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Architektur für die Armen

«Architektur für die Armen» ist der Titel des bekannten Buchs des ägyptischen Architekten Hassan Fathy, das erstmals 1969 veröffentlicht wurde und kürzlich ins Hebräische übersetzt worden ist. Gegenstand ist ein Architektur-Experiment in den späten 1940er Jahren in Qurna, einer Siedlung, die gegenüber von Luxor über dem Friedhof von Theben liegt und immer wieder Ausgangspunkt für Grabplünderungen war. Laut dem Buch wandte sich die oberste Denkmalpflegebehörde Ägyptens (Supreme Council of Antiquities) an Fathy, der Erfahrung mit dem kostengünstigen Bau von Lehmziegelhäusern hatte, um eine neue Siedlung für die Bevölkerung zu planen, die aus der sensiblen archäologischen Stätte in der Nähe des Tals der Könige umgesiedelt werden sollte. Im Rahmen des Projekts entstand eine Reihe von Gebäuden, die kostengünstig an lokale Bautraditionen anknüpfen und diese wiederbelebten. Gleichzeitig bot das Projekt Anlass für die Entwicklung von Ideen über Tradition, den Bau von Großwohnsiedlungen, das verlorene Ideal des Dorfs und die Rolle von Architekt*innen in der modernen Gesellschaft.

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Hassan Fathy, Kairo, 1976. Foto: Martin Lyons

Fathy präsentiert sich in seinem Buch als ein kritischer, aber zugleich auch optimistischer Mensch, als ein begeisterter Humanist, der an die Freiheit jedes einzelnen Menschen glaubt, sein eigenes Schicksal zu gestalten. An Architekt*innen gewandt schreibt er: «Die Welt ist in jedem Moment eine weiße Seite, die auf unseren Bleistift wartet; in dem freien Raum können Sie eine Kathedrale oder eine Mülldeponie platzieren.» Die Frage sei natürlich, wie das gemacht wird. Wenn Fathy über das Bauen nachdenkt, spricht er von der Kraft und Vitalität der Tradition als einem kreativen Prozess, der neue Generationen zur Lösung von Problemen führt. Nicht jede Tradition sei unerlässlich und einige wären bereits tot geboren worden. Durch sorgfältiges Studium der Vergangenheit und vorsichtige Innovationen müssten Künstler*innen – zu denen auch Architekt*innen gehören – sicherstellen, dass die Tradition weiterlebe, bis sie den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreiche.

In einer für ihn typischen Mischung aus Fortschrittlichkeit und religiösem Glauben schreibt Fathy: «Der beste Weg, um Schönheit zu schaffen, besteht nicht unbedingt in einem ungewöhnlichen oder originellen Design. Das gilt auch für Gott, der nicht das Konzept des Designs ändern muss, um Individualität beim Menschen zu schaffen. Es reicht vielmehr aus, die Position oder Größe von einzelnen Gesichtszügen zu verändern, um die gesamte Spannbreite von Schönheit zwischen Kleopatra und Caliban abzudecken.» Mit anderen Worten: Fathy ist konservativ, nicht in politischer Hinsicht, aber in kultureller. Während Bertolt Brecht sagte, dass er immer das Neue bevorzuge, schreibt Fathy, dass «Veränderung nicht immer zum Besseren ist». Wenn Architekt*innen in das Leben einer traditionellen Gesellschaft wie der ländlichen Agrargesellschaft in Ägypten eingreifen, müssten sie die Tradition, «das einzige Mittel zum Schutz der Kultur» in diesen Gebieten, respektieren, da jede Abweichung davon in einer Katastrophe enden würde.

Solche Katastrophen hängen nach Fathys Ansicht natürlich mit dem Ego zusammen, weil viele Architekt*innen fremden Einflüssen nacheifern, die Tradition ihres Landes verachten und Elemente, die sich im Laufe vieler Jahre entwickelt hätten, aus dem egoistischen Streben nach Ruhm auf den Kopf stellen würden. Fathy gibt ein Beispiel, das aus Israel stammen könnte: Jahrhundertelang hätten sich Menschen bemüht, in den verschiedenen Bautraditionen die richtige Größe für Fenster herauszufinden. Wenn jetzt eine sich über die gesamte Wand hin erstreckende Verglasung entworfen wird, dringt zehnmal mehr Sonnenstrahlung ein als bei einem herkömmlichen Gebäude. Selbst wenn dann Schatten spendende Elemente (die in der professionellen Terminologie als brise soleil bezeichnet werden) hinzugefügt werden, dringt in den Raum immer noch eine erhebliche Menge an Wärmestrahlung ein. Wenn diese Schatten spendenden Elemente entsprechend der Größe der Glaswand vergrößert werden, entstehen Lichtstreifen, die die Menschen, die sich im Gebäude aufhalten, blenden. Diese Beschreibung trifft auf 90 Prozent der Gebäude in Israel zu.

