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Zwischen LGBT-Feindlichkeit und Pinkwashing

Die Geschichte der LGBT-Bewegung in Israel

Dieser Artikel gibt einen kurzen Überblick über zentrale Ereignisse und Entwicklungen in der Geschichte der LGBT[1]-Bewegung in Israel. Die Darstellung beginnt bei LGBT-Leben im britischen Mandatsgebiet Palästina, das – wenn auch im Verborgenen – stattfand, trotz des gesetzlichen Verbots von Homosexualität durch die Mandatsherrschaft sowie der ablehnenden Haltung der zionistischen Bewegung, die in Homosexualität eine politische Bedrohung und eine aus fremden Kulturen stammende Krankheit sah. Diese Situation blieb auch nach der Staatsgründung Israels 1948 bestehen. Ab den 1960er-Jahren jedoch entwickelten sich Räume für die Community, die gegenseitige Unterstützung und Solidarität ermöglichten. Vor dem Hintergrund wachsender gesellschaftlicher Akzeptanz queerer Menschen in westlichen Ländern erlangte auch die LGBT-Community in Israel eine teilweise Anerkennung und begann, aus dem privaten Raum heraus in einen gemeinsamen öffentlichen Kampf zu treten.

Ein weiteres einschneidendes Ereignis der Bewegungsgeschichte war die Aufhebung des gesetzlichen Verbots homosexueller Beziehungen im Jahr 1988, die es LGBT-Menschen erleichterte, sich zu organisieren und für ihre Rechte zu kämpfen. Dieser Wandel ebnete den Weg für die „Pride-Revolution“ der 1990er-Jahre – ein Jahrzehnt tiefgreifender Veränderungen in der israelischen Community. Erklärt wird die „Pride Revolution“ unter anderem durch den Wunsch Israels, sich als Teil des Westens zu präsentieren, als auch durch die Fokussierung der LGBT-Kämpfe auf die Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe an den für die israelische Identität konstitutiven Institutionen - der Familie und dem Militär. Mit der Festigung ihres gesellschaftlichen Status begann die LGBT-Community zunehmend auch als Feigenblatt zu dienen, das es Israel ermöglichte, sich als aufgeklärte Demokratie darzustellen und die Realität der anhaltenden gewalttätigen Besatzung zu verschleiern.

Der Artikel schließt mit den Ereignissen rund um die Protestwelle des Jahres 2023, die im Zuge des Aufstiegs einer ultrarechten, nationalistisch-rassistischen Regierung begann. Sowohl die offen feindliche Haltung der neuen Regierung gegenüber queeren Menschen als auch ihre Bemühungen, das Justizsystem zu schwächen, führten zu einer erneuten Politisierung der Community und brachten viele queere Personen an die vorderste Front des öffentlichen Protests. Die prominente Rolle der LGBT-Community im Widerstand gegen den autoritären Staatsumbau machte zugleich die Grenzen ihrer liberalen Politik sichtbar: Im Namen des Kampfes um ihre Rechte stellte sie sich hinter ein politisches System, das sich zwar über die Jahre hinweg schützend vor LGBT-Rechte gestellt hatte, zugleich aber eine zentrale Rolle dabei spielte, dem israelischen Besatzungsregime einen demokratischen Anstrich zu verleihen.

Die Illusion, man könne die Besatzung ignorieren und die Palästinenser*innen hinter Sperranlagen und Checkpoints verbergen, zerbrach auf entsetzliche Weise durch das von der Terrororganisation Hamas angeführte Massaker vom 7. Oktober 2023. Die folgende Übersicht der LGBT-Geschichte des Landes wurde kurz vor dem 7. Oktober verfasst, ihre Veröffentlichung wurde jedoch seitdem aufgrund des Ausbruchs des Krieges und des Vernichtungsfeldzugs, den Israel in Gaza führt, aufgeschoben. Fast zwei Jahre sind seitdem vergangen, und – wie stets in Kriegszeiten – sind Nationalismus und Rassismus erstarkt und gemeinsam mit ihnen auch die Feindschaft gegenüber queeren (insbesondere trans) Personen. Viele LGBT-Personen, die zuvor Teil des Widerstands gegen die extremistische Regierung Benjamin Netanjahus waren, schlossen sich nach dem 7. Oktober dem Vernichtungskrieg dieser Regierung an und bemühten sich, ihre Loyalität gegenüber einem Staat zu beweisen, der sie unterdrückt und ausgrenzt. Die aktuelle Lage lädt dazu ein, die folgende Chronik mit einem nüchternen Blick zu betrachten: nicht als lineare Erfolgsgeschichte, sondern als komplizierten Prozess der Anerkennung, der mit dem Preis der Mitwirkung bei der Unterdrückung sowie der Anpassung an die bestehende Ordnung einherging.

Bis 1948: Verstecktes LGBT-Leben im Mandatsgebiet Palästina

Im Mandatsgebiet Palästina galt britisches Recht, das sexuelle Beziehungen „wider der Natur“ verbot. Doch gerade die koloniale Realität bot reichlich Möglichkeiten für die heimliche Existenz von queerem Leben – sei es im kosmopolitischen Jerusalem, das als Treffpunkt für Menschen unterschiedlichster Nationalitäten diente, oder entlang der Küste von Tel Aviv, nahe Militärlagern und Clubs britischer Soldaten. Im sogenannten „neuen Jischuw“, dem zionistisch-jüdischen Gemeinwesen vor der Staatsgründung Israels, wurde der Umgang mit Briten und Arabern mit Argwohn betrachtet: Dessen Führung behandelte Homosexualität als eine Krankheit mit Ursprung in der arabischen oder europäischen Kultur; und die Hagana führte Listen mit Personen, die verdächtigt wurden, homosexuell zu sein und deswegen als soziale und nationale Bedrohung galten.

Trotz gesetzlicher und sozialer Repression gab es – im Verborgenen und an den Randzonen der großen Städte – LGBT-Leben. Ein zentraler Ort für schwules Cruising war ein Strandabschnitt im Norden Tel Avivs, der „Ha-Schtrich“ („der Strich“) genannt wurde. Die Verwendung des deutschen Wortes weist auf die zentrale Stellung der deutschsprachigen Einwander*innen in der damaligen LGBT-Community hin: Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme flohen viele Juden*Jüdinnen in den 30er-Jahren aus Deutschland nach Palästina. Die Queers unter ihnen hatten zuvor in der Weimarer Republik eine blühende queere Kultur genossen und kämpften nun in einem rauen, fremden Land um ihre Existenz.

