
Siedler, die sich auf einem Dach verbarrikadiert haben, werfen Wasser, Müll und Chemikalien auf die Sicherheitskräfte, die sie vom Dach der jüdischen Siedlung Kfar Darom im Gazastreifen evakuieren wollen. Foto: Yossi Zamir/Flash90.
Wie Israels „Abkoppelung“ von Gaza den Nährboden für die ethnische Säuberung bereitet hat
Erzürnt über den Abzug von 2005, bemühte sich das nationalreligiöse Lager darum, territoriale Zugeständnisse als desaströs zu brandmarken – sodass eine ethnische Säuberung die einzige Lösung blieb.
Der „unilaterale Abkoppelungsplan“ für Gaza, den Israel im August 2005 in die Tat umsetzte, erschütterte die Siedlerbewegung. Dieser Plan zog die Beseitigung von 21 im Gazastreifen und vier in der Westbank befindlicher Siedlungen nach sich. Circa 9.000 israelische Siedler*innen wurden dabei umgesiedelt. Man hatte damals den Eindruck, dass die Stimmung im Land ihren Kipppunkt erreicht hat: Es war Premierminister Ariel Sharon, ein standhafter Vertreter der israelischen Rechten, der den Abzug des israelischen Militärs aus dem besetzten palästinensischen Gebiet sowie die Beseitigung der sich dort befindenden illegalen Siedlungen anordnete.
Seitdem sind zwanzig Jahre vergangen. Im Rückblick kann die Art und Weise, in der Israel die Siedlungen aus Gaza entfernte und anschließend die Folgen verwaltete, als ein kritisches Moment im Niedergang der Zweistaatenlösung begriffen werden. Es war auch ein Vorbote dessen, was wir heute sehen können: Heute geht es nicht mehr nur um die Absonderung von den Palästinenser*innen und ihrer Verweisung in kleiner werdende Bantustans, sondern ihrer Vernichtung und Auslöschung.
Das rechts-nationalreligiöse Lager Israels, mit dem Likud an der Spitze, hat während des ersten Jahrzehnts nach dem Abzug die Vorstellung, dass sich eine Beseitigung von Siedlungen nicht noch einmal wiederholen würde, tief im Bewusstsein der Menschen verankert. Dies machte es möglich, dass Positionen, die lange als extrem galten, nach dem 7. Oktober dominant werden konnten. So etwa, wenn israelische Amtsträger*innen unverhohlen fordern, dass die ethnische Säuberung der Palästinenser*innen, die man mit der Nakba von 1948 nicht erreicht hatte, jetzt vollendet werde. Nach den von der Hamas angeführten Angriffen vom 7. Oktober 2023 war es das nationalreligiöse Lager, welches am schnellsten reagierte und eine Möglichkeit zur Realisierung seiner Pläne sah.
Schon sehr früh verfestigte sich der Gedanke, dass der 7. Oktober, so tragisch er auch gewesen ist, ein Zeichen des Anbruchs „messianischer Zeiten“ und einer „Ära von Wundern“ war – eine göttliche Intervention, die die Ausbreitung jüdischer Souveränität über das ganze biblische Land Israels und das Kommen des Messias ankündigte. Dieser Glaube wird seither von den Anführern der Fraktionen Otzma Jehudit („Jüdische Stärke“) und HaTzionut HaDatit („Der religiöse Zionismus“) befeuert. Dabei tun sich besonders die Ministerin für Siedlung und nationale Mission Orit Strook, Militärrabbiner und Medienkommentatoren hervor.
Die Likud-Partei und das politische Establishment, die eifrig dabei gewesen waren, die faktische Annexion der Westbank voranzutreiben, während Siedler*innen dort Pogrome auf Dörfer verübten und den Raub von Land intensivierten, sahen nun eine Möglichkeit, ihre Prioritäten neu zu ordnen. Man musste Gaza nicht mehr länger abtreten; es konnte erneut besiedelt werden. Eine ethnische Säuberung mit den technischen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts konnte in Gaza getestet werden, bevor man ihr in der Westbank freien Lauf lässt.
