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MK Ayman Odeh während einer arabisch-jüdischen Demostration gegen den Krieg und die Besatzung, organisiert von der Peace Partnership in Haifa, Juni 2025 Foto: Peace Partnership

"Die Ausweitung der arabisch-jüdischen Zusammenarbeit ist das Gebot der Stunde"

Vor dem Hintergrund schwerer politischer Konfrontationen in Israel wurde der Versuch unternommen, den Vorsitzenden des arabisch-jüdischen Wahlbündnisses Chadasch-Ta’al, Ayman Odeh, aus der Knesset auszuschließen. Man sagte ihm nach, dass er Terror befürworten würde. Odeh war dabei im Parlament fortwährender Hetze ausgesetzt, die in dem Zuruf gipfelte: «In einem anderen Staat würdest du vor ein Erschießungskommando kommen». Als er zu einer Demonstration fuhr, blockierte eine Gruppe von Gegendemonstrant*innen ihm den Weg, umzingelte das Fahrzeug, in dem er sich befand, und zerschlug unter «Tod den Arabern!»-Rufen dessen Scheiben. Donia Abbas führte das Interview mit Ayman Odeh über diese jüngsten Geschehnisse, die politische Realität in Israel und die Zukunft der palästinensischen Gesellschaft.

Donia Abas: Herr Abgeordneter, das gegen Sie unternommene Ausschlussverfahren befasste sich mit einem Tweet, in dem Sie geschrieben haben: «Ich bin froh über die Freilassung der Geiseln und der Gefängnisinsass*innen». Zudem handelte das Verfahren von den Worten, die Sie auf einer Demonstration in Haifa geäußert haben: «Gaza siegte und wird weiterhin siegen». Diese Äußerungen wurden dazu verwandt, Sie der Befürwortung von Terror zu bezichtigen. Was entgegnen Sie hierauf? 

Ayman Odeh: Ich stehe ungebrochen hinter den Worten, die ich gesagt habe. Und zwar sagte ich: «Ich bin froh über die Freilassung der Geiseln und der Gefängnisinsass*innen, und der Ansicht, dass beide Völker vom Joch der Besatzung befreit werden müssen – denn wir sind alle als freie Menschen geboren worden.» Bezüglich der Geiseln und der Gefängnisinsass*innen: Es ist vollkommen klar, dass das israelische Establishment nicht anerkennt, dass es so etwas wie palästinensische Freiheitskämpfer*innen gibt, und zwar aus dem einfachen Grund, dass es das Faktum der Besatzung nicht anerkennt – und auch nicht die Existenz des palästinensischen Volkes. Es ist deshalb auch nicht fähig, in den Palästinenser*innen Menschen zu sehen, die um ihre Freiheit kämpfen.

Selbstverständlich bin ich auch über die Rückkehr der Geiseln froh gewesen – das sind unschuldige Menschen, deren Familien und Mütter auf sie warten. Es berührt mich genauso sehr, wenn ich sehe, wie eine israelische Mutter ihren zurückkehrenden Sohn umarmt, wie es mich berührt, wenn eine palästinensische Mutter ihren zurückkehrenden Sohn umarmt. Als ich sagte, dass beide Völker vom Joch der Besatzung befreit werden müssen, dann meinte ich das absolut ernst. Solange dieses System der Unterdrückung und Besatzung fortbesteht, wird es nicht möglich sein, auch nur eine Person wirklich zu befreien. Die Besatzung ist wie ein Gefängnis – man muss, indem man das Gefängnis abreißt, beide befreien, sowohl den Wärter als auch den Insassen.

Was meine Worte betrifft, die ich auf der Demonstration in Haifa gesagt habe, dass Gaza siegen wird: Ich will, dass Gaza siegt, genauso wie ich will, dass Haifa siegt, dass die Westbank siegt und das Ostjerusalem siegt – und dass Tel Aviv siegt. In diesem Sinne sage ich, dass ich will, dass beide Völker die Besatzung überwinden und dass es, neben dem Staat Israel, zur Gründung eines palästinensischen Staates mit Hauptstadt in Jerusalem kommt – sodass wir wahrhaftig in Frieden leben können. Nur Rassisten sehen keine Schattierungen in Gaza. Ich jedenfalls stehe an der Seite Gazas. Ich stehe an der Seite der Kinder in Gaza, die gerade an Hunger sterben. Ich stehe an der Seite der dort lebenden Frauen und Familien. Ich will, dass Gaza die verbrecherische Besatzung besiegt – einen Sieg erringt, der Teil des menschlichen Kampfes für einen gerechten Frieden ist.