Ein exemplarischer Fall einer solch entwurzelten Lebensgeschichte ist der von Franz Goldstein: Er wurde 1898 in Kattowitz geboren, das damals zu Preußen gehörte; war Redakteur des Kulturressorts einer Lokalzeitung und gehörte zum Freundeskreis des schwulen Schriftstellers Klaus Mann. 1937 wurde Goldstein aus Kattowitz vertrieben; später emigrierte er notgedrungen nach Palästina. Er lebte in Jerusalem, arbeitete als Kulturkritiker für englisch- und deutschsprachige Zeitungen und hatte Schwierigkeiten, seinen Platz in der zionistischen Gesellschaft zu finden. „Die vorherrschende Haltung hier ist Unverständnis gegenüber Menschen meiner Art“, schrieb er an Mann. Sein Zustand verschlechterte sich, bis er in den 1960er-Jahren in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen wurde, in der er bis zu seinem Tod im Jahre 1982 blieb.

Unter den LGBT-Menschen, die unter ähnlichen Umständen aus Deutschland ins Land flohen, war auch die Person, die sich der weltweit ersten dokumentierten geschlechtsangleichenden Operation unterzogen hatte – Karl M. Baer. Baer wurde 1885 in Arolsen geboren, wuchs als Mädchen auf und durchlief im Alter von 21 Jahren eine Geschlechtsanpassung bei Dr. Magnus Hirschfeld, einem Pionier im Kampf für LGBT-Rechte. Später veröffentlichte Baer unter einem Pseudonym die Autobiografie „Aus eines Mannes Mädchenjahren“, die großen Erfolg hatte und in zwei Stummfilmen adaptiert wurde. Er war zudem in der jüdischen Gemeinde Berlins aktiv. Auch Baer musste nach der nationalsozialistischen Machtübernahme fliehen: 1938, nachdem er von den Nazis verhaftet und gefoltert worden war, emigrierte er mit seiner Frau nach Palästina und lebte bis zu seinem Tod 1956 in völliger Anonymität in der israelischen Stadt Bat Yam. Erst Jahrzehnte später wurde seine Geschichte wiederentdeckt und ging in die lokale LGBT-Geschichtsschreibung ein.

1949-1959: Leben außerhalb des Gesetzes im neuen Staat

Mit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 wurden Teile der britischen Gesetzgebung in das israelische Rechtssystem übernommen, darunter auch das Verbot des homosexuellen Geschlechtsverkehrs. Im entsprechenden Paragrafen, der mit geringfügigen Änderungen bis 1988 in Kraft war, wurden „a.) derjenige, der auf widernatürliche Weise mit einem Menschen verkehrt“ und „b.) derjenige, der mit einem Tier verkehrt“ in direkten Zusammenhang gesetzt und jeweils mit einer hohen Gefängnisstrafe von zehn Jahren belegt. Auch wenn sich der Paragraf der Formulierung nach nur auf bestimmte sexuelle Praktiken unabhängig von Geschlecht bezog, wurde er im juristischen und öffentlichen Diskurs als auf gleichgeschlechtliche Beziehungen gerichtet verstanden – und trug so wesentlich zur Konstruktion von Homosexualität als gefährlicher Abweichung bei.

Mitte der 1950er-Jahre ordnete der damalige Generalstaatsanwalt Chaim Cohn an, von Ermittlungen und Strafverfolgung auf Grundlage dieses Paragrafen abzusehen, abgesehen von Fällen, die Handlungen mit Minderjährigen, unter Zwang und an öffentlichen Orten betrafen. Das Gesetz diente jedoch weiterhin als Instrument der Einschüchterung und der Kontrolle: Die Polizei nutzte es, um schwule und bisexuelle Männer an ihren Treffpunkten zu schikanieren, und allein das Bestehen des gesetzlichen Verbots nahm LGBT-Menschen die Möglichkeit, sich zu organisieren und öffentlich für ihre Rechte zu kämpfen.

Die breite Öffentlichkeit nahm in dieser Zeit von der Existenz queerer Menschen vor allem durch Zeitungsberichte über Männer Notiz, die unter Verdacht standen, die verbotene „Sodomie“ begangen zu haben. Lesbische Frauen wurden völlig ignoriert – abgesehen von den wenigen Fällen, in denen ein literarisches oder filmisches Werk mit einer lesbischen Protagonistin in hebräischer Übersetzung in Israel veröffentlicht wurde. Ein prominentes Beispiel dafür ist Radclyffe Halls Roman „The Well of Loneliness“ (dt. „Quell der Einsamkeit“), der 1953 ins Hebräische übersetzt wurde. In der Werbung wurde das Buch als Einblick in „das Leben einer lesbischen Frau“ vermarktet, in der Hoffnung, dass die sensationsheischende Beschreibung den Verkauf ankurbeln würde  und das mit Erfolg. Die Tatsache jedoch, dass es sich bei diesen Werken um ausländische Werke handelte, ermöglichte es der Öffentlichkeit weiterhin, Lesbischsein als ein in Israel nicht existentes Phänomen zu betrachten. So war in der rechtsliberalen Zeitung HaBoker in der Rezension über „The Well of Loneliness“ zu lesen: „Das Problem der lesbischen Frauen ist in unserem Land nicht bekannt; wir hören jedenfalls nichts über dergleichen, wie wir es oft von den anderen abnormalen Phänomenen der menschlichen Psyche tun.“

Über das Leben von trans Personen in jenen Jahren weiß man sehr wenig. Eine Ausnahme ist die Geschichte von Rina Natan: Sie war die erste Frau, die sich in Israel einer geschlechtsangleichenden Operation unterzog. Natan wurde 1923 in Deutschland als männlich registrierte Person geboren. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs migrierte Rina Natan in das Mandatsgebiet Palästina. Ihr Kampf um die Erlaubnis, eine Geschlechtsanpassung vornehmen zu lassen, war Gegenstand ausführlicher Berichterstattung in der israelischen Presse. Da sich die Behörden beharrlich weigerten, ihrem Antrag stattzugeben, begann Natan, sich selbst körperliche Verletzungen zuzufügen. Im Jahr 1956 kam sie mit einer lebensgefährlichen Verletzung ihres Geschlechtsorgans ins Krankenhaus und zwang die Ärzt*innen so dazu, sie zu operieren. Zwei Jahre später kehrte sie nach Deutschland zurück und lebte dort bis zu ihrem Tod im Jahr 1979. Rina Natans Geschichte macht die tiefe Isolation deutlich, in der trans Personen in jener Zeit lebten – in völliger Abwesenheit einer sie unterstützenden medizinischen, rechtlichen oder gemeinschaftlichen Infrastruktur.

