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Geschützt von der israelischen Armee marschieren radikale Siedler:innen zum illegalen Outpost Homesh, Dezember 2021. Foto: Activestills

Von der Freiheit, das Land Anderer zu besetzen

In jedem Staat stellen Souveränität und der Umgang mit Gewalt eine Herausforderung dar, aber in Israel ist diese besonders ausgeprägt. Israelis herrschen mit Gewalt über eine große palästinensische Bevölkerung. In den letzten Jahren ist immer klarer geworden, dass es sich hierbei nicht um eine vorübergehende Besatzung handelt, sondern um eine nun mehr als ein halbes Jahrhundert andauernde Entrechtung und Unterdrückung, deren Ende nicht in Sicht ist. Je länger die Besatzung anhält, desto mehr beschneidet sie die Freiheit von Millionen von Menschen und zersetzt die kollektive Identität eines ganzen Volkes. Je mehr sich das Besatzungsregime etabliert, desto mehr wird es als wesentlicher Bestandteil des israelischen Staats wahrgenommen und desto mehr wird jede Kritik daran als Angriff auf die Existenz des Staats und jede Erwähnung des Leidens der Palästinenser:innen als Hochverrat gedeutet.

Religiöse jüdische Menschen in Israel fallen durch ihre besonders starke Befürwortung der Besatzung auf. Vertreter des religiösen Zionismus, die heute eine führende Rolle in der israelischen Armee spielen, rechtfertigen jede Intervention der Armee mit moralischen und der Halacha entliehenen Argumenten. Mitunter scheint es, dass es zum Wesen der religiösen Position gehört, Militäraktionen zu unterstützen. Selbst heute, nachdem das religiös-zionistische Ethos der Besiedlung felsiger Hügel zum großen Teil einem bürgerlichen Leben in den Siedlungen gewichen ist und Militäroperationen wie »Abwehrschild« in der Westbank (2002) oder »Wolkensäule« im Gazastreifen (2012) von alltäglichen Polizeikontrollen einer entrechteten Bevölkerung abgelöst wurden, scheinen Kippa tragende Israelis immer noch die Bevölkerungsgruppe zu sein, die in Israel am energischsten die Ideologie der jüdischen Überlegenheit vertritt.

Viele Jahrzehnte, nachdem die Rabbiner des religiösen Zionismus ihre theopolitischen Konzepte vorgelegt haben, findet die Vorstellung, dass die israelische Armee heilig sei und die von Israel geführten Kriege eine religiöse Pflicht seien, in religiösen Kreisen enorme Resonanz. In den letzten Jahren kam dieses spezifische Pflichtverständnis auch in zustimmenden halachischen Urteilen zum Ausdruck wie etwa zum sogenannten Nachbarverfahren, bei dem israelische Soldat:innen Palästinenser:innen als menschliche Schutzschilde missbrauchen. Darüber hinaus wurden mit solchen Urteilen der Raub von Land in palästinensischem Privatbesitz, die Nichteinhaltung des Schabbats zugunsten des Siedlungsbaus, Straftaten für Geheimdienstzwecke und Gewalt von israelischen Zivilist:innen gegen Palästinenser:innen für zulässig erklärt.

Die Besatzung als tragische Notwendigkeit

Die ultraorthodoxe Bevölkerung in Israel ist zwar nicht zionistisch, aber sie unternimmt auch nichts gegen die Besatzung. Man könnte im besten Fall sagen, dass sie sich im Allgemeinen nicht für machtpolitische Fragen oder das Handeln der Regierung interessiert. Es sind vor allem wirtschaftliche Gründe, weswegen sich viele immer mehr für den Erhalt und die Intensivierung der Besatzung engagieren. Da Land in den besetzten Gebieten billig ist und die israelische Regierung das Ziel verfolgt, die Zahl der israelischen Siedler:innen dort zu erhöhen, sind in den letzten Jahrzehnten viele Ultraorthodoxe in die besetzten Gebiete gezogen. Das hat aber so gut wie gar nicht zu einer internen Auseinandersetzung über berechtigte und ungerechtfertigte Gewaltanwendung geführt. Aber die Einstellung der über Jahrtausende im jüdischen Schrifttum geformten Tradition gegenüber der Anwendung von Gewalt unterscheidet sich radikal von dem, was Vertreter des religiösen Zionismus im Dienst des Staats verlautbaren. Einerseits erlaubt die Halacha einer Person, sich zu verteidigen, und mitunter erklärt sie es gar zur Pflicht, selbst wenn dadurch gegen andere religiöse Gebote verstoßen wird. Andererseits wird Gewalt als etwas Negatives und als etwas Nichtjüdisches wahrgenommen und sollte daher vermieden werden. Jedenfalls sollten wir der Anwendung von Gewalt misstrauisch gegenüberstehen.

