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Stains and Stampings, jüdische und palästinensische Kunst in Israel

Ein neues Buch mit dem Titel “Stains and Stampings: Mizrachi and Palestinian Identity in Visual Art in Israel“ zeigt, wie viele Ähnlichkeiten es zwischen der Kunst von jüdischen Mizrachim/Mizrachijot und der Kunst von Palästinenser*innen gibt. In einer Zeit, in der in der israelischen Gesellschaft die Betonung auf Unterschieden liegt und selbst vom Premierminister Spaltungen und Hass zwischen den Bevölkerungsgruppen forciert und geschürt werden, ist die Veröffentlichung eines Buchs über die Gemeinsamkeiten von palästinensischer und Mizrachi-Kunst eine Art Wunder.

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Das Buch „Stains and Stampings“ geht auf eine Wanderausstellung aus dem Jahr 2004 mit dem Titel „Die Mizrachim und die arabische Identität in der visuellen Kunst in Israel“, zurück. Kuratiert wurde sie von Shula Keshet, eine der Gründer*innen der Bewegung „Achoti [Schwester] – für Frauen in Israel“, zusammen mit dem palästinensischen Künstler Zahed Harash. Diese Wanderausstellung, die ein Jahr lang in verschiedenen arabischen und jüdischen Orten in Israel zu sehen war, bestand aus sechs verschiedenen Ausstellungsteilen.

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Künstlerin und Kuratorin Shula Keshet, „Achoti – für Frauen in Israel“

Jede der sechs Ausstellungen behandelt ein spezifisches Thema: Vergessen und Gedächtnis, Raum, Wunden, Wurzeln, Begegnung sowie Identität. Dies sind zweifellos Themen, die jede Künstlerin und jeden Künstler ansprechen, unabhängig von ihrer bzw. seiner ethnischen, religiösen oder nationalen Herkunft. Aber indem man Künstler*innen aus der Gemeinschaft der Mizrachim/Mizrachijot und der Palästinenser*innen bewusst zusammenbrachte, ihre Werke Seite an Seite zeigte, wurde es möglich, Ähnlichkeiten und Verbindendes hervorzuheben. Einerseits, andererseits auch nicht. Es handelt sich nicht um eine gemeinsame Präsentation im Rahmen des linken zionistischen Diskurses, der versucht, ein falsches Bild von einer erzwungenen „Koexistenz“ und einer künstlichen „Brüder- oder Schwesterlichkeit“ zu präsentieren, die es in der Alltagsrealität von Millionen von Menschen so nicht gibt. Und es handelt sich auch nicht um eine Präsentation, die Unterschiede und Unrecht negiert und verdeckt.

Das Buch erschien anlässlich zweier Ausstellungen, die im November 2015 eröffnet und bis Ende Februar 2016 zu sehen waren, eine in den Räumen von Achoti in Tel Aviv und die zweite in der Kunstgalerie in Nazareth. Farid Abu Shakra hat zusammen mit Shula Keshet die zweite Ausstellung kuratiert und ist auch Mitherausgeber des Buches.

Im Buch und in den Ausstellungen sind direkt nebeneinander die künstlerischen Werke angeblicher Erzfeinde platziert, von Menschen, von denen man annimmt, dass sie sich gegenseitig des Verrats beschuldigen und mit Dolchstoßvorwürfen konfrontieren: Palästinenser*innen und Mizrachim/Mizrachijot (wobei Letztere in der Regel für politisch rechts gehalten werden und als „Araberhasser*innen“ gelten). Dabei wird versucht, Symbole, Formen, Techniken und Inhalte zu identifizieren, die gemeinsame kulturelle Ursprünge, eine gemeinsame Vergangenheit und Gegenwart haben, trotz der vorhandenen Unterschiede. Das Buch, schreibt Keshet, „erkennt die Unterschiede zwischen den Künstler*innen an und respektiert sie, jedoch untersucht es auch deren Gemeinsamkeiten und deren Wurzeln, die aufs Tiefste mit der arabischen, der muslimischen, der jüdischen Mizrachi- und der palästinensischen Lebenswelt verflochten sind, aber auch mit Israel, das sich selbst als westlich sieht.“