1960-1969: Die Herausbildung von LGBT-Gemeinschaftsräumen

Im Gegensatz zu den zuvor genannten Menschen, die isoliert um ihre bloße Existenz kämpfen mussten, entwickelten sich ab den 1960er-Jahren LGBT-Gemeinschaftsräume, die gegenseitige Unterstützung und Community-Building ermöglichten. Das Zentrum dieser Aktivitäten lag in Tel Aviv: Zu dem langjährigen Cruising-Ort an der Strandpromenade kamen Treffpunkte in Bars in der naheliegenden HaYarkon-Straße und Partys in privaten Wohnungen hinzu. Kleinere Communities gab es auch in Haifa, Jerusalem und Be’er Scheva, wo sich die Hauptaktivität jedoch weiterhin auf Cruising in öffentlichen Grünanlagen beschränkte.

Durch den neuen Charakter der Community veränderte sich auch ihre mediale Darstellung: LGBT-Lebensweisen wurden nun als lokales, wenn auch marginales Phänomen dargestellt, und die bisher dominante Kriminalisierungsrhetorik wurde durch einen pseudosoziologischen Voyeurismus ersetzt. Beispielsweise veröffentlichte die Boulevardzeitung HaOlam HaZe (dt. „Diese Welt“) im Jahr 1960 anlässlich der Publikation des ersten hebräischsprachigen queeren Romans  „HaDavka’im“ (dt. „Die Aufmüpfigen“) von Rina Ben-Menahem  einen Artikel über „das lesbische Problem in Israel“. Wie schon während der Mandatszeit wurde auch jetzt noch behauptet, es handele sich um ein aus Europa importiertes soziales „Problem“. Der Artikel thematisierte jedoch auch soziale und psychologische Aspekte lesbischer Identität und zitierte eine Lesbe, die erklärte: „Wir sind normal – vielleicht sogar normaler als andere Menschen“.

Zwei Jahre später veröffentlichte dieselbe Boulevardzeitung einen ausführlichen Bericht über Homosexuelle, die darin als „etablierte, gut organisierte, geheime Untergrundbewegung“ beschrieben wurden. Zwar war dem Artikel ein zusammenhangsloser Bericht über zwei Männer beigefügt, die wegen des Verdachts sexueller Übergriffe auf Jungen verhaftet worden waren, und dennoch bezeichnete die Zeitschrift das gesetzliche Verbot von Homosexualität als „puritanisch“ und äußerte sich schwulen Personen gegenüber mit einer gewissen Sympathie. Erwähnenswert ist, dass der erste Versuch, das gesetzliche Verbot von Homosexualität aufzuheben, im Jahr 1971 unternommen wurde – durch niemand anderen als den damaligen Herausgeber dieser Boulevardzeitung, Uri Avnery, der später Knesset-Abgeordneter und linker Aktivist wurde.

Die 1960er-Jahre waren auch für die Entwicklung der trans Community von großer Bedeutung. In den Jahren 1964–1965 trat die französische trans Sängerin Jacqueline Charlotte Dufresnoy, bekannt unter dem Künstler*innennamen „Coccinelle“ (frz. „Marienkäfer“), mehrfach mit der Dragband „Le Carrousel“ in Israel auf. Ihre erfolgreichen Auftritte wurden ausführlich in der israelischen Presse besprochen, und ihr Einfluss auf die israelische Kultur zeigt sich nicht zuletzt daran, dass „Coccinelle“ bis heute als abwertender Begriff für trans Frauen und schwule Männer gebräuchlich ist. Viele Pionier*innen der trans Community in Israel beschreiben Coccinelles Auftritte als einen Moment der Selbsterkenntnis und Radikalisierung: Dufresnoy und ihre Bandmitglieder boten nicht nur indirekt Inspiration, sondern vermittelten auch direkt konkretes Wissen über den körperlichen Transitionsprozess. Zudem schufen sie eine Nachfrage für Drag-Shows in der israelischen Barszene, was den lokalen trans Frauen die Möglichkeit gab, mit weiblicher Gender-Performance zu experimentieren. Viele dieser Frauen wanderten später nach Europa aus, wo sie Zugang zu geschlechtsangleichenden Behandlungen hatten – Behandlungen, die in Israel erst 1986 offiziell in einem staatlichen Verfahren geregelt wurden.

1970-1979: Erste Ansätze politischer, community-basierter Organisation

Vor dem Hintergrund von Liberalisierungsprozessen und zunehmender gesellschaftlicher Akzeptanz von queeren Personen in Westeuropa und den USA begann in den 1970er-Jahren auch die Community in Israel allmählich an Legitimität zu gewinnen. Israelische Queers verließen zunehmend die privaten Räume und begannen, sich politisch zu organisieren und gemeinsam zu kämpfen. Im Jahr 1975 wurde die erste LGBT-Organisation gegründet, die heute „Der Verband für LGBT-Menschen in Israel“ (Hebr. Kurzform: HaAguda) heißt. Bis 1999 hieß die Organisation jedoch „Der Verband zum Schutz der Rechte des Einzelnen“ – die Gründer*innen erklärten später, sie hätten diesen Namen gewählt, da sie befürchteten, die Vereinsregisterbehörde würde eine gegen das Gesetz verstoßende Organisation nicht zulassen (mit Blick auf den Strafrechtsparagrafen, der dahingehend verstanden wurde, Homosexualität zu verbieten).

Einige der Gründer*innen von HaAguda waren der Meinung, man solle sich vor allem auf Aktivitäten innerhalb der Community konzentrieren. Sie nahmen an, dass es keine Aussicht auf eine Gesetzesänderung gebe und ein öffentlicher Kampf dem ohnehin fragilen gesellschaftlichen Status der Community nur schaden würde. Deshalb kombinierte HaAguda zu Beginn ihres Wirkens politische Arbeit mit gesellschaftlichen Veranstaltungen: Die Mitglieder des Verbands trafen sich sowohl mit dem damaligen Generalstaatsanwalt der Regierung, Aharon Barak, um ihn von der Notwendigkeit einer Gesetzesänderung zu überzeugen, als auch mit Polizeioffizier*innen, um über die Polizeigewalt gegen die Community zu sprechen. Zudem organisierten sie Ausflüge, Partys sowie die erste öffentliche Pride-Veranstaltung in Israel, die 1977 in Tel Aviv mit mehreren Dutzend Teilnehmenden stattfand.

