Die ersten Fotos vom Tempelberg, die europäische und amerikanische Fotograf*innen und Abenteurer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgenommen haben, sind sich überraschend ähnlich.

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Blick vom Ölberg auf Jerusalem, Druck eines mit der Daguerreotypie angefertigten Fotos des französischen Fotografen Frédéric Goupil-Fesquet aus dem Jahr 1839. Soweit bekannt, handelt es sich hierbei um die erste Fotographie des Tempelbergs.
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Farbreiche Panoramaaufnahme der Jerusalemer Altstadt des französischen Fotografen Félix Bonfils, 1890. Quelle: Archiv des israelischen Government Press Office (GPO)

Alle Fotos sind aus einer Panoramaperspektive aufgenommen; bei allen befindet sich die Kuppel des Felsendoms in der Mitte des Bilds, wodurch eine symmetrische Komposition geschaffen wird. Neben der Mauer, der Moschee und dem Felsendom ist auf allen auch das Land davor und der Himmel darüber zu sehen, in einer Zusammenstellung, die im 19. Jahrhundert als Goldener Schnitt bekannt war.[2] Diese Eigenschaften gaben den diversen Fotografien des Tempelbergs einen mythischen, zeitlosen Charakter, der dem Bestreben der Fotograf*innen und ihrer europäisch christlichen Klientel entsprach, sich die biblischen Zeiten vorzustellen und sie nachzuempfinden.

Obwohl es am Ende des 19. Jahrhunderts technisch bereits möglich war, Menschen zu fotografieren, und obwohl die Fotograf*innen, die den Tempelberg ablichteten, auch Fotos machten, auf denen die lokale Bevölkerung zu sehen ist, fehlt auf den Fotografien des Tempelbergs zu jener Zeit jegliche menschliche Präsenz. Zusammen mit der erwähnten Panoramaperspektive (bei der aus einer erhöhten Position heraus fotografiert wird) verstärkt die fehlende menschliche Präsenz die religiöse Atmosphäre von Heiligkeit und Zeitlosigkeit, die die Fotografien vermitteln.

Angesichts der Wichtigkeit des Orts waren die Fotografien vom Tempelberg Gegenstand zahlreicher historischer Studien im In- und Ausland,[3] die sie als Teil des europäischen Orientalismus gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten analysiert und verstanden haben. Sobald es technisch möglich war, draußen zu fotografieren, machten sich Fotograf*innen daran, Ägypten, Jerusalem, Beirut und Istanbul abzulichten. Der Nahe Osten war die erste Region außerhalb Europas und den USA, die durch Fotografie erforscht wurde. Die ersten Fotograf*innen, die in die Region kamen, waren wohlhabende Tourist*innen oder Archäolog*innen, die meist die Unterstützung ihrer Regierungen genossen. Sie sahen das Heilige Land als ein lebendiges Überbleibsel der biblischen Geschichte und die dort lebenden Menschen als die Nachkommen von Jesus und den Aposteln. Realen Orten verliehen sie eine mystisch symbolische Bedeutung, indem sie fotografische Kompositionen schufen, die mystische Majestät und Heiligkeit vermittelten.[4] Um als authentisch angesehen zu werden, mussten Fotograf*innen des Orients den Vorurteilen der viktorianischen Gesellschaft in Bezug auf die vermeintlich richtige Darstellung des Orients bedienen, unabhängig von dem tatsächlichen Ort, den sie fotografierten, oder den dort lebenden Personen. Um ihren Lebensunterhalt zu sichern, übernahmen ausnahmslos alle Fotograf*innen den Stil und die Motive der orientalistischen Gemälde, die bereits die gängigen visuellen Codes enthielten – die Codes, die die kulturelle Andersartigkeit der dort zu sehenden Orte und Menschen hervorheben und die kaum der Realität entsprachen.[5]