Bereits vor der Staatsgründung im Jahr 1948 waren die rabbinischen Schriften von dem Versuch geprägt, eine Balance zwischen den beiden Prinzipien Selbstverteidigung und Ablehnung von Gewalt zu finden. Ein Beispiel für ein Werk, das sich lange vor der Staatsgründung damit beschäftigt hat, ist das Buch »Machane Israel« von HaChafets Chajim, einem der wenigen Rabbiner, die bereits zu Lebzeiten Akzeptanz von allen Strömungen des Judentums erlangten. Der im russischen Kaiserreich in Radin (Belarus) unter dem bürgerlichen Namen Israel Meir HaKohen/Kagan geborene HaChafetz Chajim (»der, der Lust am Leben hat«) war zudem einer der bedeutendsten Rabbiner des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Eine andere Vorstellung von Armee

Das 1881 geschriebene Buch »Machane Israel« ist das erste jüdische Buch, das sich an Soldaten richtet. Es wurde auf Hebräisch für jüdische Soldaten verfasst, die in der Armee des Zaren dienten. Später wurde es auch ins Englische übersetzt und von US-amerikanischen jüdischen Soldaten während der beiden Weltkriege konsultiert. Der erste Teil des Buchs befasst sich mit Fragen des Alltagslebens und beantwortet diese auf der Grundlage der Halacha. Im zweiten Teil beschäftigt sich HaChafetz Chajim mit ethischen Fragen und Überlegungen, wie sich ein Soldat gegenüber den Mitgliedern seiner Truppe verhalten soll. Er zitiert darüber hinaus ein Gebet, das um Frieden und die Erlösung des jüdischen Volks bittet.

HaChafets Chajim schreibt am Anfang seines Buchs: »Nach allem, was wir wissen, brauchen Soldaten oft des HERRN Barmherzigkeit mehr als alles andere, wie in Kriegszeiten und dergleichen.« Ein Soldat ist nicht stark, sondern ohnmächtig. Er benötigt des HERRN Barmherzigkeit. Das Leben eines religiösen Menschen sollte außerhalb der Armee, in einer religiösen Community geführt werden. Manchmal ist er gezwungen, seine Community zu verlassen und in der Armee zu dienen. Wenn sich ein religiöser Mensch in einem solchen System befindet, muss er sich mit einer von der Tora geleiteten Welt umgeben, die ihn sowohl physisch als auch spirituell schützt und als Anker fungiert, der ihn mit seiner wahren Welt, der Welt der Tora, verbindet.

HaChafets Chajim lehnt die Auffassung, der Militärdienst sei eine erfreuliche Zeit und eine Chance zur Demonstra-tion von Macht, ab. »Und er [der religiöse jüdische Soldat] wird sehr vorsichtig sein, nicht in seinem Herzen zu denken, wenn er in den Krieg zieht: Ja, wir sind Helden und Soldaten für den Krieg. Er wird im HERRN sein Hauptbollwerk sehen und ihm vertrauen, dass ER uns hilft, so wie [es] geschrieben steht [Psalm 147: 10–11]: ›Nicht an des Rosses Gewalt hat er Lust, nicht an den Schenkeln des Mannes Gefallen. Gefallen hat an dem ihn Fürchtenden ER, an ihnen, die auf seine Huld harren‹.«

Manche betrachten Religiosität als etwas, das die Menschen passiv und kritiklos macht. HaChafets Chajim fordert jedoch, dass ein jüdischer Soldat täglich aktiv die Entscheidung trifft, nach einem Wertesystem zu leben, das sich von dem normativen System, in dem er sich befindet, unterscheidet. HaChafets Chajim verlangt von einem in der Armee dienenden Juden, dass er sich den Normen, den Standards und der Ordnung widersetzt, die ihm das militärische Umfeld vorschreibt.