Diese Arroganz, argumentiert Fathy, führe zu einer Entfremdung zwischen Architekt*innen und ihren Klient*innen. Die Architekt*innen würden ihre Klient*innen verachten oder sich deren Zustimmung erschwindeln, indem sie «imaginäre Autos und Bäume hinzufügen». Für eine arme Bevölkerungsgruppe sei die Situation sogar noch schlimmer, da der Staat aufgrund von Statistiken und Indikatoren, die kaum mit Lebensqualität in Verbindung stünden, interveniere und eine Million identische Häuser baue. Die Behörden würden ausgerechnet an den Ausgaben für die kreative und technische Arbeit von Architekt*innen und Ingenieur*innen sparen, sodass die Menschen, die in diesen Häusern leben sollen, «ebenso grau und deprimiert wie ihre Häuser [werden], und ihre Fantasie wird schrumpfen».

Die Beobachtungen des Buchs «Architektur für die Armen» sind ehrlich, interessiert und nicht überheblich oder bevormundend und geben die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Bestrebungen armer Menschen wieder. An einer zentralen Stelle im Buch erklärt Fathy, dass ägyptische Landwirt*innen mit durchschnittlichem Einkommen die von der Regierung angebotenen industriemäßig angefertigten Häuser überhaupt nicht finanzieren könnten. «Wer mit Menschen, die in solcher Armut leben, über Fertighäuser spricht, ist mehr als dumm; so jemand ist eine grausame Person, die sich über die Lebensbedingungen dieser Menschen lustig macht», schreibt Fathy. Die Lösung des Problems beginne mit dem Verständnis, dass arme Menschen keine leblosen, passiven Objekte seien, und dass es nicht nötig sei, ein Haus für sie zu bauen, denn «in dem Wunsch eines jeden Menschen nach einem Haus und in dessen Bestreben, ein Haus für sich selbst zu bauen, liegt die Alternative zu den katastrophalen Programmen zum massenhaftem Wohnungsbau so vieler Regierungen». Wenn sich aus dem Buch eine Lehre ziehen lässt, dann ist diese so einfach wie sein Titel: In einer Gesellschaft, die ihre Menschlichkeit nicht aufgegeben hat, sollte Architektur auf die Bedürfnisse der Armen eingehen.

Aber das Projekt selbst verlief anders, als es sich Fathy in seinem Buch vorstellte, und demonstrierte die Komplexität und die inhärenten Schwierigkeiten von Fathys Ansatz. In der Stunde der Wahrheit war das neue Qurna ein riesiger Misserfolg, da die Dorfbewohner*innen, die in die Häuser einziehen sollten, dies ablehnten. Die sorgfältig entworfenen Gebäude standen jahrelang leer und stellten Fathys Ambitionen, die Interessen der zukünftigen Bewohner*innen zu vertreten, infrage. Die Ablehnung der vorgesehenen Bewohner*innen warf grundsätzliche Fragen über die Definition der Tradition und ihrer Beziehung zu einem bestimmten Ort auf: Die Bautraditionen, aus denen Fathy gelernt hatte, waren regional und nicht typisch für die ländliche Umgebung von Qurna. Bei seinen früheren Projekten recherchierte er über Raum und Zeit hinweg und entwickelte Techniken, die auf Bauweisen basierten, die er in Nubien oder im mittelalterlichen Kairo gesehen und gelernt hatte: Maschrabiyyas (Erkerfenster), Kuppeln und Innenhöfe, die zur Syntax des neuen Qurna wurden. Dies war tatsächlich eine ästhetische Sprache, die modernistische Präferenzen (abstrakte Formen, eine begrenzte Farbpalette) mit einer quasi-traditionellen Organisation von Häusern und öffentlichen Räumen verband.