Studien haben den orientalischen Charakter der Landschaftsfotografie im Nahen und Mittleren Osten sowie den Einfluss des europäischen Geschmacks auf die Art der in Palästina aufgenommenen Fotografien untersucht. Lässt sich die Motivation europäischer Fotograf*innen, den Nahen und Mittleren Osten als ein Gebiet zu zeigen, das seinen antiken vormodernen Charakter bewahrt hat und unbewohnt ist, von der zionistischen Motivation, dieses Gebiet unbedingt zu erwerben und zu erobern, ablösen? Kann die visuelle Darstellung des Orts durch europäische Fotograf*innen von den Interessen des europäischen Zionismus in der Region getrennt werden? Unseres Erachtens nicht. Mit einem kritischen Ansatz, der in der Forschung über Landschaftsdarstellungen in der Kunst weitgehend akzeptiert ist, versuchen wir, die Landschaftsfotografien, die im 19. Jahrhundert in Palästina entstanden sind, als visuelle Dokumente zu verstehen, die eng mit politischen Interessen und ideologischen Veränderungen verbunden sind.[6]

In den ersten vier Jahrzehnten der Fotografie, von 1840 bis 1880, erlebte das konkrete Land des mythischen „Heiligen Lands“ politische und wirtschaftliche Veränderungen. Ein zentrales Ereignis, das diese Veränderungen ermöglichte, war die Aufhebung des Verbots des Landerwerbs durch Ausländer*innen in den Gebieten des Osmanischen Reichs im Jahr 1867. Bis dahin konnten nur dessen Staatsbürger*innen Land kaufen. Ab 1867 war dies auch Ausländer*innen möglich. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts an kam es so zu einer Verschiebung im Landbesitz und der Stellenwert des Lands selbst änderte sich. So wurden in den 40 Jahren, die Forscher*innen als das „goldene Zeitalter“ der orientalistischen Fotografie im „Heiligen Land“ bezeichnen, der Grundstein für ein Krankenhaus in Jerusalem gelegt, eine Mädchenschule (1855) und die Landwirtschaftsschule Mikveh Israel (1875) gegründet, Zentren zur Ausbildung für die Landwirtschaft der jüdischen Bevölkerung Palästinas, dem Jischuw, eröffnet und die Windmühle im Jerusalemer Viertel Mischkenot Scha’ananim errichtet (1857). Außerdem wurden in Jerusalem Kliniken und Wohltätigkeitsinstitutionen sowie Werkstätten, Druckereien und Webereien (ab1839) gegründet.[7] An dieser Entwicklung waren französische und britische Institutionen und Persönlichkeiten wie Moses Montefiore und später Baron Edmond de Rothschild beteiligt.

Mit anderen Worten, der lebhafte Handel mit romantisierenden und orientalisierenden Landschaftsaufnahmen vom Tempelberg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ereignete sich zur gleichen Zeit wie der Handel mit dem Land selbst, das in profitable Immobilien umgewandelt wurde. Wenn wir den romantischen Unterton von den Stätten, in deren Umgebung das Land genau zu dieser Zeit wirtschaftlich und politisch an Wert gewann, entfernen, dann kann man sagen, dass die Nachfrage nach Fotografien des „Heiligen Lands“ in Europa nicht nur auf dem Wunsch beruhte, die Vorstellungskraft christlicher Gläubiger durch die Illustration von alttestamentlichen Geschichten zu beflügeln. Wenn wir den Zusammenhang zwischen der fotografischen Darstellung des „Heiligen Lands“ und den konkreten Veränderungen, die dieses Land erfuhr, in Betracht ziehen, so lässt sich durchaus sagen, dass diese mythischen Fotografien den wahren Wert des Lands und die Veränderungen, die es durchgemacht hat, verschleiert und somit den europäisch-zionistischen Interessen gedient haben.

Das Jahr 1878 ist wichtig für das Verständnis der Beziehung zwischen der Fotografie im „Heiligen Land“ und den geopolitischen Veränderungen, von denen das Land betroffen war. In jenem Jahr wurde das bis heute ehrgeizigste Projekt der Orient-Fotografie in Europa auf den Weg gebracht, nämlich „Souvenirs dʼOrient: Album pittoresque“, das Stätten im Nahen und Mittleren Osten in Anlehnung an die Legenden von Tausendundeiner Nacht darstellt und diesen realen Orten eine mythisch-romantische Aura verleiht.