Ist das Buch »Machane Israel« für die israelische Armee heute noch relevant? Die Situation eines religiösen Soldaten in der israelischen Armee ist nicht die eines jüdischen Soldaten in der Armee des Zaren. Kurzum, es ist für religiöse Soldat:innen in der israelischen Armee einfacher, religiöse Gebote einzuhalten, sowohl individuell als auch in der Gruppe. Aber während die Einhaltung religiöser Gebote sehr viel leichter wurde, ist es heute so gut wie unmöglich, eine separate religiöse Welt innerhalb der israelischen Armee aufrechtzuerhalten. Denn die Armee ist nicht die des Zaren. Dies ist die klare Prämisse der national-religiösen Strömung in Israel.

Die Rechtfertigung des religiösen Kriegs

Das Buch »Dinei Tsawa uMilchma« (Gesetze der Armee und des Kriegs) war eines der ersten Bücher, das explizit in der israelischen Armee dienende Soldaten adressierte – eine Art israelisches Äquivalent zu »Machane Israel« von HaChafets Chajim. Während sich HaChafets Chajim mit den moralischen Fragen des jüdischen Soldaten beschäftigte, stellen die Rabbiner des religiösen Zionismus die Institution des jüdischen Staats über den Soldaten. Der Soldat soll seine Sichtweisen und Ideen aufgeben, da er Teil einer Institution ist, die für ihn ethische Entscheidungen trifft.

»Ein Soldat, der in den [besetzten] Gebieten dient, kennt Krieg und einen neuen Feind: Er schießt auf einen Terroristen und sieht dessen Mutter und Schwester über der Leiche weinen; er verhaftet einen Terroristen und sieht dessen kleine Kinder, die sich an ihn klammern, während er bei der Festnahme aus seiner Wohnung geführt wird.

Ein Soldat, der an einem Lager von Flüchtlingen vorbeikommt, sieht, wie sie in schrecklicher Armut leben, und erinnert sich daran, dass dort, wo er oder seine Freunde wohnen, vielleicht einige der Flüchtlinge früher zu Hause waren.

Der Hass in ihren Augen wird greifbarer als die Legitimität unseres Handelns. Es entsteht ein moralisches Problem, das immer akuter wird, und er fragt sich: Warum sind sie hungrig und obdachlos, während wir satt sind? Warum herrschen wir über sie gegen ihren Willen? Welches Recht haben wir, diese unsere Macht auszuüben?

Diese ethischen Fragen stellen sich nur, wenn wir unser Handeln aus einer engen Perspektive, die nur einen Ausschnitt der Situation betrachtet, beurteilen.

Die Rechtfertigung für unser Handeln ist Eretz Israel. Das Recht, unseren Willen einer feindlichen Bevölkerung aufzuzwingen, das Recht, uns überall in Eretz Israel anzusiedeln, das Recht, Terroristen zu erschießen und ihre Häuser zu sprengen, auch wenn sich dort Frauen und Kinder aufhalten – die Rechtfertigung für all dies findet sich nicht im alltäglichen Handeln. Unser Recht darauf ist auf einer ganz anderen Ebene begründet, es geht nämlich um unser Anrecht auf unsere Existenz als Volk und unser Anrecht auf Eretz Israel.« 1

Hier wird das Handeln in Eretz Israel religiös begründet, nämlich mit dem »Anrecht auf Eretz Israel«. Dieses Recht steht den Verfassern zufolge nach über dem Gewissen des jüdischen Individuums und zwingt dieses, seine Erziehung bewusst zu ignorieren. Das steht im klaren Gegensatz zu den Anweisungen von HaChafets Chajim. Es hat etwas Zynisches, wenn man dazu aufgefordert wird, die Augen vor Leiden zu verschließen, um »Dinge mit offenen Augen zu sehen und zu untersuchen«. Der religiöse jüdische Soldat wird aufgefordert, den säkularen israelischen Nationalismus als Souverän zu setzen, gegenüber dem (allein) er loyal sein muss. Das ist die Bedeutung der Rechtfertigung »unser Anrecht auf unsere Existenz als Volk«. Das heißt, obwohl der Staat Israel ein säkularer Staat ist, haben die Rabbiner des religiösen Zionismus entschieden, dass die von Israel geführten Kriege, einschließlich der Besetzung der palästinensischen Gebiete, religiös gebotene Kriege sind, das heißt Kriege, die nicht auf einem Dekret eines säkularen Herrschers beruhen, sondern auf der Tatsache, dass der HERR diese Kriege initiiert hat.