Der Ausdruck „Gaza First“ kam zuerst im Kontext der anfänglichen Umsetzung der zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) vorgenommenen Prinzipienerklärung von 1993 (1. Oslo-Abkommen) auf. Mit diesem Abkommen nahm die neu gegründete Palästinensische Autonomiebehörde (PA) ihre erste Aufgabe der Selbstverwaltung wahr, und zwar in den als palästinensisch definierten Gebieten Gazas sowie der in der Westbank gelegenen Stadt Jericho. Das zweite Mal tauchte der Ausdruck „Gaza First“ in Bezug auf Sharons „Abkoppelungsplan“ auf, da in diesem die optimistische Vorstellung präsentiert wurde, dass Gaza die erste von vielen Gegenden sei, aus denen sich die Israelis zurückziehen werden.
Heute hat der Ausdruck „Gaza First“ jedoch eine neue Bedeutung erhalten: Gaza ist das Einfallstor der messianischen Erlösung und der Auslöschung des palästinensischen Volkes. In der geläufigen israelischen Redeweise wird das „totaler Sieg“ genannt. Es muss einen nicht verwundern, dass die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem in ihrem letzten Bericht davor warnt, dass das, was derzeit in Gaza passiert, bereits für die Westbank geplant wird.
Die Entwicklung von 2005 bis 2025 ist nicht vorherbestimmt gewesen, doch sind deren Konturen klar ersichtlich – in den Konsequenzen der politischen Entscheidungen, die damals getroffen und heute ungeschehen gemacht oder umgeformt werden müssen. Die Beschreibung dieser Entwicklung macht deutlich, dass eine neue politische Vision für das ganze historische Land Palästina benötigt wird. Diese Vision muss von außerhalb des zionistischen Konsenses kommen.
Palästinenser*innen müssen, und zwar außerhalb des starren Gerüsts der PA, die sich erhält, indem sie den Status quo aufrechtzuerhalten hilft, eine zentrale Rolle in der Ausbildung dieser Vision übernehmen. Ob die israelische Politik und die israelische Gesellschaft das gegenwärtige Moment des Genozids überwinden werden oder nicht, ist von entscheidender Bedeutung. Der Ausgang dieses Moments hängt maßgeblich vom Zusammenspiel innenpolitischer Dynamiken und externer Druckausübungen ab. Solange letztere begrenzt oder gänzlich nichtvorhanden sind, ist es jedoch unwahrscheinlich, dass sich erstere in signifikanter Weise verändern werden.
Die Befestigung der Siedlungen
Wenn man die Folgen des israelischen Rückzugs aus Gaza besser verstehen möchte, so ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, wie Ariel Sharon die dem Vorgehen von 2005 zugrundeliegenden Absichten damals definierte. Sharon sagte explizit – mochten seine rechten Kritiker ihn auch ignorieren –, dass der unilaterale Rückzug aus Gaza den Druck auf einen Rückzug aus den sowohl biblisch als auch strategisch wichtigeren Teilen der von Israel besetzten Westbank minimieren sollte.
Sharon wollte die Palästinenser*innen dauerhaft unterdrückt und ohne politische Rechte sehen. Als Vorbild dienten ihm die Bantustans des südafrikanischen Apartheidregimes, die ihn während eines Besuchs in den frühen 1980ern beeindruckt hatten. „Der Abkoppelungsplan ist gleichbedeutend mit der Stilllegung des Friedensprozesses“, lautete der berühmte Kommentar von Sharons engstem Berater Dov Weissglas. „So verhinderst du die Gründung eines palästinensischen Staates sowie eine Diskussion um die Flüchtlinge, die Grenzen und Jerusalem. Eine Abkoppelung stellt die Menge an Formaldehyd bereit, die notwendig ist, um einen politischen Prozess mit den Palästinensern zu verhindern.“
Während der Abkoppelung holte Israel von den ungefähr 430.000 Israelis, die zu der Zeit hinter der Grünen Linie lebten (Ostjerusalem eingeschlossen), lediglich 9.000 heraus. Dabei zog sich Israel von einem Territorium zurück, das, wenn man die Grenzen von 1967 als Maßstab heranzieht, gerade einmal sechs Prozent eines zukünftigen palästinensischen Staates ausmachen würde, und mickrige eineinhalb Prozent dessen, was 1948 das britische Mandatsgebiet Palästina gewesen ist.