Die 1970er-Jahre brachten auch eine bedeutende Entwicklung in der Organisation lesbischer und bisexueller Frauen mit sich. Unter den 13 Gründungsmitgliedern der HaAguda befand sich nur eine Frau, doch innerhalb eines Jahres schlossen sich Dutzende weitere Frauen an und begannen, eigene Veranstaltungen zu organisieren. Viele Lesben waren schon vorher in feministischen Organisationen aktiv, doch nach außen hin gaben sich diese Organisationen als absolut „straight“ und scheuten jede Identifikation mit lesbischer Identität. Das änderte sich schlagartig, als sich auf einer feministischen Konferenz im Jahr 1976 eine Teilnehmerin nach der anderen in öffentlichen Erklärungen als lesbisch outete. Das neue Gemeinschaftsgefühl führte 1978 zur Gründung der ersten Lesbenorganisation, der „Assoziation Lesbischer Feminismus“ (ALeF), die etwa eineinhalb Jahre lang bestand.

Die ersten Ansätze einer community-basierten Organisierung zeigten sich auch bei der ersten LGBT-Demonstration in Israel im Jahr 1979. Anlass für den Protest war die Entscheidung eines Kibbuz-Hotels bei Jerusalem gewesen, die Buchungen für Gäste einer jüdisch-amerikanischen LGBT-Konferenz zu stornieren, nachdem das Rabbinat damit gedroht hatte, dem Hotel seine Koscher-Zertifizierung zu entziehen. Daraufhin organisierten HaAguda und ALeF eine Demonstration auf dem Malchei-Israel-Platz (heute Rabin-Platz) in Tel Aviv, um „für die Veränderung der gesellschaftlichen Haltung“ zu protestieren. Die Demonstrierenden – wenige Israelis, mehrheitlich Amerikaner*innen – liefen vor neugierigen oder feindseligen Passant*innen im Kreis über den Platz und trugen Schilder mit Aufschriften wie „Unser Recht auf Organisation“ und „Schafft das Gesetz gegen homosexuelle Beziehungen ab“. Die Demonstration verdeutlichte die fortschreitende Festigung und Politisierung der lokalen Community in jenen Jahren – auch wenn sie sich noch tief in the closet befand.

1980-1989: Ausweitung der Organisierung und Beginn des liberal-juristischen Kampfes

Anfang der 1980er-Jahre konzentrierte sich der Verband für LGBT-Menschen in Israel aufgrund der wenigen Aktivist*innen und der Angst vor öffentlichen Anfeindungen auf den Aufbau innergemeinschaftlicher Solidarität, unter anderem durch die Gründung von Selbsthilfegruppen sowie die Organisation von Konferenzen und Partys. Ziel war es, über die sozialen Veranstaltungen mehr Mitglieder zu gewinnen und, sobald genügend Menschen sozialisiert und politisiert wären, in den öffentlichen Kampf zu treten. Der Erfolg der Partys führte private Unternehmer*innen auf den Plan, das queere Nachtleben in Tel Aviv blühte auf und durch die wachsende Klubszene und die Aktivitäten der Organisationen formierte sich eine stetig wachsende LGBT-Community.

Auch in der israelischen Kulturszene wurden queere Menschen zunehmend sichtbar. Einer der prominenten Kulturschaffenden zu dieser Zeit war Amos Guttman, dessen Film „Drifting“ (hebräischer Titel: „Nagu’a“) aus dem Jahr 1983 der erste Spielfilm eines offen schwulen Filmemachers in Israel war. Die Filme Guttmans, der 1993 an Aids verstarb, thematisieren schwules Leben auf ehrliche und kompromisslose Weise und rücken Figuren ins Zentrum, die am Rande der Gesellschaft stehen. „Wenn du unbedingt einen schwulen Helden brauchst, dann lass ihn wenigstens leiden“, sagt die Hauptfigur des Films „Drifting“ mit einem sarkastischen Verweis auf die schwulenfeindlichen Stereotype in der israelischen Filmlandschaft.

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Auschnitt aus dem Film „Drifting“ von Amos Gutman, 1983.  

Allmählich begann die Figur des tragischen homosexuellen Außenseiters, die im Mittelpunkt der Filme Guttmans steht, der Vergangenheit anzugehören; an die Stelle individueller Überlebenskämpfe traten organisierte Kämpfe in der liberal-juristischen Arena. Ein maßgeblicher Wendepunkt kam im März 1988 mit der Streichung des Gesetzesparagrafen, der homosexuelle Handlungen verbot. In den Jahren zuvor hatte es mehrere erfolglose Versuche gegeben, den Paragrafen abzuschaffen. Auch dieses Mal wurde der Antrag nur dank eines parlamentarischen Tricks angenommen: Die Änderung wurde als Teil einer umfassenden Reform des Sexualstrafrechts eingebracht, und die Knesset-Abgeordnete Shulamit Aloni (von der linken Ratz-Partei) und ihre politischen Partner*innen spielten die Streichung des Paragrafen im Gesamtpaket der Reform bewusst herunter, um den religiösen Knesset-Abgeordneten die Zustimmung zu ermöglichen.

Die Aufhebung des Verbots führte zu einer regelrechten Revolution der Möglichkeiten von LGBT-bezogener Politik. Die Gesetzesänderung, die zuvor als unerreichbar galt, gab den Aktivist*innen der Community neue Energie, und der neu errungene rechtliche Status hatte erheblichen Einfluss auf ihre Möglichkeiten zur politischen Organisierung: In der Folge begann HaAguda auf juristischer Ebene mit Menschenrechtsorganisationen und progressiven Knesset-Abgeordneten zusammenzuarbeiten. 1989 reichte Jonathan Danilowitz, Flugbegleiter und einer der ersten Schwulenaktivisten in Israel, eine bahnbrechende Klage gegen die Fluggesellschaft El Al ein  wegen Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung, da seinem Partner die Vergünstigungen verwehrt wurden, die Ehepartner*innen heterosexueller Flugbegleiter*innen erhalten. Das Arbeitsgericht entschied zu seinen Gunsten, und der Fall ging bis vor den Obersten Gerichtshof. Dieser entschied im Jahr 1994 endgültig, dass es Arbeitgeber*innen nicht gestattet ist, gleichgeschlechtliche Paare bei Mitarbeiter*innenvergünstigungen zu benachteiligen.