Im Jahr 1878 gab es auch viele Veränderungen auf dem Territorium von Palästina. In jenem Jahr wurde die erste jüdische Ortschaft, Petach Tikwa, auf dem Land des Dorfs Mulabbis in der Nähe der Quellen des Yarkon sowie fünf weiter jüdische Ortschaften gegründet. Dies war auch das Jahr, in dem Naphtali Herz Imber das Lied „Tikwateinu“ (Unsere Hoffnung) komponierte, das zur Hymne der zionistischen Bewegung und später zur Hymne des Staats Israel wurde.

Die Orientalisierung und Mythisierung der Jerusalemer Landschaften in den Fotografien europäischer und amerikanischer Fotograf*innen entsprach somit Europas exotischen Fantasien in Bezug auf den Orient. Gleichzeitig dienten die öden und unberührten Landschaften Palästinas, die auf diesen Fotografien zu sehen waren, dem Mythos des leeren Landes, der es dem Zionismus erlaubte, seine kolonialistischen Bestrebungen mit Unterstützung der europäischen Mächte zu rechtfertigen und zu legitimieren. Zugleich trug er zur Bildung des zionistischen Ethos durch Konzeptionen wie „die Erlösung des Lands“ [Kauf/Erwerb von Land in Palästina durch jüdische Personen oder Institutionen] und „die Wüste zum Blühen bringen“ bei.

Der Krieg von 1967: Eroberer und Eroberte

Für den Zeitraum 1948 bis 1967 sind offizielle Fotos von der Altstadt von Jerusalem relativ spärlich im visuellen Raum des Staats Israel vertreten.[8] Dies änderte sich grundlegend im Jahr 1967, als Israel Ost-Jerusalem eroberte und damit auch den Tempelberg. Dieses Jahr war ein Wendepunkt in der israelischen Beschäftigung mit dem Tempelberg. Infolge des Kriegsausgangs erhielten Bilder vom Tempelberg einen zentralen Platz im israelischen visuellen Raum. Der Tempelberg mit den darauf befindlichen Moscheen war zum ersten Mal unter israelischer Souveränität. Dies brachte die Einstellung des Zionismus und des israelischen Staats zum Tempelberg auf den Prüfstand. Viele Historiker*innen sind davon überzeugt, dass die Eroberung des Tempelbergs nicht zu den Hauptzielen des Kriegs gehörte, und viele Politiker*innen und Intellektuelle wollten nicht, dass der Tempelberg mit seinen Moscheen in israelischer Hand bleibt, und sprachen sich entschieden gegen eine anhaltende Besatzung des Tempelbergs aus. Die Bedrohung des modernen und säkularen Charakters des israelischen Staats sowie die Angst, den Status quo in der Region zu verändern, standen im Mittelpunkt der Überlegungen derer, die sich gegen eine Annexion des Tempelbergs aussprachen. Tatsächlich wurde der Tempelberg wenige Stunden nach seiner Eroberung dem muslimischen Waqf unterstellt, während die Klagemauer unter israelischer Kontrolle blieb. Aber obwohl der Tempelberg realiter nicht dem israelischen Staat angegliedert wurde, erhielt sein religiös-messianisches Potenzial eine konkrete Form.

In Hunderten von Fotografien, Postkarten, Alben, Dokumenten und Postern, die staatliche Stellen seit dem Krieg 1967 bis in die späten 1970er Jahre herstellten oder sponserten, ist die fotografische Perspektive in gewisser Hinsicht ähnlich dem Panoramablick auf die Landschaft, der in den besprochenen Fotografien des 19. Jahrhunderts vorherrschte. Während in den Fotografien des 19. Jahrhunderts menschliche Präsenz fehlt und den fotografierten Landschaften mythische und ideelle Bedeutung beigemessen wird,[9] fügten die nach 1967 aufgenommenen Fotografien dem Felsendom ein weiteres Element hinzu: die Abbildung eines Betrachters (niemals eine Frau), der zum Tempelberg schaut. Unseres Erachtens lädt dieser Betrachter den Tempelberg mit einer ganzen Reihe neuer dieser Landschaft zugeschriebenen politischen Bedeutungen auf.