Dass der religiöse Zionismus von einem jüdischen Staat spricht, ist ein eklatanter religiöser Widerspruch, eine völlige Negierung der jüdischen Prinzipien der Kriegsführung. Denn bei den jüdischen Prinzipien der Kriegsführung steht die Entscheidung des HERRN im Zentrum, während der Kampf der israelischen Armee sich nach den Befehlen von Generälen und Entscheidungen der politischen Führung richtet. Die halachische Frage ist nicht einfach zu beantworten: Wie kann entschieden werden, dass die von Israel geführten Kriege religiös gebotene Kriege sind, wenn es keinen religiösen Mechanismus für göttliche Interventionen gibt, über den man erkennen kann, dass es sich tatsächlich um ein Gebot des HERRN handelt?

Damals wie heute basiert diese Argumentation auf einer Verschmelzung des säkularen Staats mit dem »jüdischen Volk« im religiösen Sinne. Die Regierung wird zum König und der Soldat zum Kohen (Priester). Es finden damit zwei gefährliche Prozesse statt: Das Individuum verschwindet (und mit ihm die jüdische Tradition und oft auch die Halacha selbst, die an die Gläubigen gerichtet ist) und die weltliche Herrschaft wird mit einem religiösen Wert aufgeladen (was unendliche Unterstützung für militärische Gewalt mobilisiert). Dadurch wird das Staatliche nicht zur Religion, sondern das Religiöse wird »nationalisiert«.

Im Staat der modernen Lügen

Wenn die Möglichkeit eines »religiös gebotenen Kriegs« verworfen wird, bleibt als einzige Rechtfertigung für die von Israel geführten Kriege die Behauptung, dass es sich um Verteidigungskriege handelt. Diese Rechtfertigung ermöglicht es religiösen Menschen, an einem solchen Krieg aktiv teilzunehmen, da die jüdische Tradition Selbstverteidigung erlaubt. Es handele sich um Selbstverteidigung, ist auch das am häufigsten von säkularer Seite genutzte Argument zur Legitimierung der Besatzung.

Die gängige Freiheitsvorstellung in Israel lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Freiheit in Israel sowie individuelle und kollektive Sicherheit lassen sich nur mithilfe eines gewissen Maßes an Herrschaft über die Palästinenser:innen realisieren. Die allermeisten jüdischen Israelis sind davon überzeugt, dass ihre Freiheit von der Entrechtung und Unterdrückung anderer abhängt und dass sie ohne die Besatzung nicht frei leben können. Das Verlangen der Palästinenser:innen nach ihrem eigenen Staat zwinge die Israelis dazu, sie zu unterdrücken. Im Laufe der Jahre wurde diese Behauptung zeitlos. Das Freiheitsbestreben der Palästinenser:innen an sich wird als eine Gefahr für jüdische Israelis betrachtet. Von daher sei man bis in alle Ewigkeit dazu gezwungen, sie zu entrechten und zu unterdrücken. Es lohnt sich, sich diesen Gedankengang noch einmal zu vergegenwärtigen. Die jüdische Tradition hat so einiges über die Möglichkeiten des säkularen Souveräns, uns von imaginären Bedürfnissen zu überzeugen, zu sagen.

Aaron Samuel Tamares (1869–1931) war der Rabbiner einer kleinen jüdischen Gemeinde in Osteuropa. Er war als scharfsinniger unabhängiger Publizist bekannt, der sich besonders durch seine Kritik am Militarismus der zionistischen Bewegung sowie auch an der Versteinerung der jüdischen Orthodoxie hervortat. Von ihm liegen Predigten, Erneuerungen in der Halacha, publizistische sowie persönliche und poetische Texte vor.