Die Auswirkungen des Urteils reichten weit über den konkreten Fall hinaus: Es ebnete den Weg für die Anerkennung der Gleichberechtigung von LGBT-Personen und für die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare in Israel. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Schwule vor Gericht nur als Angeklagte in Sexualstrafverfahren in Erscheinung getreten; doch nun war der Weg frei für die „Pride Revolution“ der 1990er-Jahre, die sich zu großen Teilen in Gerichtssälen abspielte. Die erfolgreiche Behauptung in der juristischen Arena markierte einen wesentlichen Wandel in der Politik der queeren Community – von einem Kampf um Existenz und Anerkennung hin zu einer Politik der Normalisierung und Anpassung.

1990-1999: Die Pride-Revolution – Fortschritt durch den Obersten Gerichtshof und Akzeptanz durch Assimilation

Die 1990er-Jahre waren ein Jahrzehnt tiefgreifender Veränderungen sowohl im Hinblick auf den rechtlichen Status als auch auf die öffentliche Wahrnehmung der LGBT-Community in Israel. Für das Zustandekommen der „Pride-Revolution“ in jenen Jahren werden gemeinhin drei mögliche Erklärungen genannt: Erstens der Einfluss der wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz queerer Menschen in den USA und Europa sowie Israels Bestreben, sich als Bastion westlicher Aufklärung im „dunklen“ Nahen Osten zu präsentieren. Zweitens die beschleunigte Neoliberalisierung, die Israel in den 1980er-Jahren durchlief und die das Land in eine Konsumgesellschaft verwandelte, in welcher die wirtschaftliche Macht der queeren Community (insbesondere die der schwulen Männer) zur Toleranzbereitschaft beitrug. Drittens das Besatzungsregime und das Gefühl eines dauerhaften Kriegszustands, das einen unerschöpflichen Bedarf an Soldat*innen für Kriege sowie an Müttern zur Folge hatte, die zugunsten des demografischen Wettstreits mit den Palästinenser*innen Kinder gebären sollten. Dieser Bedarf öffnete für queere Menschen eine „Schnellspur“ auf dem Weg zur Akzeptanz: Durch ihre juristischen Kämpfe um das Recht, Soldat*innen sowie Eltern sein zu dürfen, wurden sie in jenen Jahren mehr und mehr in den warmen Schoß der „israelischen Identität“ aufgenommen.

Das Jahr 1998  auch das „Jahr der Pride-Revolution“ genannt gilt als Meilenstein, in dem sich der im Laufe des Jahrzehnts vollzogene Wandel endgültig verfestigte. Ein besonders wichtiges Ereignis war hierbei Israels Sieg beim Eurovision Song Contest mit dem von Dana International gesungenen Lied „Diva“, das der breiten Öffentlichkeit eine nicht-normative, selbstbewusste trans Mizrachi-Identität präsentierte. In der Nacht, in der Dana den Eurovision Song Contest gewann, strömten unzählige israelische Queers in einem spontanen Ausbruch der Freude zum Rabin-Platz in Tel Aviv, feierten und schwangen Regenbogenfahnen. Dieser Moment veränderte etwas im kollektiven Bewusstsein der Community: Die Ära des Versteckens war vorbei, eine neue, optimistische Realität hatte begonnen.

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Polizisten mit Handschuhen bei Zusammenstößen beim jährlichen Wigstock Festival, 1998

Die Wirkung der Eurovision-Nacht zeigte sich in den Wigstock-Ereignissen von 1998 in Tel Aviv, die auch „das israelische Stonewall“ genannt werden. Wigstock ist ein Drag-Festival, das seinen Ursprung in den USA hat und als Benefizveranstaltung für den Kampf gegen Aids dient. Wenige Wochen nach Danas Sieg fand an einem Freitag das alljährliche Wigstock-Festival in Israel statt – die Polizei aber brach die Veranstaltung mit der Begründung, sie entweihe den Schabbat und störe die Anwohner*innen, ab. Doch statt sich panisch zu zerstreuen, weigerten sich dieses Mal Hunderte Teilnehmende, die Veranstaltung zu verlassen, blockierten die Straßen und gerieten mit Einsatzkräften aneinander. Aus Angst, sich bei den Anwesenden mit Aids zu infizieren, trugen einige Polizist*innen bei den Zusammenstößen Gummihandschuhe. Die anschließend in den Medien veröffentlichten Fotos der gummibehandschuhten Polizist*innen wurden zum Symbol der institutionalisierten Schwulenfeindlichkeit in der israelischen Gesellschaft.

Kränkung und Wut kanalisierten sich in diesen Wochen in revolutionäre Energie. Bestärkt durch den Sieg beim Eurovision Song Contest und die Wigstock-Ereignisse erreichte die Politisierung der Community bei der Pride-Parade im Juni 1998 einen weiteren Höhepunkt. Erstmals war dies eine LGBT-Veranstaltung in Israel, die die Bedeutung von queerer Sichtbarkeit betonte und deren Teilnehmer*innen offen die Freude am queeren Leben feierten – ein Gedanke, der im israelischen Mainstream bis dahin fast unvorstellbar gewesen war.

2000-heute: Einzug in den Mainstream, Identitätspolitik und Identifikationspolitik

Im Zuge revolutionärer Änderungen grundlegender Gesetze in den 1990er-Jahren, in deren Rahmen die gerichtlichen Kontrollbefugnisse gegenüber Knessetgesetzen erweitert und grundlegende Gesetze in Bezug auf Menschenrechte erlassen wurden, entwickelten sich die Gerichte in den folgenden Jahrzehnten zum zentralen Handlungsfeld des Kampfes um LGBT-Rechte. Je stärker die rechten und religiösen Kräfte in Politik und Gesellschaft wurden, desto mehr verließ sich die Community bei der Durchsetzung ihrer Rechte auf das liberale Justizsystem.