Aber haben diese Dinge wirklich die Bedürfnisse der Zielgruppe befriedigt und ihre Wünsche erfüllt? Es gilt zu bedenken, dass Fathy aus einer oberen gesellschaftlichen Klasse stammte und für die Regierung arbeitete, was nicht half, das Vertrauen der Dorfbewohner*innen zu gewinnen. In dieser Hinsicht ähnelt das neue Qurna trotz seiner architektonischen Innovationen anderen Projekten von Nationalstaaten, die versuchen, die ländliche Bevölkerung in geplanten Ortschaften anzusiedeln. Ist diese Blindheit nicht auch in den wiederholten Plänen, Beduin*innen in «geordneten» Dörfern in Israel anzusiedeln, vorhanden, für die der Staat oft die besten Planer*innen einstellte und vor Ort auf Widerstand stieß, der seine Absichten letztendlich vereitelte? Fathy hat offenbar nie die Ablehnung gegenüber dem Projekt verstanden und sagte mehrmals, dass er versucht habe, etwas Authentisches hervorzubringen, das die Dorfbewohner*innen wohl nicht würdigen könnten. Als die Ortschaft endlich bezogen wurde, änderten viele Bewohner*innen die Architektur der Häuser (zerstörten die Kuppeln oder nutzten die Innenhöfe für die Tierhaltung), um sie an ihre frühere Lebensweise anzupassen, wodurch sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Fähigkeit von Außenstehenden, ihnen Konzepte der Tradition aufzuzwingen, infrage stellten.

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Die Moschee in Neu-Qurna, 2011. Foto: Wikicommons

Was Fathy gut verstanden hat, ist die rhetorische Kraft des Projekts in Qurna. Sein Buch, das ihn zu einem internationalen Star machte, wurde mit Unterstützung der ägyptischen Regierung unter Gamal Abdel Nasser veröffentlicht. Fathys Argument, dass «das arabische Haus Ausdruck der arabischen Kultur» sei, und die eklektische Auswahl der Traditionen, die er vorschlug, um dieser Kultur architektonisch Ausdruck zu verleihen, passten gut in die panarabische Agenda, die Nasser in diesen Jahren förderte. Das war nur die erste Phase. Als das Buch unter seinem jetzigen Titel (der ursprüngliche war: «A Tale of Two Villages») von der University of Chicago Press in Jahr 1973 veröffentlicht wurde, wurde es direkt zum Hit in der kritischen Diskussion über die Unzulänglichkeiten der Moderne in der Architektur, die sich bereits an vielen Stellen abzeichneten.

Zur selben Zeit rückte die Architekturkritikerin Jane Jacobs den schnell voranschreitenden Verlust an Urbanität durch riesige Entwicklungsprojekte in US-amerikanischen Städten ins Zentrum der Debatte, und das Architektenehepaar Robert Venturi und Denise Scott Brown begann seinen scharfen Angriff auf den asketischen internationalen Stil, der die Städte weltweit überflutete. In diesem Zusammenhang wurde Fathys konservativer Ansatz zu einer Innovation und zu einem Anknüpfungspunkt für Kritik an den nordeuropäischen Traditionen, die den Wohnungsbau für die breite Bevölkerung im Irak, in Griechenland, Ägypten und Israel geprägt hatten. Hat denn Israel, das aufgrund statistischer Planung und mit Modernisierungslust Hunderttausende in identischen Häusern unterbrachte, etwas anderes gemacht als das, was in Ägypten Ende der 1940er Jahre gemacht wurde? Fathys Arbeit wurde zu einem gemeinsamen Referenzpunkt für eine neue Generation von Architekt*innen, die außerhalb der Zentren der Architektur arbeiteten und nach Wegen suchten, die Annahmen der internationalen Moderne infrage zu stellen.

Im Laufe der Jahre gesellte sich zu dem Lob für das Buch auch Kritik, insbesondere aus postkolonialen Perspektiven wurde gefragt, ob Fathys Beziehung zu seinen potenziellen Zielgruppen in Projekten wie dem in Qurna aufgrund seiner soziale Stellung, seiner Arbeit für die Regierung, seiner stilistischen Synthese, die er als Tradition definierte, und der Tatsache, dass er sein Buch auf Englisch veröffentlicht hatte, nicht problematisch sei. Jedoch zeigten auch diese angesehenen Kritiker*innen, die an führenden Universitäten arbeiteten und ihre Artikel auf Englisch veröffentlichten, in der Regel kein besonderes Bewusstsein für ihre eigene Position als vermeintliche Sprecher*innen der ägyptischen Fellach*innen.