Unsere These möchten wir anhand der folgenden Fotoserläutern, die in Zeitungen während des Kriegs oder in von der israelischen Armee oder dem Verteidigungsministerium anlässlich des Siegs herausgegebenen Alben veröffentlicht wurden.[10]

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Israelische Soldaten vor der Eroberung der Altstadt von Jerusalem, 1967. Quelle: Siegesalbum des Kriegs 1967, hrsg. von G. Benjamin. Le’Dory Publishing House,
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Soldaten der israelischen Armee mit Blick auf den Tempelberg, kurz vor Beginn des Kriegs 1967. Quelle: Siegesalbum des Kriegs 1967, hrsg. von G. Benjamin. Le’Dory Publishing House, 1967.

Neben dem Felsendom, der in das Zentrum des Blicks des Betrachters gesetzt wird, erhalten auch Soldaten, die die Moscheen anschauen, einen Ehrenplatz. Wie auf anderen ähnlichen Fotos sind auf den folgenden Fotos die Augen oder Gesichter der Soldaten nicht zu sehen, sodass sie anonym bleiben; allerdings sind ihre israelischen Uniformen, Waffen und Helme eindeutig zu erkennen ebenso wie die Richtung, in die sie ungehindert schauen.

Der britische Wissenschaftler Richard Dyer, der visuelle Kultur erforscht, hat in seinem Buch „White“ die Rolle des beherrschenden Blicks von Cowboys in US-amerikanischen Western im frühen 20. Jahrhundert hervorgehoben.[11] Ihm zufolge ist der Blick des Cowboys in die Weite synoptisch, beherrschend und allessehend und drückt seine Macht und Kontrolle über das Gebiet aus. Er ist Ausdruck der Initiative, des Imperialismus, des Ehrgeizes und der körperlichen Fähigkeiten des weißen Manns und stellt somit ein entscheidendes Element in der Ausgestaltung des US-amerikanischen Kolonialismus dar. Der Blick des Cowboys, der sein Verlangen, die indigene Wildnis zu kontrollieren, zum Ausdruck bringt, ist auch deutlich in dem Blick des Soldaten auf den Tempelberg in den Fotografien vom Krieg 1967 zu erkennen und kann als klarer visueller Ausdruck des zionistischen Kolonialismus verstanden werden. Wie die Western die US-amerikanischen nationalen Vorstellungen prägten und zur Definition der US-amerikanischen Nation beitrugen, haben die Panoramaaufnahmen des Tempelbergs in Israel im Jahr 1967 die intellektuelle und physische Stärke des zionistischen Besatzers bewiesen und dokumentiert.

Es ist überraschend, wie genau Dyers Analyse auf die Soldaten passt, die mit ihrem Blick das indigene Gebiet des Tempelbergs im Krieg 1967 dominieren: Wenn sie in den Fotos in der Rolle der Kräfte auftreten, die die Landschaft organisieren und unverkennbar kontrollieren, entspricht das dem von Dyer analysierten christlichen Modell. Die Fotografien stellen eine Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten her und schaffen eine klare Trennung zwischen den Vertretern der israelischen Armee, die die moderne westliche Kolonialmacht repräsentieren, und dem Tempelberg, der die antiken indigenen arabischen Eroberten repräsentiert. In genau dem historischen Augenblick, in dem von jüdischen israelischen Betrachtern erwartet werden könnte, dass sie sich dem Tempelberg, nach dem sie sich während 2.000 Jahre Exil gesehnt und gebetet haben, und der vollständigen Verwirklichung des zionistischen Heilsethos näher denn je fühlen, wird eine klare Trennung zwischen ihnen und der heiligen Stätte geschaffen. Durch die Fotografien wird der Tempelberg nicht als integraler Bestandteil des israelischen Staats interpretiert, der danach strebt seine Sehnsucht zu verwirklichen und zum Berg zurückzukehren, sondern im Gegenteil als völliger Gegensatz zum modernen zionistischen Staat, als ferne Vergangenheit des jüdischen Volks, die ihm als Gegner gegenübersteht. Die Soldaten und Flugzeuge auf den von staatlichen Stellen und von der Armee erstellten Fotografien des Tempelbergs erzeugen bei israelischen Betrachtern den Eindruck, dass der Tempelberg ein abgelegener, gefährlicher, unzugänglicher und irrelevanter Ort für sie ist.