Palästinensische Kritiker*innen wiesen damals auf die erklärten Ziele der israelischen Führung hin: Mittels der Abkoppelung sollte Israels Kontrolle anderswo vertieft, aber nicht die palästinensische Staatlichkeit oder die Rechte der Palästinenser*innen befördert werden. Die zionistischen Zirkel der Mitte und der gemäßigten Linken ignorierten diese Stimmen jedoch und unterstützen Sharons Plan lautstark.
Die Antwort des sogenannten liberalen Lagers des Zionismus klingt tatsächlich eher vertraut: Anstatt die Abkoppelung dazu zu nutzen, auf einen Ausbau des Friedens mit den Palästinenser*innen zu drängen, betonte man die Notwendigkeit, die jüdisch-israelischen Ränge wieder zusammenzuführen. Die Ära des tzav pijus, der Forderung einer internen jüdisch-israelischen Versöhnung, wurde eingeleitet und die Palästinenser*innen verdammt. Hier zeigte sich, wie tief das siedlerkolonialistische Mindset im Zionismus verwurzelt ist. Denn liberale Politiker versäumten es regelmäßig, die andauernden israelischen Siedlungsbestrebungen und die Vertreibung der Palästinenser*innen aus der Westbank prinzipiell in Frage zu stellen. Sie erhoben lediglich Einwände bezüglich Fragen von Ort und Ausmaß.
Es ist wahrscheinlich ein Fehler, der Siedlerbewegung allzu große strategische Brillanz, Voraussicht oder Geduld zu unterstellen. In einem Land von Blinden ist der Einäugige allerdings noch der König. Die Klasse der nationalreligiösen Siedler*innen hatte zumindest noch eine kohärente Ideologie und eine Langzeitstrategie; liberale Zionist*innen hatten keins von beiden.
In den Jahren nach der Abkoppelung begann die Siedlerbewegung das Militär und das Justizsystem zu unterwandern. Ihr Nachwuchs sollte die zukünftige Riege der israelischen Offiziere stellen. Das trägt nun Früchte: Da haben wir zum Beispiel die letztjährige Ernennung Avi Bluths zum Leiter des Zentralkommandos der Armee, das für die Überwachung der Westbank zuständig ist, oder die weniger lang zurückliegende Ernennung des pensionierten Polizeichefs Joram Halewi zum neuen Leiter des Coordinator of Government Activities in the Territories (COGAT, „Koordinator für Regierungsaktivitäten in den Gebieten“), eine für die Zivilpolitik in der Westbank und in Gaza zuständige Abteilung des Verteidigungsministeriums.
Die erneute Besiedelung Gazas ist nicht ihr Ziel gewesen, das erschien unrealistisch. Vielmehr wollte man dafür sorgen, dass die Enklave zu einem Beispiel der Abschreckung wird. Es konnte nicht zugelassen werden, dass ein territorialer Rückzug sich der israelischen Öffentlichkeit als ein Weg zu einer besseren Zukunft darstellt – es musste als ein Desaster gebrandmarkt werden.
In dieser Hinsicht erfreute sich die israelische Rechte mehrerer großer Erfolge. Indem sie horrende Entschädigungspakete für die Siedler*innen durchsetzte, die der israelischen Staatskasse schätzungsweise neun Billionen NIS (Neuer Schekel) kosteten, stellte sie sicher, dass der Abzug so kostspielig wie möglich wird. Das sollte der Abschreckung dienen, damit nicht ein ähnlicher Rückzug aus den Siedlungen der Westbank vorgenommen wird. Die Siedlerbewegung schuf zudem eine Atmosphäre des drohenden innenpolitischen Konflikts. Sie verbreitete die Vorstellung, dass eine massenhafte Zwangsumsiedlung der in der Westbank lebenden Siedler*innen zu einem Bürgerkrieg führen würde.