Nach der gescheiterten Abstimmung sagten Sie: «Das faschistische Vorgehen gegen mich ist gescheitert. Dieses Mal siegt der Faschismus nicht – und wir werden es auch in Zukunft nicht zulassen, dass er siegt.» Sehen Sie in dem, was passiert ist, einen persönlichen Sieg oder sprechen wir hier von einem symbolträchtigen Kampf um die politische Repräsentation arabischer Interessen und die Präsenz von Palästinenser*innen in Israel? 

Von Anfang an habe ich klargemacht, dass das Ziel nicht allein gewesen ist, mir persönlich zu schaden. Das war ein Versuch, die Meinungsfreiheit einzuschränken, sowie auch die Freiheit, sich mit dem palästinensischen Volk zu identifizieren. Von 1948 bis auf heutigen Tag versucht das israelische Establishment eine bestimmte Vorstellung vom «arabischen Israeli» zu prägen. Dieser «arabische Israeli» ist abgetrennt vom Kampf seines palästinensischen Volkes und kann zugleich doch auch nicht vollwertiger Bürger Israels sein, eines Staates, der sich selbst als «Staat des jüdischen Volkes» definiert. Eine der Sachen, die das Establishment demnach am meisten empört, ist eben das offene und ehrliche Sprechen über das palästinensische Volk.

Noch nicht ein einziges Mal haben wir einen israelischen Reporter einen jüdischen Knesset-Abgeordneten fragen gehört: «Warum sprichst du über die palästinensische Frage?» – Diese Frage behält man sich allein für die arabischen Knesset-Abgeordneten vor. Man erwartet von uns, dass wir uns auf stadtpolitische Angelegenheiten beschränken: Straßen, Baufundamente, Kanalisation. Demgegenüber ist es jüdischen Knesset-Abgeordneten erlaubt, in aller Freiheit über Gaza und die Westbank zu reden. Wir dürfen indessen nicht einmal über die Westbank sprechen, und das, obwohl uns unser Budget entwendet und den Settlements, der Armee und den Sicherheitsdiensten zugeführt wird. Diese Kluft zeigt an, worum es bei dem Vorgehen gegen mich in Wahrheit geht: Der Kampf ist nicht gegen eine Einzelperson gerichtet, sondern eine ganze Gesellschaft und deren politische und nationale Identität.

Wenn ich zurückweiche, beeinträchtige ich das Recht der Studentin, das Recht des arabischen Arbeiters und das Recht jedes Einzelnen in unserer Community seine Meinung frei und in Würde zu äußern.

Was sind die Konsequenzen dieses Vorfalls für die palästinensischen Bürger*innen Israels? Wie kann der Weg zur politischen Partizipation jetzt noch beschritten werden? 

Für die Angehörigen meines Volkes ist klar: Die kommenden Monate, das heißt bis zu den nächsten Wahlen, werden die schwersten sein, die wir in den letzten zwei Jahren erlebt haben werden. Die faschistische Rechte hat militärische Erfolge in der Region verbuchen können (im Libanon, in Syrien sowie im Iran), zehntausende Palästinenser*innen getötet und die Bevölkerung Gazas verhungern lassen. Sie hat, was die palästinensische Frage betrifft, die im Zentrum ihrer Ideologie steht, jedoch nicht einen einzigen wirklichen geostrategischen Erfolg erzielt. Der Krieg wird zwar zu Ende gehen, doch werden weiterhin über sieben Millionen Palästinenser*innen zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben.