Unter anderem gewährten die Gerichte in diesen Jahren in einer Reihe von Urteilen gleichgeschlechtlichen Paaren den Status einer eheähnlichen, eingetragenen Lebenspartnerschaft sowie die Anerkennung gemeinsamer Elternschaft, obwohl das bis zum heutigen Tag geltende Recht keine gleichgeschlechtlichen Ehen zulässt und nur religiöse Gerichte befugt sind, Trauungen vorzunehmen. Paradoxerweise trug gerade das Monopol der religiösen Gerichte auf dem Gebiet der Personenstandsangelegenheiten zu dem schnellen Erfolg der Kämpfe gleichgeschlechtlicher Paare bei, denn heterosexuelle Paare, die nicht beim Rabbinat heiraten konnten, hatten schon zuvor die gesetzliche Anerkennung von Partnerschaften ohne Trauschein erwirkt. Darüber hinaus festigten die Gerichte unter anderem das Verbot von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung in verschiedenen Bereichen, stärkten die Rechte von queeren Arbeitnehmer*innen und vieles mehr.

Mit der wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz wurde die Politik der Community zunehmend weniger oppositionell. Statt die Grenzen des heterosexuellen, zionistischen Mainstreams infrage zu stellen, betonten die Community-Organisationen den Beitrag queerer Menschen zum Kollektiv – als Beweis, die Aufnahme darin verdient zu haben. Sorgfältig wurde darauf geachtet, ein unpolitisches Image zu bewahren. Die Kämpfe konzentrierten sich auf Themen, die nur Mitglieder der Community betrafen – wie die Anerkennung nichtbiologischer Elternschaft, Zugang zu Leihmutterschaft für Schwule, Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare sowie Proteste gegen queerfeindliche Äußerungen von Personen des öffentlichen Lebens.

Als Gegenpol dazu entwickelte sich Anfang des 21. Jahrhunderts in Israel eine radikale queere Politik, die sich unter anderem durch das Unterlaufen hegemonialer Normen und die Verbindung verschiedener Kämpfe auszeichnete – insbesondere des Kampfes um queere Rechte mit dem Widerstand gegen die Besatzung. Diese Politik wurde insbesondere durch die queere Aktionsgruppe „Kvisa Schchora“ (dt. „Schwarze Wäsche“) vorangetrieben, die im Jahr 2001 gegründet wurde und LGBT-Politik mit radikalen linken Forderungen verband. Vor dem Hintergrund der Zweiten Intifada marschierten Mitglieder der Gruppe bei der Pride-Parade 2001 unter dem Motto „There is no Pride in Occupation“ mit. In den folgenden Jahren machte Kvisa Schchora auf unterschiedliche Weise auf den Zusammenhang zwischen den Mechanismen nationaler, klassenbasierter und sexueller Unterdrückung aufmerksam. Die Gruppe brachte nicht nur radikale Inhalte in die queeren Kämpfe ein, sondern machte zugleich auch sexuelle und genderbezogene Themen innerhalb linker Proteste sichtbar. Statt lediglich die eigenen, identitätsbedingten Interessen zu vertreten, verband die Politik von Kvisa Schchora die marginalisierte Identität ihrer Mitglieder mit den Kämpfen anderer unterdrückter Gruppen. Kvisa Schchora war nur wenige Jahre lang aktiv, ihr Einfluss auf den Mainstream der Community blieb gering – doch die von ihr geprägten Formen des Aktivismus und des Diskurses sind bis heute in unterschiedlicher Gestalt präsent.

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Blackwashing-Demonstration bei der Pride Parade, 2002.  

Der bedeutendste Trend in diesen Jahren war jedoch die Identitätspolitik, die sich in der Gründung separater Organisationen marginalisierter Gruppen innerhalb der Community widerspiegelte – darunter eigene Gruppen für Palästinenser*innen, mizrachische Juden*Jüdinnen, religiöse sowie trans Personen. Palästinensische LGBT-Gruppen organisierten sich erstmals während der Zweiten Intifada – ein Wendepunkt, der junge palästinensische Staatsbürger*innen Israels aus der LGBT-Community dazu veranlasste, ihre Identität neu zu bestimmen und der den Widerspruch zwischen ihrer Zugehörigkeit zur israelischen LGBT-Community und dem gleichzeitigen Homonationalismus eben dieser Community deutlich machte. Dieser Homonationalismus äußert sich in der zynischen Instrumentalisierung von LGBT-Rechten durch den israelischen Staat, um sogenanntes „Pinkwashing“ zu betreiben – eine Propagandaform, in der Israel als aufgeklärte Demokratie dargestellt wird, um die Ungerechtigkeiten der Besatzung zu verschleiern.

Die erste palästinensische LGBT-Organisation war al-Qaws, die im Jahr 2001 als Projekt des „Open House“ in Jerusalem gegründet wurde und ab 2007 als selbstständige Organisation agierte. Im Jahr 2003 entstand zudem die queerfeministische Organisation Aswat für Palästinenserinnen in Haifa. Die palästinensische queere Bewegung engagiert sich sowohl gegen die patriarchale palästinensische Kultur, die LGBT-Personen in ihren eigenen Reihen unterdrückt, als auch gegen den israelischen Kolonialismus, der den Palästinenser*innen ihre Freiheit verwehrt. In diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, dass Israel sich zwar mit seiner Haltung gegenüber der queeren Community rühmt, zugleich aber nicht davor zurückschreckt, die verletzliche Position queerer Palästinenser*innen auszunutzen: Im Jahr 2014 wurde bekannt, dass der israelische Inlandsgeheimdienst Schin Bet routinemäßig die Gespräche von Palästinenser*innen abhört, gezielt nach Hinweisen auf eine queere Identität der Sprechenden sucht und dann droht, sie zu outen, falls sie keine Kollaborateur*innen werden. Trotz des öffentlichen Aufschreis, den die Aufdeckung dieser schrecklichen Praxis auslöste, besteht sie offenbar bis heute fort.

Eine weitere marginalisierte Gruppe, die in diesen Jahren begann, eigene Zusammenschlüsse zu bilden, war die trans Community. Bis vor einem Jahrzehnt mangelte es selbst in der LGBT-Community noch erheblich an Bewusstsein für das Leben und die Bedürfnisse von trans Menschen. Aus der Einsicht heraus, dass trans Personen einander besser als außenstehende Stellen helfen und sich gegenseitig solidarisch unterstützen können, gründeten sich 2011 das Gila-Projekt für trans Empowerment und 2014 die Organisation Ma’avarim – Israeli Trans Community. Die Situation der trans Bevölkerung in Israel hat sich seitdem verbessert, sie gehört jedoch weiterhin zu den am stärksten marginalisierten und ausgegrenzten Gruppen des Landes. Unter anderem verbieten die bestehenden Antidiskriminierungsgesetze – auch wenn sie Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung untersagen – nicht die Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität, sodass trans Menschen überproportional häufig von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen sind und ihnen der Zugang zu Gesundheits-, Bildungs- und Sozialdiensten erschwert wird.