Es ist nicht zynisch zu argumentieren, dass Israel mit seiner flächendeckenden Kontrolle der Westbank und der Verschärfung der Blockade Gazas gezielt Bedingungen geschaffen hat, die zu einer Mehrung des bewaffneten palästinensischen Widerstands führen. So hatte man sagen können: „Schaut, dass wir Gaza verlassen haben, hat die Lage nur verschlimmert!“ Derart konnte sich das Narrativ verfestigen, demzufolge Israel mit dem Abzug aus Gaza eine Anzahlung für den Frieden gemacht habe und als Gegenleistung mit Raketen befeuert wurde – eine Lüge, die von der Oppositionsführung, von Ehud Barak bis zu Ehud Olmert, nicht hinterfragt, sondern beinahe wörtlich nachgeplappert wurde. Wenn man die seit 2005 vorherrschende Strategie Israels im Umgang mit den Palästinenser*innen untersucht, so wird zweifelsohne klar, dass die Behauptung, Gaza könnte das „Singapur des Nahen Ostens“ werden, eine bösartige Lüge ist.
Das Fehlen einer zionistischen Opposition
Das nationalreligiöse Lager verdankt seinen Erfolg vor allem der Tatsache, dass es letztlich das einzige Team mit einem Plan und der nötigen Entschlossenheit und Opferbereitschaft gewesen ist. Demgegenüber war das Mitte-Links-Lager in Israel bereits 2005 weitgehend ausgehöhlt. Der sozialistische Zionismus hatte keine pragmatische Regierungsalternative mehr anzubieten. Zugleich gab es auch kein kohärentes Narrativ, dass überzeugend erklärt hätte, weshalb ein unilateraler Abzug aus Gaza konzipiert worden war, um Frieden zu blockieren, und nicht, um ihn zu befördern.
Mitte-links Politiker*innen versuchten nicht einmal darüber nachzudenken, dass die Hamas, nachdem sie an Wahlen beteiligt gewesen ist, in den politischen Prozess integriert werden könnte und sollte, so wie es im Laufe der Geschichte mit zahlreichen anderen bewaffneten Widerstandsbewegungen während ihrer Freiheitskämpfe passiert ist. Sie haben sich auch nicht gegen die Belagerung und Blockade Gazas gewehrt oder gegen die kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung und die etlichen Wellen der Zerstörung und des Tötens, die dem 7. Oktober 2023 vorausgingen. Als der ehemalige (sogenannte) israelische Oppositionsführer Benny Gantz seine politische Karriere im Dezember 2018 startete, versuchte er Legitimität zu erhalten, indem er seine eigenen Massentötungen in Gaza hervorhob.
Als Benjamin Netanjahu im Juni 2021 von der selbsterklärten „Regierung des Wandels“ Naftali Bennetts und Yair Lapids für kurze Zeit ersetzt wurde, setzte Israel mit der Vertiefung seiner Präsenz in der Westbank fort, kriminalisierte palästinensische NGOs und bezichtigte wiederholt und in der gleichen ermüdenden Weise führende Menschenrechtsorganisationen, die Israel als ein Apartheid bezeichneten, des Antisemitismus. Die Bennett-Lapid-Regierung fuhr fort mit gezielten rechtswidrigen Tötungen und Angriffen innerhalb der gesamten Westbank sowie mit der Blockade Gazas. Die Parteien Meretz und ha-Avoda (Arbeitspartei) waren Partner dieser Regierung des Nicht-Wandels.
Im Dezember 2022 kehrte Netanjahu mit der rechtsextremsten Regierung, die die Geschichte Israels bisher gesehen hat, an die Macht zurück. In ihrer Antwort auf die von ihm vorangetriebene Revision des israelischen Rechtssystems, haben die massiven Proteste für Demokratie, die über das Land fegten, jedoch das ignoriert, was der Demokratie am meisten widerspricht: Besatzung und Apartheid.
Nach dem 7. Oktober hörte man in ganz Israel, vom äußersten Rand der "Hügeljugend" bis hin zum Militärestablishment, nur ein einziges Narrativ: Was immer den Palästinenser*innen angetan wurde, sie hatten es selbst verschuldet. So behauptete etwa der vorige Chef des Militärgeheimdienstes Aharon Haliwa, dass das Töten von 50.000 Palästinenser*innen, Kinder eingeschlossen, „notwendig“ gewesen sei. Am Morgen der Angriffe vom 7. Oktober versprach Herzi Halewi, der damalige Generalstabschef der Armee, seiner Frau, dass „Gaza zerstört wird“.