In seinem Buch »Mussar haTora vehaJahadut« (Ethik der Tora und des Judentums) von 1912, in dem seine Predigten zu den verschiedenen Feiertagen zusammengestellt sind, beschäftigt sich Tamares auch mit dem Begriff der Freiheit.2 Sein Hauptaugenmerk ist auf den richtigen Umgang mit Kriegen, Rache und Gewalt gerichtet. Er schreibt: »Es ist bekannt, dass [uns] die Tora zu dem Zweck gegeben wurde, den Charakter der Menschen zu reinigen und sie von der Unreinheit der bösen Taten zu trennen.«

Laut Rabbiner Tamares wurde dem jüdischen Menschen durch die Gabe der Tora eine Aufgabe übertragen sowie ein Werkzeug an die Hand gegeben, dieser nachzugehen. Ein Jude hat die Aufgabe, außen vor zu bleiben und den Bereich der Wahrheit und den der Lüge zu identifizieren, wobei die Tora das Werkzeug ist, mit dem wir die Wahrheit erkennen. Nach Tamares Ansicht ist der Staat der Bereich der modernen Lüge. Er schreibt:

»Dies ist das Geheimnis all der großen Kriege, Energien, Massaker und Morde auf der Welt und insbesondere der Verfolgung der Juden und der Pogrome gegen sie; das Geheimnis der Vereinigung ganzer Völker, um schwache Völker in großer Anzahl zu schlagen und zu unterdrücken. Denn der Zusammenschluss zu ganzen Gangs, um gemeinsam Böses zu tun, ohne sich voreinander zu schämen, ist nur möglich mit lügenhaften Ansichten, die es ›erlauben‹, zu morden oder dies ›schönzureden‹ […]«

Mord ist demnach die größte Sünde. Der Staat jedoch stellt das Töten im Krieg als eine positive oder notwendige Handlung dar. Aber es ist die schlimmste Gewalt. Rabbiner Tamares fordert, die Behauptungen der Regierenden, die meist Ausreden seien, kritisch zu prüfen. Das führt wiederum zur Frage der israelischen Herrschaft über die Palästinenser:innen: Hängt die Freiheit der Israelis wirklich von der Fortsetzung dieser Herrschaft ab?

Die vermeintliche Freiheit, das Land anderer zu besetzen

Die Vorstellung, die Freiheit der Palästinenser:innen schade der Freiheit und dem Leben der Israelis, ist eine auf bösartigen Lügen beruhende intellektuelle Verirrung: »Wir besetzen nicht, weil wir besetzen müssen. Wir besetzen, weil wir besetzen können.«

Es ist klar, dass die Militärherrschaft über die Palästinenser:innen keine vorübergehende, sondern eine permanente Angelegenheit ist. Die Besatzung ist keine Maßnahme zur Verhinderung konkreten Handelns, sondern sie ist ein Phänomen der Gewalt, das angeblich Leben erhält. Aber Menschen ihrer Freiheit aus der Angst heraus zu berauben, sie könnten diese gegen uns verwenden, ist ein moralisches Unrecht, das der jüdischen Tradition zuwiderläuft. Permanente Entrechtung und Unterdrückung aus Angst vor Angriffen der Unterdrückten, das widerspricht allen ethischen Standards des religiösen Judentums.

Wie kann Freiheit etwas Positives sein, wenn die Existenz des jüdischen Staats auf der Verweigerung der Freiheit anderer beruht? Wie kann man über soziale Gleichheit, wirtschaftliche Gleichheit oder Gendergleichheit reden, wenn sich der Staat auf Ungleichheit gründet?

Religiöse Menschen fühlen sich verpflichtet, die Wirklichkeit um sie herum genau wahrzunehmen. Das geht nur, wenn sie die Realität nicht durch die Brille des Staates, sondern durch die des Individuums und der religiösen Gemeinde betrachten. Vor allem müssen religiöse Menschen erkennen, dass Entrechtung und Unterdrückung der Palästinenser:innen nicht alternativlos bzw. zwingend sind, sondern Ergebnis politischer Entscheidungen und bestimmter Fähigkeiten und Ressourcen: der Fähigkeit, aus Sicherheitsbedenken anderen ihre Freiheit zu verweigern, und dem politischen Willen, die Früchte der Herrschaft zu genießen (man denke an die Landnahme sowie an die nationale Symbolik). Wer danach strebt, ein guter Jude zu sein, kann sein Leben jedoch nicht auf Blindheit und Machtstreben gründen.