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Israelische Militärflugzeuge proben den Überflug über Jerusalem für den Unabhängigkeitstag, ca. 1970.

Zu dem militärischen Ziel, den Tempelberg vom israelischen Betrachter fernzuhalten und ein vermittelndes Bild zu schaffen, gesellte sich auch der wissenschaftlich-ideologische Anspruch der Archäologie, ein im Wesentlichen westlich-koloniales Forschungsgebiet, das nach „Wissen“ über das indigene Land und dessen Geschichte strebt, oft während es dessen Schätze stiehlt. 1967 begannen Ausgrabungsaktivitäten auf dem Tempelberg, die bis heute anhalten. Im Jahr 1967 erfolgten Ausgrabungen noch unter Schirmherrschaft der British Archaeological Society, wie auf dem folgenden Foto zu sehen ist. Aber bereits ein Jahr später führten Wissenschaftler*innen der Hebräischen Universität von Jerusalem im Zuge der Räumung des marokkanischen und des jüdischen Viertels der Altstadt eine erste Ausgrabung auf dem Gebiet südlich des Tempelbergs durch. 1969 begannen erste Ausgrabungen der Tunnel unter der Klagemauer und wurden bis zu den Unruhen im Jahr 1996 fortgesetzt, die ausbrachen, als klar wurde, dass die Grabungen das Land unterhalb des Tempelbergs ohne Wissen des Waqf erreicht hatten.[12]

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Archäologische Ausgrabungen unterhalb der Al-Aqsa-Moschee, September 1967. Fotograf: Moshe Milner. Quelle: Archiv des GPO

Die Analyse von Fotografien von Soldaten, Piloten und Archäolog*innen, die während des Kriegs und danach auf dem Tempelberg aufgenommen wurden, zeigt, dass die Aufnahmen zu jener Zeit dazu beitrugen, den Tempelberg in den Augen der jüdischen Öffentlichkeit in Israel von einem Ort von religiöser Bedeutung zu einem von politischer Bedeutung zu machen, und als Teil eines Mechanismus der Sublimation und sogar der Unterdrückung religiöser Gefühle in Bezug auf den Berg fungierten. Die Fotografien lenkten die religiös-messianische Sehnsucht nach dem Tempelberg auf eine Befriedigung im militärisch-politischen Bereich, indem die strategisch-militärische Bedeutung seiner Annexion betont wurde, während zugleich die religiös-messianischen Gefühle, die hätten aufbrechen und die israelische Öffentlichkeit mit sich reißen können, eingedämmt wurden. Mit den Bemühungen von Militärs und Politiker*innen vermittelten die Fotografien die erwünschte visuelle Auffassung des Tempelbergs.

Seit den 1990er Jahren: Zersplitterung und Fragmentierung

Unsere Untersuchung der späteren Darstellungen des Tempelbergs im israelischen visuellen Raum führte zu dem Ergebnis, dass sich angesichts der Vielzahl der Abbildungen und Vielfalt der Repräsentationen des Tempelbergs auf den verschiedenen Plattformen in den 1990er Jahren – von Fotoshootings bis hin zu den Webseiten treuer Anhänger des Tempelbergs wie den Temple Mount Faithful – keine dominanten Modelle feststellen lassen. Dies deutet auf eine Zersplitterung und Fragmentierung in Israels Haltung gegenüber dem Tempelberg hin. Nach dem Krieg 1967 bestand ein Konsens sowohl unter national-religiösen als auch unter säkularen Israelis über Israels Blick auf den Tempelberg als militärisch-strategisches Kapital. Ende der 1980er Jahre gab es dann eine Reihe von einschneidenden Ereignissen, die auf eine Veränderung dieser Sichtweise hindeuten: 1987 gründete Rabbiner Yisrael Ariel das Temple Institute, das die Errichtung des Dritten Tempels durch Forschung, Praxis und Schaffung einer Infrastruktur sowie durch Sensibilisierung der Öffentlichkeit für den Tempelberg vorbereiten soll. Im Jahr 1990 veranstalteten die Temple Mount Faithful eine Zeremonie zur Grundsteinlegung für den Tempel, was das Thema stärker ins öffentliche Bewusstsein brachte. 1996 veröffentlichten die Rabbiner der Siedler*innen in den besetzten Gebieten einen offiziellen Aufruf, in dem sie ihre Anhänger*innen dazu aufforderten, auf den Tempelberg zu gehen; und die Ausgrabungen der Tunnel unter der Klagemauer wurden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In den Jahren 1998 und 1999 fanden zwei große Konferenzen über den Tempel im International Convention Center Jerusalem statt, die alle Organisationen zusammenbrachte, die sich darum bemühen, den Tempelberg stärker ins Bewusstsein der israelischen Gesellschaft zu heben.[13]