Dies soll nicht heißen, dass irgendeine andere Gesellschaft mit Nachsicht auf den Schock und den Schmerz eines Ereignisses wie den 7. Oktober und den von militanten palästinensischen Gruppen begangenen Verstößen gegen das internationale Recht reagiert hätte. Dennoch ist es nur vor dem hier ausgebreiteten Hintergrund verständlich, wie es dazu kommen konnte, dass ein derartig großer Teil des politischen Establishments des Zionismus bereitwillig einen Genozid hat unternehmen und befürworten können.
Heute liegt das siedlerkoloniale Wesen des Zionismus offen zu Tage. Er ist ein Nullsummenspiel. Man werfe nur einen Blick auf die Richtlinien der derzeitigen Koalition, in denen es heißt, dass das „jüdische Volk das ausschließliche und unveräußerliche Recht auf alle Teile des Landes Israel hat“. Das ist, von der regierenden rechtsextremen Koalition bis zur sogenannten Opposition, nahezu Konsens unter zionistischen Politiker*innen. In einer Knesset-Abstimmung während des Jahres 2024 hat nicht ein zionistischer Abgeordneter für die Gründung eines palästinensischen Staates gestimmt, während im Juli 2025 nur eine Handvoll linker Abgeordneter in einer anderen deklaratorischen Abstimmung gegen die Annexion von Judäa und Samarien gestimmt hat.
Was ist vor dem 7. Oktober in der Westbank passiert? Angeführt vom Finanzminister Bezalel Smotrich und dem Verteidigungsministerium haben Zivilbehörden neue Befugnisse in den besetzten Gebieten übernommen. Zudem schreitet die Zusammenarbeit zwischen dem Militär und bewaffneten Siedler*innen weiter voran. Man erinnere sich daran, was Israel mit den Menschen in Gaza seit beinahe zwei Jahrzehnten gemacht hat. Mit der Blockade zum Beispiel hat das israelische Militär die zum Überleben notwendige Kalorienzufuhr der palästinensischen Bevölkerung bereits kalkuliert. Sie sollte auf ein Minimum der Existenzerhaltung gedrückt werden. Es war nur ein kleiner Schritt von dieser Kalkulation zum Einsatz des Hungers als tödlicher Waffe.
Fragmentierung nach Plan
Sieben Jahre nach dem Abzug aus Gaza habe ich in einem Kommentar in der New York Times geschrieben, dass „Israel mit der Abgabe von nur eineinhalb Prozent des Landes die sogenannte demographische Gleichung (das Verhältnis von Juden*Jüdinnen und Araber*innen innerhalb der unter seiner Kontrolle stehenden Gebiete) in signifikanter Weise neu kalibriert hat“. Israels Rückzug hat es somit, so dachte man es sich, von der Verantwortung für einen bedeutenden Teil der palästinensischen Bevölkerung entledigt. Diesen Teil sah Israel nun auf ewig abgetrennt vom Rest des physischen und demographischen Raums der Palästinenser*innen.
Obwohl die zionistische Rechte gegen den Abzug aus Gaza protestierte, hat dieser es für Israel doch viel leichter werden lassen, sich das übrige Territorium einzuverleiben und dabei demographisch eine jüdische Majorität aufrechtzuerhalten. Überdies mussten jetzt weniger Palästinenser*innen entfernt, in Bantustans eingesperrt oder zur „freiwilligen“ Emigration gezwungen werden. Wie ich damals angemerkt habe, sind in jenen sieben Jahren ungefähr 94.000 Siedler*innen in die Westbank und nach Ostjerusalem gezogen, während tausende Palästinenser*innen vertrieben wurden.

Das ist damals meine Argumentation gewesen. Heute, nach dem 7. Oktober, ist eine israelische Besiedelung Gazas erneut auf der Agenda – und warum auch nicht, da die Welt doch tatenlos zusieht, wie Gaza völlig zerstört und seine Bevölkerung in einem Konzentrationslager an der Grenze zu Ägypten eingepfercht wird, während der US-amerikanische Präsident für eine palästinenserfreie und unter israelischer Kontrolle stehende Riviera in Gaza wirbt?