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„Herzl’s Balcony“ (Herzls Balkon) von Ashraf Fawakhry (2012), aus „Stains and Stampings“

So werden zum Beispiel bei den im Buch vorgestellten Werken häufig Text und Textilien verwendet, zwei Formen, die typisch für die Region und für die jüdische sowie für die muslimische Kultur sind. Da es im Judentum und im Islam verboten ist, Skulpturen und Bilder zu schaffen, wurde die Schrift – der Text – ein künstlerisches Ausdrucksmittel. Beispiele hierfür finden sich in den Werken von Anisa Ashkar, die arabische Texte auf ihr Gesicht geschrieben hat; in Shula Keshets Portrait von David Ben-Gurion, dem ersten israelischen Premierminister, mit dem Titel „Wir brauchen Menschen, die als Arbeiter geboren wurden“; in „Setonfire“ (Angezündet) von Yoram Blumenkrantz, in dem die Buchstaben des hebräischen Alphabets und die Ziffern in einer Feuerinschrift erscheinen; in der Arbeit von Neta Elkayam mit dem Titel „Yehudiya“ (Jüdin), in der das Wort in Arabisch geschrieben und mit zwei Fischen verziert ist (die sowohl ein jüdisches als auch ein christliches Symbol sind); und in den Werken von Merav Sudai wie zum Beispiel „Inschallah“, in dem das Wort in Hebräisch und Arabisch geschrieben von Tapetenflecken und Ornamenten umrahmt ist.

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„Mashkhara 1“ (Schwärzung 1) von Anisa Ashkar (2009), aus „Stains and Stampings“

Für die Arbeiten, die sich mit Textilien befassen, gilt es zu bedenken, dass sich das Textilgewerbe bekanntlich in dem als „Orient“ bekannten Teil der Welt als Kunsthandwerk herausgebildet hat. Überall auf der Welt weiß man von der besonderen Qualität der ägyptischen Baumwolle, der chinesischen Seide, der persischen Teppiche und der afghanischen Stoffe. So ist im Buch zum Beispiel eine Reihe von Arbeiten der palästinensischen Künstlerin Buthina Abu Milhem mit dem Titel „Die Nadel besiegt den Schneider“ zu sehen. Das Werk besteht aus mehreren Hemden, alle mit palästinensischer Stickerei versehen und mit schwarzen Fäden und Knäulen dekoriert, die an ein Palästinensertuch (Kufiya) erinnern. Vorgestellt wird auch Keshets Werk „Selbstportrait mit Teppich“, das unter anderem auf die persische Herkunft der Künstlerin anspielt. In einer ganzen Reihe von Arbeiten befassen sich die Künstler*innen mit dem Kopftuch oder anderen Formen der Kopfbedeckung. In Simhons Werk „Veiled“ (Verschleiert) tragen zwei israelische Frauen – die eine Jüdin, die andere eine Palästinenserin – ein Kopftuch, das sich nur durch die Art und Weise, wie es gebunden ist, unterscheidet. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass nicht wenige Künstler*innen – zum Beispiel Anisa Ashkar, Shula Keshet und Neta Elkayam – ihr eigenes Gesicht als Leinwand verwenden, als Präsentationsfläche für die Schaffung von Kunst.