Mittlerweile ist die dominante Strömung in der LGBT-Community – die, wie bereits erwähnt, vor allem ihren Wunsch nach „Normalität“ und gleichberechtigter Teilhabe an den Institutionen der Armee und der Familie betont – ein Teil des israelischen Mainstreams geworden: Immer mehr Prominente haben sich geoutet, die Zahl queerer Repräsentationen in Medien und Kultur ist sprunghaft angestiegen und neben Tel Aviv und Jerusalem finden auch in vielen anderen Städten Pride-Paraden statt. Obwohl queerfeindliche Äußerungen weiterhin häufig vorkamen und die Knesset nur selten Gesetzesinitiativen zugunsten von LGBT-Personen förderte, trug gerade die Tatsache, dass der Widerstand gegen LGBT-Rechte hauptsächlich aus religiösen Kreisen kommt, dazu bei, den Kampf für queere Rechte als einen allgemeinen Kampf für liberale Freiheitsrechte und Gleichberechtigung zu positionieren.

Die Stärkung des rechtlichen Status sowie die zunehmende Sichtbarkeit der Community führten auch zu gewalttätigen Gegenreaktionen und in einigen Fällen sogar zu Mord. Im Jahr 2005 stach ein ultraorthodoxer Siedler auf drei Teilnehmer*innen der Jerusalemer Pride-Parade ein und verletzte sie; er bezeichnete die Parade als „Abscheulichkeit und Entweihung des Namen Gottes“. Er wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Im Juli 2015, einen Monat nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, griff er erneut Teilnehmer*innen der Jerusalemer Pride-Parade mit einem Messer an, tötete dabei eine 15-jährige Jugendliche und verletzte sechs weitere Menschen. Ein weiterer aufsehenerregender Mord aus queerfeindlichen Motiven hatte sich im August 2009 ereignet: Ein unbekannter Täter war während eines Treffens von Jugendlichen in die „Bar-Noar“ (Jugend-Bar) im Gebäude des LGBT-Verbands eingedrungen, hatte wahllos um sich geschossen und war dann geflüchtet. Ein Gruppenleiter und eine Jugendliche wurden getötet, zehn weitere Menschen verletzt. Bis heute ist die Identität des Täters ungeklärt.

Die Morde in der Bar-Noar markierten einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen dem israelischen Staat und der LGBT-Community: Kam die Unterstützung für LGBT-Personen bis dato hauptsächlich von links, ermöglichte der Schock der Öffentlichkeit über die Tat auch rechten Politiker*innen, ihre Identifikation mit der Community zum Ausdruck zu bringen. Dieser Moment markierte die Auflösung der historischen Verbindung zwischen LGBT-Rechten und allgemeinen Menschenrechten und den Aufstieg des israelischen Homonationalismus, der den LGBT-Kampf aus seinem breiteren politischen Kontext abkoppelte. In der aktuellen Realität ist die Community zu einem Feigenblatt geworden: Sie ermöglicht es rechten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, sich als aufgeklärt darzustellen – selbst wenn sie eine nationalistische Politik vertreten – sowie dem israelischen Staat als Ganzem, sich als liberale Demokratie zu inszenieren, während er ein Besatzungs- und Apartheidsregime aufrechterhält. Die Transformation ist abgeschlossen, und doch stehen wir im Grunde am gleichen Punkt wie zuvor: In den Jahren vor der Staatsgründung wurde Homosexualität als eine aus der arabischen Kultur stammende Krankheit definiert, um Zionist*innen als ihrer „perversen“ orientalischen Umgebung moralisch überlegen erscheinen zu lassen. Heute hingegen wird Israel als „gay-friendly“ gefeiert – auch dies dient dazu, eine moralische Überlegenheit gegenüber dem vermeintlich „primitiven“ Umfeld des Nahen Ostens zu demonstrieren.

Die aktuelle Lage: Aufstieg der extremen Rechten, Erstarken von Nationalismus und Queerfeindlichkeit

Nach drei Jahren politischer Krise und instabiler Regierungen kam im November 2022 eine rechtsextreme Regierung an die Macht, unter deren Mitgliedern viele der Vorstellung jüdischer Vorherrschaft anhängen, demokratische Strukturen untergraben sowie offen rassistische und queerfeindliche Positionen vertreten. Zwei der ranghöchsten Minister der Regierung – Finanzminister Bezalel Smotrich und der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir – sind für ihre queerfeindlichen Aussagen bekannt und haben in der Vergangenheit eine „Bestien-Parade“ organisiert, die queere Menschen mit Tieren gleichsetzt. Hetzerische Äußerungen von Minister*innen und Knesset-Abgeordneten gegen die Community sind zur Routine geworden – beginnend mit der Forderung, Ärzt*innen sollten LGBT-Personen nicht behandeln müssen, bis hin zur Behauptung, queere Menschen seien die größte Gefahr für den Staat.

Ein Mitglied der Koalition, Knessetabgeordneter Avi Maoz (bis vor Kurzem auch stellvertretender Minister), sitzt der fundamentalistischen Partei Noam vor, die sich die Verfolgung queerer Personen auf die Fahnen geschrieben hat. Maoz bezeichnet queere Menschen als „Perverse“, fordert ein Verbot von Pride-Paraden und geschlechtsangleichenden Behandlungen. In der Vergangenheit fertigte seine Partei schwarze Listen von queeren Medienschaffenden an, wie auch von Menschen in der Armee sowie im Bildungs- und Justizsystem, die feministische oder linke Positionen vertraten. Vor knapp einem Jahr behauptete Maoz, das Massaker vom 7. Oktober 2023 sei aufgrund der „progressiven Wert“ geschehen, „die dem israelischen Militär aufgepfropft wurden“, und dass „radikalfeministische, queere und Klimaorganisationen sich klar und entschieden auf die Seite der Hamas gestellt hätten.“

In der aktuellen Regierung steht Maoz an der Spitze der neu geschaffenen „Behörde für jüdische nationale Identität“. Eines der Hauptziele dieser Regierungsinstitution ist die Erstellung einer schwarzen Liste der Schulen und Lehrplänen, die Gleichstellung für LGBT-Personen, Frauen und Palästinenser*innen unterstützen. Im Juli 2025 brachte Maoz einen Gesetzesentwurf ein, der darauf abzielte, das Behandeln von LGBT-bezogenen Themen im Bildungssystem zu verhindern. Der Entwurf sieht ein vollständiges Verbot der Erwähnung von Themen mit Bezug auf sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität bis zur 8. Klasse vor. In der Oberstufe soll dies nur dann erlaubt sein, wenn 75 % der Eltern einer solchen themenbezogenen Aktivität zugestimmt haben.