Angesichts all dessen stellt sich die Frage: Welche Relevanz hat die aktuelle Wiederauferstehung von Fathys Buch durch seine Übersetzung ins Hebräische? Zunächst einmal ist die Übersetzung eines Buchs über Architektur, das sich speziell mit den geografischen und klimatischen Bedingungen in der Region, in der sich Israel befindet, und nicht etwa mit deutschen Bauhausvierteln oder US-amerikanischen Wolkenkratzern befasst, eine erfrischende Ergänzung der lokalen Bibliotheksbestände und eröffnet einen Zugang zu alternativen Ansätzen zur Architektur in der Region. Darüber hinaus wird dieses Buch vielleicht dazu beitragen, uns mit einigen in Israel gängigen Annahmen über Wohnen und sozialen Status auseinanderzusetzen. Nach der Vorstellung, die wir uns zurechtgelegt haben, gibt es in Israel keine Armut in dem Ausmaß wie in Ägypten, und die wirtschaftlich und sozial Geschwächten erhalten Hilfe, die es verhindert, dass sie Hunger leiden. Das ist ein schöner Mythos aus der Zeit des Sozialstaats. Erstaunlicherweise ist dieser Mythos auch nach 30 Jahren neoliberaler Politik noch vorhanden. Kürzlich erklärte ein israelischer Minister ausdrücklich, dass es keinerlei Grundlage für die Behauptung gebe, dass Menschen in Israel nichts zu essen haben. Gleichzeitig hat die Corona-Krise die wirtschaftlich prekäre Situation weiter Kreise der israelischen Bevölkerung noch deutlicher zutage gefördert. In dieser Debatte, die in den Medien oft anhand von bewegenden Geschichten über Lebensmittelpakete, die von gutherzigen Menschen an Bedürftige geschickt werden, erzählt wird, kommt die Wohnungsfrage nicht vor. In vielen Fällen ist jedoch die Bezahlung der Wohnung der bedeutendste Ausgabeposten von Haushalten in Israel, durch den sie der Gefahr eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs am dramatischsten ausgesetzt sind.

Derzeit basiert der Wohnungssektor in Israel auf gesichtslosen Objekten, die von Bauunternehmen errichtet werden, die chinesische oder palästinensische Arbeitnehmer*innen beschäftigen, um immer mehr Wohnungen auf den von billigen Krediten getragenen Markt zu bringen. Aus Sorge um die Interessen der Banken unterstützt der israelische Staat dieses Kreditwesen beständig. Zugleich hat er es jahrzehntelang unterlassen, ein alternatives System langfristig sicherer Mieten aufzubauen, und den öffentlichen Wohnungsbau drastisch zurückgefahren. Abgesehen von den damit verbundenen wirtschaftlichen Risiken werden die meisten derzeit errichteten Wohnungen mit einem Minimum an Planungsinnovation und in schlechter Qualität gebaut. Das Interesse der Bauunternehmen hat Vorrang vor dem der zukünftigen Bewohner*innen. Der Preis einer Wohnung steht immer weniger im Zusammenhang mit ihrer Qualität. In den letzten Jahren hat eine ganze Reihe von Fällen Schlagzeilen gemacht, bei denen erhebliche Mängel in «Luxus»-Projekten in Gegenden mit großer Nachfrage aufgetreten sein sollen. Der Mangel an Planung und architektonischer Innovation ist jedoch der gravierendste Aspekt, da die Wohnsiedlungen, in denen die Mehrzahl der israelischen Bevölkerung lebt, bei den dramatischen Veränderungen des Lebensstils, wie sie dieses Jahr mit der Corona-Krise eingetreten sind, auf diese Weise in sozialer und kultureller Hinsicht nicht weiter funktionieren können. Fathys respektvoller und bescheidener Umgang mit der Umwelt, die Beteiligung der Community an der Planung und beim Bau und der Versuch, über die lokalen und regionalen Bautraditionen mit all den damit verbundenen Herausforderungen nachzudenken, sind das, was den diversen Wohnungsbauprogrammen, wie die «Savyoni»-Viertel (Wohnviertel «im Grünen») und das Programm «Preis für den Bewohner» (staatliches Ausschreibungsverfahren für verbilligtes Bauland, bei dem das Bauunternehmen, das den niedrigsten Verkaufspreis für die zu errichtenden Wohnungen verspricht, den Zuschlag erhält), fehlt. Um zu verhindern, dass die Bewohner*innen ihre Fantasie und Motivation verlieren, muss das Modell für den Wohnungsbau für breite Bevölkerungsschichten in Israel vollständig neu – vom ihm zugrunde liegenden Kreditwesen bis hin zu seiner Prioritätensetzung – überdacht werden.

Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin

Dan Handel (geb. 1978) studierte an der Graduate School of Design der Harvard-Universität Architektur und promovierte am Technion Israel Institute of Technology in Haifa. Als Kurator konzentriert er sich auf forschungsbasierte Ausstellungen, mit besonderem Augenmerk auf wenig erforschte Ideen, Figuren und Praktiken, die zeitgenössische gebaute Umgebungen prägen. Er hat Ausstellungen für die Biennale in Venedig und das Neue Institut in Rotterdam entwickelt. Seine Arbeiten erschienen u.a. im Harvard Design Magazine und im Journal of Landscape Architecture. Er ist Herausgeber der Publikationen Aircraft Carrier (Hajte Cantz, 2012), Yasky und Co. (Tel Aviv Museum, 2016), und Manifest: A Journal of American Architecture and Urbanism.

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