Mit anderen Worten: Der 7. Oktober wurde als eine Möglichkeit begriffen, die demographische Frage anders als durch das Abtrennen Gazas vom Rest Palästinas zu lösen, nämlich durch die Vernichtung und Vertreibung der Bevölkerung Gazas und der anschließenden Wiederbesiedelung des Territoriums. Wir können die Zahl der Getöteten, Schwerstverletzten und Verstümmelten nur erahnen; in Gaza sind auf die Einwohnerzahl berechnet mehr Kinder mit amputierten Gliedern als irgendwo anders in der Welt zu finden. Und zu den menschlichen Opfern kommt hinzu, dass Gaza in Schutt und Asche gelegt wurde. Diese Verluste sind für die ganze Nation transformativ und affizieren auf fundamentaler Weise jegliche Überlegung hinsichtlich der Zukunft Palästinas und der Palästinenser*innen.
Ebenso von Bedeutung ist das Fehlen einer vereinten palästinensischen Befreiungsbewegung, die über eine wirkliche Strategie und Handlungsfähigkeit verfügte. Dieser Mangel ist das fatalste Erbe der Ära, die auf den israelischen Abzug aus Gaza folgte. Er verstetigt die politische Paralyse der Palästinenser*innen in einem Moment, in dem eine Form von Einheit am dringendsten benötigt wird.
Es ist nichts Neues, dass siedlerkolonialistische Regime nach der Devise „Teile und herrsche“ mit kolonialisierten indigenen Bevölkerungen verfahren. Es ist in Israel bereits Tradition, dass „schwierige“ palästinensische Führungspersönlichkeiten gezielt getötet oder eingesperrt und „kooperative“ unterstützt werden. Bis 2005 wurde die Einheit und Mobilisationskraft der Ersten Intifada vom Osloer Friedensprozess verdrängt. Dieser erzeugte tiefe Spaltungen innerhalb des palästinensischen Volkes. Gefangen im von der Palästinensischen Autonomiebehörde verwalteten und von Oslo diktierten engen Rahmen der Selbstverwaltung, verlor die palästinensische Nationalbewegung an Lebendigkeit sowie der Fähigkeit, sich eine Agenda zu setzen. Die Zweite Intifada ist zu großen Stücken eine Reaktion auf diese Realität gewesen.
Der Abzug aus Gaza vertiefte diese Fragmentierung, die Israel noch immer zu seinen Gunsten ausnutzt. Der hohe Grad der politischen Uneinigkeit und Marginalisierung der Palästinenser*innen – er ist derzeit, während Israels Genozid in Gaza, in schrecklicher Weise erkenntlich – kann wesentlich als das Ergebnis zionistischer Planung verstanden werden. Perpetuiert wird er hingegen von der palästinensischen Führung selbst.
Die Mehrheit der Palästinenser*innen sah im bewaffneten Widerstand der Zweiten Intifada, die maßgeblich, aber nicht allein, von der Hamas dirigiert wurde, den Auslöser für die erste vom Staat Israel unternommene Räumung der in den besetzten palästinensischen Gebieten befindlichen Siedlungen. Das bildete einen starken Kontrast zum Scheitern der von der Fatah geleiteten Palästinensischen Autonomiebehörde. Israels expliziter und intentionaler Ausschluss einer Verhandlungsdelegation der PA vom Geschehen rund um den Abzug aus Gaza machte dies letztlich überdeutlich. Es war dann auch wenig überraschend, dass die Hamas sich in den bald folgenden Wahlen die meisten Stimmen sowie die Mehrheit im Parlament sicherte (welches Resultat durch Uneinigkeiten innerhalb der Fatah sowie deren schlechte Strategie beim Aufstellen von Kandidaten in Mehrpersonenwahlkreisen begünstigt wurde).

Die jedoch am häufigsten wiederholte Lüge der letzten beiden Jahre ist die, dass der Krieg notwendig sei, um das Hamas-Regime in Gaza zu stürzen. In Wirklichkeit ist die Hamas seit Jahren bereit, die Regierungsgewalt in Gaza abzugeben. Indem sie Israel, den USA und anderen westlichen Verbündeten Folge leistete, ist eher die Führung der PA das größte Hindernis auf dem Weg zu einer palästinensischen Einigung und damit einer neuen Regierung in Gaza gewesen. Sie weiß ihrem Volk, während es sich in der höchsten Not befindet, nicht zu helfen, was sie vollkommen diskreditiert hat in den Augen der palästinensischen Öffentlichkeit.