Die Atmosphäre der Hetze, die von Politiker*innen geschürt wird, hat zu einem deutlichen Anstieg der Gewalt gegen die Community beigetragen. Seit Beginn der Amtszeit der Regierung wurden zahlreiche Fälle von Gewalt bekannt, in denen queere Personen im öffentlichen Raum Angriffe zu erleiden hatten oder Diskriminierung in Unternehmen erfahren mussten, Regenbogenfahnen angezündet worden waren und vieles mehr. Gemäß eines Berichts der HaAguda, des Verbandes für LGBT-Menschen in Israel, verzeichnete das Jahr 2023 einen Anstieg der Meldungen queerfeindlicher Gewalt um 127 Prozent. Besonders alarmierend ist die Zunahme der Hetze gegen trans Menschen, die inzwischen – wie überall auf der Welt – zum Hauptziel LGBT-feindlicher Gewalt geworden sind.

Eine weitere erhebliche Bedrohung für die Stellung der queeren Community ist der autoritäre Staatsumbau, den die Regierung vorantreibt: Mittels einer Reihe von Gesetzen und Beschlüssen soll das Justizsystem geschwächt und die Kontrollmechanismen über die Exekutive demontiert werden. Diese Vorhaben, die an Prozesse erinnern, die zuletzt die Demokratie in Ländern wie Ungarn und Polen ausgehöhlt haben, lösten beispiellose Proteste aus, die zwischen Januar und Oktober 2023 Hunderttausende Bürger*innen Israels fast wöchentlich auf die Straße brachten.

Das Zusammenspiel zwischen der eklatanten LGBT-Feindlichkeit der Regierung und ihren Bemühungen, die Justiz zu schwächen – eine der zentralen Institutionen, die die Rechte der Community über die Jahre hinweg geschützt haben – brachte viele queere Menschen dazu, sich an vorderster Front an den Protesten zu beteiligen. So wurden die Regenbogenfahnen zu einem markanten Merkmal der Demonstrationen. Die Erkenntnis, dass queere Menschen zu den ersten gehören würden, die vom autoritären Staatsumbau getroffen werden, machte die Verbindung wieder sichtbar, die in den letzten Jahrzehnten fast vergessen worden war: den Zusammenhang zwischen LGBT-Rechten und allgemeinen Menschenrechten. Zum ersten Mal seit Langem wurden LGBT-Organisationen wieder in Bereichen aktiv, die über den engen Rahmen der Community-Rechte hinausreichen.

Das Massaker vom 7. Oktober und der darauffolgende Krieg veränderten die politische Situation schlagartig. Die Protestbewegung gegen die Regierung löste sich auf und an ihre Stelle trat eine Notstandsstimmung, die jede Kritik und Opposition zum Schweigen brachte. Die queere Community, die sich noch kurz zuvor in einem entschlossenen Kampf gegen die Regierung befunden hatte, stellte sich nun in den Dienst ihres Krieges und übernahm weitestgehend den patriotischen und militaristischen Diskurs, der die Öffentlichkeit dominierte.

Die nationalistische Verhärtung und die Verschärfung des anti-progressiven Diskurses in Israel lassen aktuell Stimmen innerhalb der Community laut werden, die sich der populistischen Rechten inhaltlich angleichen und sich von jedem Ausdruck politischer oder geschlechtlicher Abweichung distanzieren wollen. Immer häufiger werden – vor allem unter schwulen Männern – Forderungen laut, der Community die Solidarität aufzukündigen, sich von radikalen und queeren Aktivist*innen sowie von der trans Community abzugrenzen und sich stattdessen als „normale“ Schwule zu positionieren – solche, die dem Staat dienen und die bestehende Ordnung nicht infrage stellen.

Es ist kein Zufall, dass der wichtigste Erfolg, den die Community seit Oktober 2023 verzeichnen konnte, im Zusammenhang mit ihrem Beitrag zur Kriegsanstrengung steht: Im November 2023 wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Partner*innen gefallener homosexueller Soldat*innen anerkennt und ihnen die gleichen finanziellen Zuwendungen und Rechte zuspricht wie heterosexuellen Partner*innen. In den lokalen israelischen Medien wurde zugleich Kritik an Israels Kriegsverbrechen in Gaza mit den „Woken“ und „Progressiven“ identifiziert, und entsprechend waren Reaktionen auf Kritik häufig von transfeindlichem Ton und Spott über queere Ausdrucksformen geprägt. So verstärkte sich erneut die alte Unterscheidung zwischen dem „guten Schwulen“ und dem „schlechten Queer“ – eine Unterscheidung, die die Solidarität innerhalb der Community schwächt und der konservativen, queerfeindlichen Agenda der Rechten dient.

Vor dem Hintergrund zunehmender nationalistischer Denkweisen und wachsender Queerfeindlichkeit, ebenso angesichts einer Regierung, die die Menschenrechte mit Füßen tritt, zeigt sich, dass die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte auf weit weniger festem Boden stehen, als es den Anschein hatte. Die vergangenen zwei Jahre sind eine düstere Erinnerung daran, dass die Akzeptanz der LGBT-Community stets an ihre Bereitschaft geknüpft war, sich einzugliedern, Loyalität zum Staat zu demonstrieren und weiterhin als Feigenblatt zu dienen, mit dessen Hilfe Israel sich als liberale Demokratie präsentieren kann. Angesichts des Massakers und der Zerstörung in Gaza ist die Weigerung, sich an dieser Politik zu beteiligen, zu einer moralischen Pflicht geworden.

Aus dem Hebräischen von Ursula Wokoeck-Wollin und Lucia Engelbrecht übersetzt

Anmerkungen

[1] Im Folgenden wird die Abkürzung „LGBTQ“ teils auch mit dem Begriff „queer“ übersetzt. Trotz dieser synonymen Setzung soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass die beiden Begrifflichkeiten nicht deckungsgleich sind und sich durch ihre je eigenen Geschichten und Kämpfe auszeichnen. (Anm. d. Ü.)

Autor:in

Yoana Gonen ist Publizistin und LGBT-Aktivistin.

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