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Der damalige Oppositionsführer Ariel Scharon, umgeben von Leibwächtern und Polizisten, auf dem Tempelberg, September 2000. Foto: AP

Schließlich signalisierte der Besuch des Likud-Vorsitzenden Ariel Scharon, der damals in der Opposition war, auf dem Tempelberg im Jahr 2000, in Begleitung von sechs weiteren Knesset-Abgeordneten (und etwas 1.000 Polizisten), einen neuen Trend in der israelischen Haltung gegenüber der heiligen Stätte und löste eine weitere Welle palästinensischer Proteste auf, nämlich die Zweite Intifada. Seitdem ist die Zahl der religiös-zionistischen Gruppen angewachsen, die regelmäßig auf den Tempelberg gehen, um dort offen zu beten; und der Besuch hochrangiger Mitglieder der israelischen Regierung auf dem Tempelberg ist zu einem häufigen und einflussreichen Phänomen geworden.

Andere Zeiten

Abschließend möchten wir die Werke von zwei Fotografinnen zeigen, auf deren Fotografien der Tempelberg in den letzten Jahren zu sehen ist. Wir wollen daraus keine umfassenden Schlussfolgerungen über die hegemoniale Sicht oder die allgemeine Haltung der israelischen Öffentlichkeit zum Tempelberg zur Zeit der Aufnahmen ziehen. Im Gegenteil, angesichts der Zersplitterung, des mangelnden Zusammenhalts und der Fragmentierung während dieser Zeit sind wir der Auffassung, dass die Kraft dieser Fotografien gerade in dem von ihnen gebotenen besonderen persönlichen Blick liegt. Das erste Fotoserie stammt von der Fotografin Varda Polak Sam, einer jüdisch-deutschen Journalistin, die das Vertrauen des Waqf gewann und deshalb über neun Monate (1993/94) hinweg die Vergoldung der Kuppel des Felsendoms dokumentieren konnte, die von König Hussein von Jordanien finanziert wurde. Ein Album mit ihren Fotografien, von denen einige hier zu sehen sind, wurde König Hussein übergeben, der am 4. August 1994 in einem Festakt mit seinem Flugzeug über den Felsendom flog. Polak Sams Fotografien zeigen die engen Beziehungen, die zwischen ihr und den Frauen und den Kindern, die auf dem Gelände des Haram al-Scharif lernen, bestanden und sind Ausdruck von Vertrauen und Gegenseitigkeit. Trotz der Einzigartigkeit dieser Fotografien und obwohl sie an renommierten Orten der Welt gezeigt wurden, wurden sie nie in Israel ausgestellt.

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Abbau des Baugerüsts nach Renovierung und Vergoldung der Kuppel des Tempeldoms, 1994. Fotografin: Varda Polak Sam

Eine weitere Fotografin, deren Fotografien eine eingehende Untersuchung verdienten, was aber im Rahmen dieses Artikels nicht geleistet werden kann, ist Gali Tivon. Seit den 1990er Jahren begleitet Tivon im Rahmen ihrer fotografischen Studien religiöser Zeremonien die Aktivitäten der Tempel-Bewegung. Heute laden sie Mitglieder der Tempelbewegung regelmäßig zu Veranstaltungen ein, die zur Vorbereitung der Errichtung des Dritten Tempels dienen. Auch Tivons Fotografien zeigen Intimität, Nähe und Vertrauen zwischen ihr und den Menschen, die sie fotografiert hat.