Die Oslo-Abkommen, der größte Erfolg der zionistischen Linken während der letzten Jahrzehnte, wurden der Kritik unterzogen, weil sie weder zu Frieden noch Sicherheit geführt haben. Demgegenüber sah die Rechte im 7. Oktober und dem nachfolgenden Krieg ihre «historische Gelegenheit» und brachte im Verlauf des Krieges ihre großen Parolen in Anschlag: «Was sich nicht mit Gewalt erzwingen lässt – das wird sich mit noch mehr Gewalt erzwingen lassen» und «Lasst die IDF siegen!».

Für die Palästinenser*innen geht es jetzt um zwei Dinge: Erstens müssen wir die innere Front verstärken. Gesellschaftlich heißt das, dass wir das politische Bewusstsein für das, was uns bevorsteht, vertiefen müssen. Zweitens müssen wir die Zusammenarbeit mit jüdisch-demokratischen Kräften ausweiten. Die Ausweitung der arabisch-jüdischen Zusammenarbeit ist das Gebot der Stunde. Der Beweis hierfür ist ganz einfach: Würde es diese Zusammenarbeit überhaupt nicht geben, so hätte man mich erfolgreich aus der Knesset ausgeschlossen.

Drittens: Die Wahl wird entscheidend sein. Wenn der Faschismus an der Regierung ist, müssen alle Anstrengungen darauf ausgerichtet werden, sie zu stürzen. Alles andere muss in den Dienst dieses einen Zieles gestellt werden: die Fortdauer der faschistischen Regierung zu verhindern. Erst nachdem wir sie gestürzt haben, erst nachdem wir den Faschismus aus den Angeln gehoben haben, können wir unseren Kampf fortsetzen.

Wie lässt sich jene arabisch-jüdische Zusammenarbeit in konkretes Handeln übersetzen? Und wie setzen Sie den Kampf für Demokratie innerhalb Israels mit dem Kampf für die Beendigung der Besatzung in ein Verhältnis? 

Ich möchte mit einem historischen Vergleich antworten: Während des amerikanischen Bürgerkriegs im 19. Jahrhundert wandte sich Abraham Lincoln an Frederick Douglass, den Anführer der afro-amerikanischen Bewegung, und ersuchte dessen Unterstützung für den Krieg. Douglass fragte ihn: «Und was ist mit unserer Freiheit?» Lincoln antwortete: «Warte ein wenig ab, erst bringen wir den großen Krieg mit dem Süden zu Ende und dann werden wir über eure Freiheit sprechen.» Woraufhin Douglass erwiderte: «Nein – Wir wollen unsere Freiheit jetzt!» Und so befreite Lincoln die Sklaven. Lincoln, der früher rassistische Ansichten vertrat, wurde plötzlich zum Symbol der Befreiung.

So war es auch mit Rabin und Arafat, de Gaulle und Ahmad Ben Bella, Tony Blair und Gerry Adams, Dick Clark und Mandela. Ehe man verstand, dass der Verlust größer sein wird als der Gewinn, handelte nicht einer von ihnen aus wirklichem Universalismus. Dieses Verhältnis zwischen dem «uneigentlichen Liberalen» und dem prinzipientreuen Menschen zieht sich durch die Geschichte. Der uneigentliche Liberale sieht in den prinzipientreuen Menschen immer nur Reservisten für seinen Kampf gegen den Faschismus – gesichts-, identitäts-, und geschichtslose Reservisten. Er möchte, dass wir für ihn nichts weiter als Reservisten sind.

Gehen wir von dieser Analogie zur größeren Zukunftsvision: Ich erhalte derzeit viele Anfragen für Reden. In jeder einzelnen Rede sage ich: Die Wurzel der «Justizreform» ist die Besatzung. Alle Vertreter der Justizreform sind Siedler. Ihr Ziel ist es, den Obersten Gerichtshof zu beherrschen, um so die C-Gebiete annektieren und palästinensisches Grundeigentum enteignen zu können. Die Justizreform dient der Besatzung. Wir müssen deshalb in einem ersten Schritt das Bewusstsein hierfür schärfen.