Es gibt sicherlich noch andere Faktoren, die etwas zum Verständnis der Entwicklung sowohl der israelischen wie der palästinensischen Politik im Laufe der letzten zwanzig Jahre beitragen können. Vor allem wäre hier die Tatsache zu nennen, dass die Vereinigten Staaten und die anderen westlichen Verbündeten Israels es vermieden haben, Israel zur Rechenschaft zu ziehen und es wegen seiner Verbrechen mit Sanktionen zu belegen. Stattdessen haben sie, so wie die Abraham Accords, den israelischen Extremismus nur belohnt. Auf der anderen Seite sind die geopolitischen Verhältnisse in Veränderung begriffen. Die Vormachtstellung der USA ist am Schwinden, während wir auf eine multipolare Welt zusteuern, in der der globale Süden, mittelgroße Mächte eingeschlossen, mehr Einfluss ausüben werden. All das kann das Kräfteverhältnis zum Kippen bringen, vorausgesetzt die Palästinenser*innen werden eine Führungsstrategie haben, die die aufkommende Möglichkeit angemessen wahrnimmt.
Ein letztes Mal wird der Würfel der Teilung geworfen
Der Abzug aus Gaza 2005 ist ein Vorbote dessen gewesen, was in den letzten zwei Jahren in der hässlichsten Art und Weise zutage getreten ist. Das zeigt, dass ein fundamentaler – kein bloß verwaltungstechnischer – Neustart für die israelischen sowie die palästinensischen Führungszirkel vonnöten ist.
Wenn man sich zum Beispiel lautstark der Vertreibung der Palästinenser*innen aus Gaza widersetzt, so muss man auch anerkennen, dass Gaza nach seiner totalen Zerstörung nicht wieder vollständig wird hergestellt werden können. Ebenso muss man anerkennen, dass Gaza, auch vor dem Jahre 2023, niemals „vollständig“ war. Die lebensunwürdige Bevölkerungsdichte ist selbst das Ergebnis ethnischer Säuberung, deren Folgen wiedergutgemacht werden müssen.
Das Schicksal der überlebenden Palästinenser*innen in Gaza sollte nicht auf ein Leben im Exil oder zwischen Trümmern beschränkt bleiben. Für viele gibt es einen natürlicheren Ort der Rehabilitation: das Land, von dem sie und zumeist ihre ganzen Familien 1948 vertrieben wurden.
Der unilaterale Abzug aus Gaza sollte vielleicht als der finale Wurf des Würfels der Teilung verstanden werden. Es muss unlängst klar sein, dass dieses Projekt auf eben dem Plan beruht, der Ariel Sharon damals in Südafrika zur Zeit der Apartheid so sehr ansprach – das von einer Siedlerkolonie installierte Regime ethnischer Suprematie, das die Kolonialisierten der Bantustans im Zustand der Unterwerfung hält und ihnen eine Existenz zweiter Klasse diktiert.
Dies ist kein Aufruf dazu, ein Nullsummenspiel ethnischer Säuberung durch ein anderes zu ersetzen. Weder wird die jüdisch-israelische noch die palästinensisch-arabische Bevölkerung verschwinden. Doch es muss schon heute mehr zur Auswahl stehen als Genozid oder Apartheid. Wenn die Siedler*innen mit zivilem Ungehorsam wirkmächtig auf den unilateralen Abzug 2005 reagiert haben, so wird nichts weniger von denen erwartet, die bereit sind, sich der Vernichtung Gazas durch Israel heute, im Jahr 2025, entgegenzustellen.
Dieser Artikel ist ursprünglich am 10.09.2025 in englischer Fassung in +972 Magazine erschienen.
Aus dem Englischen von Christoph Hopp
Autor:in
Daniel Levy ist Präsident des U.S./Middle East Project. Er war israelischer Friedensunterhändler bei den Oslo-B-Gesprächen unter Premierminister Yitzhak Rabin und bei den Taba-Verhandlungen unter Premierminister Ehud Barak