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Israelische Polizisten vor dem Felsendom, 2009. Foto: Gali Tivon.
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„Pessach-Opferritual auf dem Ölberg während des Höhepunkts der Zweiten Intifada. Einige der Anwesenden sind auch heute Tempel-Aktivisten“, 2000. Foto: Gali Tivon
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Modell des jüdischen Tempels auf dem Dach eines Hauses in der Altstadt von Jerusalem, August 2009. Foto: Gali Tivon

Obwohl wir hier kein abschließendes drittes einheitliches Muster aufzeigen können, möchten wir dennoch hervorheben, dass der Blick dieser beiden Fotografinnen zwar nicht identisch ist, sich jedoch klar von dem Blick der vorherigen Fotografien abhebt. Die Geschlechterforscherin Orly Lubin unterscheidet zwischen zwei Arten von Blicken: der „hohe“ Blick – der hegemoniale, männliche, allwissende Blick, und der „niedrige“ Blick – der machtlose, weibliche, konkrete Blick. Ihres Erachtens beschreiben die beiden Arten von Blicken die Machtverhältnisse auf der Welt.[14] Während der Blick vom Olymp, wie der aus dem Cockpit eines Kampfjets, ein souveräner männlicher Blick ist, der die Menschen unten nicht sieht, ist der niedrige Blick, wie der von Varda Polak Sam und Gali Tivon, einer, der Verantwortung abverlangt, ein Blick, der die auf Augenhöhe befindlichen Menschen und das Leben dort nicht ignorieren kann.

Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin

Der vollständige Aufsatz erschien ursprünglich auf Hebräisch in dem Sammelband Hazan, Noa/Barak, Avital (Hrsg.): Der Tempel, die Kuppel und der Blick: Der Tempelberg in israelischer visueller Kultur, Tel Aviv 2017, unter: www.rosalux.org.il/publikationen/

Noa Hazan ist eine gegenwärtig in New York arbeitende israelische Kulturwissenschaftlerin, die über visuelle Kultur forscht. Sie veröffentlicht regelmäßig in wissenschaftlichen Zeitschriften und Büchern zu Themen über Rasse, Nationalismus, Fotografie und Museumsstudien.

Avital Barak forscht über Bewegung und Performance; sie ist Kuratorin und promoviert an der Schule für Kulturwissenschaften der Tel-Aviv-Universität. In ihrer Forschung konzentriert sie sich auf die Arten des Widerstands, die in Manifestationen von Bewegung im öffentlichen Raum sichtbar sind.

Weiterführende Links

Hillel Ben Sasson, Zwischen Zionismus, Messianismus und Nationalismus: der Tempelberg

Nir Hasson, Search Israelische Siedler*innen in Ost-Jerusalem: Ideologie, Archäologie und Immobilien

Anmerkungen

[1] Da wir hier ausschließlich Fotos analysieren, die sich in zionistischen Archiven befinden und die zionistische Sicht auf den Ort widerspiegeln, verwenden wir in diesem Artikel die Bezeichnung „Tempelberg“ (und nicht „Felsendom“ oder „al-Haram al-Scharif“ zum Beispiel).

[2] Die auf einer mathematischen Formel basierende Theorie des Goldenen Schnitts in der Kunst bezieht sich auf die Komposition eines Bilds, die Harmonie gewährleisten soll. Grob gesagt, entspricht jedes Bild, unabhängig von seinem Motiv, dem Goldenen Schnitt, wenn es von unten nach oben im Verhältnis von zwei Drittel zu einem Drittel geteilt wird. Tatsächlich wurde auch das Gebäude des Felsendoms nach den Proportionen des Goldenen Schnitts gebaut, der in der mittelalterlichen Architektur weithin akzeptiert war.

[3] Siehe z. B. Shiller, Eli/Levin, Menachem Levin: First Photographs of Eretz Israel: A Journey in the Footsteps of the Early Photographers, Jerusalem 1989 [Hebräisch]; Raz, Guy: Photos of the Land [of Israel]: From Early Photography until Today, Tel Aviv 2003 [Hebräisch]; Woodward, Michelle L.: Between Orientalist Clichés and Images of Modernization, in: „Types“. History of photography, 27:4 (2003), S. 363–374; Zeynep, Celik: Colonialism, Orientalism and the Canon, in: Art bulletin 78:2 (1996), S. 202–205; Perez, Nissan N.: Focus East: Early Photography in The Near East, 1839–1885, New York 1988; Onne, Eyal: Photographic Heritage of the Holy Land, 1839–1914 (Institute of Advanced Studies Manchester Polytechnic), Manchester 1980.