Warum es in Israel keine religiöse jüdische Linke gibt

Im Gegensatz zu anderen Teilen der Welt, zum Beispiel den USA, wo es unter religiösen Jüdinnen und Juden eine eindeutig linke Strömung gibt, fehlt diese in Israel – trotz der vielen guten Gründe für ein linkes Engagement gegen Ungleichheit und die Besatzung. Meines Erachtens liegt dies an der Verbindung von Theologie und der Entwicklung nationaler Strukturen. In Israel existieren strikt voneinander getrennte Bildungssysteme für verschiedene Bevölkerungsgruppen und der Unterricht ist in den meisten religiösen Einrichtungen hochgradig politisiert. Die Schulen der Ultraorthodoxen zeichnen sich durch eine starke Abgrenzung von der übrigen israelischen Gesellschaft aus. Sie sind nicht besonders nationalistisch, aber auch nicht besonders humanistisch ausgerichtet. Das religiös-zionistische Bildungssystem ist, wie bereits erwähnt, von einer nationalistisch-religiösen Agenda bestimmt. Es ist zu bedenken, dass all dies innerhalb eines grundsätzlich säkular ausgerichteten politischen Systems geschieht, das wiederum das Konzept der ethnischen Überlegenheit der Jüdinnen und Juden vertritt und fördert. Mit anderen Worten: In Israel ist nicht nur die Anzahl der religiösen Jüdinnen und Juden, die sich als links verstehen, winzig, sondern auch die säkulare Linke recht überschaubar. Marginalisierte Gruppen wie zum Beispiel Religiöse, die an der israelischen Hegemonie teilhaben wollen, bemühen sich daher, besonders staatstragend zu sein, und positionieren sich häufig extrem weit rechts. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass aufgrund von internem und äußerem Druck eine Position, die sich der Vorstellung der ethnischen Überlegenheit widersetzt und Gleichheit unterstützt, in Israel marginal ist – obwohl eine solche von der jüdischen Theologie und Geschichte durchaus unterstützt wird.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass linke Positionen in religiösen Kreisen in Israel Randerscheinungen sind, sie werden nur von einzelnen Personen vertreten und nicht von einer größeren Gruppe oder Gemeinde. Meines Erachtens besteht auch keine Hoffnung auf eine breite religiöse jüdische Bewegung in Israel, die sich für Gleichberechtigung einsetzt. Dennoch ist es wichtig hervorzuheben, dass von denjenigen, die sich aktiv gegen die israelische Besatzung einsetzen, viele einen religiösen Hintergrund haben. Das traf bei der Staatsgründung zu und stimmt auch noch heute. Religiöse Intellektuelle haben sich mit der Nakba und dem Flüchtlingsproblem nach 1948 befasst und dazu geschrieben, darunter Rabbiner Benjamin,3 oder über die Besatzung nach 1967 wie zum Beispiel Jeschajahu Leibowitz.4 Diese Stimmen waren jedoch Ausnahmeerscheinungen, bezogen auf ihre religiösen Gemeinschaften, aber auch auf die israelische Gesellschaft insgesamt. Auch heute sind etliche intellektuellen in Menschenrechtsorganisationen aktiv, beteiligen sich an Solidaritätsaktionen mit Palästinenser:innen oder äußern ihre linke Position in den Medien. Sie kommen in der Regel aus humanistisch orientierten Gruppen und bewegen sich am liberalen bzw. linken Rand der religiösen zionistischen Bewegung.