Wir wissen ja, dass der Großteil der israelischen Bevölkerung politisch nach rechts tendiert und dass die Mitte und die Linke ohne uns nicht in der Lage sind zu gewinnen. Wir halten dieser Realität genauso stand, wie es Frederick Douglass und all die getan haben, zu denen man im Laufe der Geschichte gesagt hat: «Unterstützt uns und wartet auf eure Freiheit!». Das wird ein anhaltender Disput zwischen uns und den uneigentlichen Liberalen sein. Man kann diesen Disput mit dem vergleichen, was Ende der 1920er Jahre in Deutschland geschah. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die maßgeblich an den Regierungsgeschäften der Weimarer Republik beteiligt gewesen ist, hatte Rosa Luxemburg umbringen, auf Arbeiter*innen am 1. Mai schießen und Kommunist*innen töten lassen. Die Kommunist*innen weigerten sich sodann mit ihr zu kooperieren. Das Ergebnis hiervon sind der Aufstieg des Faschismus und das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte gewesen.

Wie fassen Sie die weltweiten Reaktionen, insbesondere der globalen Linken, auf die gegen Sie geführte Kampagne und die gescheiterte Abstimmung auf? 

Zuerst einmal besteht kein Zweifel darüber, dass dem, was in Israel passiert, seine Besonderheit zukommt. Zugleich hat es aber auch Charakteristika, die global von Relevanz sind. Denn auf globaler Ebene können wir eine krasse Abweichung von den Schlussfolgerungen beobachten, die man infolge des Zweiten Weltkriegs gezogen hatte. Diese Abweichung findet seine Verkörperung in Personen wie Trump, Bolsonaro in Brasilien, Johnson in Großbritannien, Orban in Ungarn, Erdogan in der Türkei, Putin in Russland, Modi in Indien und Netanjahu in Israel. Diese Gruppe von Staatsoberhäuptern hat sich bewusst dazu entschieden, den Schlussfolgerungen des Zweiten Weltkriegs nicht mehr zu folgen – ob bezüglich alldem, was Demokratie betrifft, oder der Achtung der Gewaltenteilung. Wir haben es hier zweifelsohne mit einer globalen Entwicklung zu tun.

Die israelische Besonderheit hängt vor allem mit dem Problem der Besatzung zusammen, das der Nährboden der Krise ist. Ich behaupte nicht, dass die Besatzung die «Wurzel allen Übels» ist – das ist die Parole der israelischen Linken –, denn Unrecht wurde bereits vor 1967 begangen. Aber es besteht kein Zweifel, dass die Besatzung den demokratischen Raum einschränkte, das hauptsächliche Hindernis für die Verbesserung der arabisch-jüdischen Beziehungen war, der Ökonomie schädigte und sich auch negativ auf die gesellschaftliche Stellung der Frau auswirkte.

Wir verlassen uns vor allem auf uns selbst, da wir glauben, dass die Welt Beschwerden und Tränen keine Beachtung schenkt. Ein nationaler Freiheitskämpfer ist der, der die Welt dazu zwingt, ihn zu beachten. Erst dann fängt die Welt an sich zu bewegen. Von 1948 bis 1965 hat sich die Welt nicht für die Palästinenser*innen interessiert, genauso wie sie sich bis zum Auftreten von Mandela und Martin Luther King nicht für den Kampf um die Rechte der Schwarzen interessiert hat.

Die Grundlage internationalen Agierens sind der lokale Kampf und das lokale Selbstwertgefühl. Auf ihnen baut eine internationale Antwort auf. Das ist das, was wir derzeit beobachten können: Es ist auf globalem Maßstab eine beispiellose Bewegung der breiten öffentlichen Unterstützung für die Sache der Palästinenser*innen entstanden. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir internationale Beziehungen mit all den Gruppen und Personen entwickeln, die uns in unserem Kampf unterstützen.

Dieses Interview wurde am 22.7.2025 geführt.

Übersetzung aus dem Hebärischen von Christoph Hopp

Interviewpartner:in

Ayman Odeh ist Mitglied der israelischen Knesset, Rechtsanwalt und einer der prominentesten palästinensischen Politiker in Israel. Er ist ehemaliger Vorsitzender der Vereinigten Liste und derzeitiger Vorsitzender der Chadasch-Liste.

Autor:in

Donia Abbas ist Projektmanagerin im Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

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