[4] Mulligan, Therese/Wooters, David: A History of Photography: From 1839 to the present. New York 2012.

[5] Erdogdu, Ayshe: The Victorian Market for Ottoman Types, in: History of Photography 23:3 (1999), S. 269–273.

[6] Studien mit einem ähnlichen Ansatz haben zum Beispiel John Barrell und Ann Bermingham vorgelegt. Sie stellten die englische Bewegung der Landschaftsmalerei in den Kontext der Einzäunung bis dahin öffentlicher landwirtschaftlicher Flächen und der Enteignung der Bauern in England, um die politischen und wirtschaftlichen Faktoren hinter den idealisierten und als angenehm und faszinierend pastoral präsentierten Landschaften aufzudecken; siehe Bermingham, Ann: Landscape and Ideology – The English Rustic Tradition, 1740–1860, Berkeley 1986.

[7] Für weitere Details in Bezug auf die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in Palästina siehe Bartal, Israel (Hrsg.): The Age of Moses: On Moses Montefiore and His Work, Jerusalem 1987 [Hebräisch].

[8] Nach der Teilung Jerusalems im Jahr 1948 wurde West-Jerusalem Israels Hauptstadt, in die nach und nach alle Regierungsinstitutionen zogen. Mit dem Bau von Institutionen wie der Knesset (das israelische Parlament), dem neuen Campus der Hebräischen Universität und dem Israel Museum im westlichen Teil der Stadt entstanden neue Sehenswürdigkeiten und Pilgerstätten, die religiöse Sehnsucht durch Nationalstolz ersetzen sollten.

[9] Perez, Nissan: Orientalism in French Photography in: Cathedra: For the History of Eretz Israel and Its Yishuv, Bd. 38, Dezember 1985, S. 81–88 u. 93–96.

[10] Auf anderen ähnlichen Fotos sitzen die Soldaten in Panzern oder gehen in geraden Reihen auf die Moschee zu. Auf allen Fotos werden die Figuren der Soldaten, die mit dem Rücken zur Kamera vor dem Tempelberg stehen und ihren Blick auf den Berg richten, besonders hervorgehoben.

[11] Dyer, Richard: White: Essays on Race and Culture, London 1997.

[12] Neuere akademische oder von unabhängigen Organisationen verfasste Studien zeigen den enormen Effekt den die archäologischen Ausgrabungen sowohl auf die physische Landschaft des Tempelberg-Gebiets als auch auf die Revision der Geschichte des Ortes hatten. Seit einigen gibt es überdies eine engere Beziehung zwischen der Israel Antiquities Authority, der staatlichen für professionelle Ausgrabungen und archäologische Stätten zuständigen Behörde, und rechten Organisationen, etwa der gemeinnützigen Organisation Elad, die Land und Häuser erwirbt und Gebiete einnimmt, die sich östlich des Tempelbergs befinden, zum Beispiel das Silwan-Viertel und das Kidrontal. Für weitere Details siehe die Berichte von Shaveh, Emek: The Temple Mount/Haram al-Sharif – Archaeology in a Political Context , Jerusalem 2017; Shaveh, Emek: Privatized Heritage: How the Antiquities Authority gives up on the history of Jerusalem, 2014 http://alt-arch.org [Hebräisch].

[13] An den Konferenzen, die einen offiziell-staatlichen Charakter hatten, nahmen Tausende von Menschen aus dem national-religiösen und national-ultraorthodoxen Mainstream teil, ebenso wie Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Politiker*innen. Die Organisation und Öffentlichkeitsarbeit der Konferenzen wurden mit öffentlichen Mitteln finanziert.

[14] Lubin, Orly: Space and Gaze, in: Halpern, Roni (Hrsg.): Where am I? Gender Perspectives on Space, Beit Berl 2013, S. 17–75 [Hebräisch).

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