Darüber hinaus ließ sich in den letzten Jahren beobachten, dass sich relativ viele junge Frauen und Männer mit ultraorthodoxem Hintergrund gegenüber der israelischen Gesellschaft öffnen. Wie bereits erwähnt, ist der Prozess der »Israelisierung« im Allgemeinen mit einer Positionierung im rechten Lager des politischen Spektrums verbunden. Aber es gibt auch Journalist:innen sowie soziale und politische Aktivist:innen, die sich nach links wenden und sich linken Parteien oder Gruppierungen anschließen. Eine davon ist die feministisch-sozialistische ultraorthodoxe Aktivistin Michal Zernowitski, die sich in der Arbeitspartei engagiert; ein weiterer ist der besatzungskritische Journalist Israel Frey, der der chassidischen Strömung Gur angehört. Darüber hinaus gibt es einige aus dem ultraorthodoxen Lager hervorgegangene progressive Organisationen wie Charedim laGerush (Ultraorthodoxe gegen die Abschiebung von Geflüchteten) oder enHaTsibur haCharedi Mamlakhti, eine Bewegung, die sich in vielerlei Hinsicht für eine Gleichberechtigung einsetzt. Die Organisation Rabbiner für Menschenrechte bezeichnet sich selbst als »rabbinische Gewissensstimme in Israel […], die der jüdischen Tradi-

tion der Menschenrechte Ausdruck verleiht«.

Es stellt sich jedoch die Frage, ob dieses Phänomen relevant ist. Ich vermute, dass alle außerhalb der religiösen Communities gute Gründe nennen können, warum ein linker religiöser Diskurs wünschenswert wäre. Solange in Israel die jüdische Geschichte erneut für die eigenen Zwecke (um)gedeutet wird, ist es sehr wichtig, dass es eine jüdische Position als Gegengewicht gibt. Man erinnere sich nur an Jeschajahu Leibowitz, einen der prominentesten Kritiker der israelischen Regierungspolitik zu Beginn der Besatzung. Dass dieser eine Kippa trug, hatte mehr als nur symbolische Bedeutung. Damit rettete er nicht nur die Würde des religiösen Judentums, sondern untergrub auch die Kohärenz des in Israel geschaffenen rechten religiösen Narrativs.

Aber es sollte nicht vergessen werden, dass es sich dabei um einen Blick von außen handelt und nicht um die Perspektive religiöser Aktivist:innen. Aus religiösen Quellen gespeiste Aktionen gegen die Besatzung beruhen nicht auf Überlegungen, was politisch wünschenswert ist, sondern entspringen inneren religiösen Empfindungen und einer von der religiösen Autorität auferlegten Pflicht. Für Jüdinnen und Juden, die sich der Religion verpflichtet sehen, sind der Widerstand gegen die Besatzung und der Kampf um Gleichheit göttliche Gebote, unabhängig von politischen Positionierungen und Idealen. Wie der säkulare humanistische Diskurs liefert auch der religiöse Diskurs verschiedene Motive zum Handeln, und es geht nicht darum, dass sich alle Aktivist:innen diesem Diskurs »anschließen« sollen. Für gläubige Aktivist:innen besteht der Wunsch und die Notwendigkeit, ein würdiges religiöses Leben zu führen und zu zeigen, dass es einen Weg gibt, so zu leben und zu handeln, wie es in Psalm 34:15 geschrieben steht: »Weiche vom Bösen, tue Gutes, trachte nach Frieden, jage ihm nach!«

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Teilnehmer einer Tour für orthodoxe Juden auf dem Tempelberg, 2011. Foto: Activestills

Übersetzung von Ursula Wokoeck Wollin

Anmerkungen

    1. Min-HaHar, Shlomo/Goelman, Issachar/Aizenberg, Yehuda: Dinei Tsawa uMilchma, Jerusalem 1972.

    2. Tamares, Aaron Samuel: Cherut [Freiheit], in: Mosar haTora vehaJahadut, Vilnius 1912,

    S. 27–49.

    3. Siehe zum Beispiel Tsoref, Avi-Ram: Rabbiner Benjamin und die Forderung nach Rückkehr der Flüchtlinge (auf Hebräisch), unter: https://heb.hartman.org.il/the-prosecution-for-the-recovery-of-refugees/.

4. Siehe zum Beispiel Leibowitz, Jeschajahu: Das Judentum, das jüdische Volk und der israelische Staat (auf Hebräisch), Jerusalem 1975.