Zwei Arbeiten sind besonders interessant. Die eine ist „19:48“ von Yoram Blumenkrantz, in der eine digitale Uhr zu sehen ist, auf der die Zeit stehengeblieben ist. Hier nimmt er offensichtlich Bezug auf das Jahr 1948, das Jahr der Gründung des Staates Israel und des Ausbruchs des Krieges gegen die arabischen Nachbarstaaten. Im Buch ist von 1948 jedoch nicht nur von dem Jahr der jüdischen Unabhängigkeit und der palästinensischen Nakba die Rede, sondern es wird auch als ein wichtiges Jahr betrachtet für die in Israel verbliebenen Palästinenser*innen und für die Mizrachim/Mizrachijot, die beide in diesem Jahr von der arabischen Welt getrennt wurden. Für die Palästinenser*innen in Israel schlossen sich 1948 die Grenzen, die Mizrachim/Mizrachijot verließen ihre damaligen Heimatländer, um nach Israel auszuwandern.

Die zweite außergewöhnliche Arbeit ist die von Leor Grady, in der die hebräischen Buchstaben Chet und 'Ajn in Gold gestickt zu sehen sind. Dies verbindet nicht nur Text mit Textilien, sondern hebt auch eine weitere, diesmal sprachliche Gemeinsamkeit zwischen den in Israel lebenden Palästinenser*innen und den Mizrachim/Mizrachijot hervor. So sind sie als arabischsprechende Menschen – ob nun jüdischen, muslimischen oder christlichen Glaubens – besonders darauf bedacht, diese beiden gutturalen Konsonanten Chet und 'Ajin richtig auszusprechen. Das gilt sowohl für das Arabische als auch für das Hebräische. Diese beiden Konsonaten trennen nicht nur Mizrachim/Mizrachijot und aschkenasische Jüdinnen und Juden voneinander, sondern stellen eine (potenzielle) Verbindung zwischen den Mizrachim/Mizrachijot und den palästinensischen Israelis her.

Das gesamte Buch – einschließlich der Titel der Werke, der Credits und der Aufsätze – ist dreisprachig verfasst: auf Hebräisch, Arabisch und Englisch. Das ist angemessen für Künstler*innen, deren Arbeit darauf beruht, dass sie sich als Menschen aus dieser Region verstehen und nicht als Tourist*innen oder Gäste. Das Buch lässt nicht nur die drei Sprachen nebeneinander stehen, als ein Akt politischer Korrektheit, sondern es führt die Leser*innen praktisch die verschiedenen Narrative, die Kurzbiografien der 34 im Buch vorgestellten Künstler*innen, die Unterschiede und auch die Ähnlichkeiten vor Augen, die sich in den verschiedenen Sprachen und deren Wirkung und Zusammenspiel widerspiegeln. Das Buch enthält zum Beispiel den bahnbrechenden Essay von Yehouda Shenhav „The Bond of Silence“ (Die Fessel des Schweigens),[1] der zum ersten Mal vor 20 Jahren in der Wochenendbeilage der Tageszeitung Haaretz erschienen ist. Der Artikel hatte damals eine heftige Debatte und wütende Reaktionen ausgelöst, was zeigt, wie schmerzhaft die Wunde ist, in die der Autor seinen Finger zu legen wagte. Für den Ausstellungskatalog wurde der Essay auf den aktuellen Stand gebracht, wobei es erstaunlich ist, wie wenig für die Aktualisierung geändert werden musste.

Das Buch „Stains and Stampings“ konzentriert sich, wie bereits der vollständige Titel verrät, auf visuelle Kunst in Israel, das heißt, er beschränkt sich auf das Schaffen innerhalb der bestehenden nationalen Grenzen. Da es sich aber mit der palästinensischen Identität und der der Mizrachim beschäftigt, durchbricht es zugleich diese Grenzen, bringt die künstlichen, durch nationale Identitäten erzeugten Trennlinien durcheinander und reißt Mauern ein, die letztendlich sowieso einstürzen werden. Die Bedeutung dieses Buches ist meines Erachtens deshalb nicht auf die Kunstwelt beschränkt, sondern ist auch mindestens genauso wichtig für eine allgemeine öffentliche Auseinandersetzung und diejenigen, die wie ich „nichts von Kunst verstehen“. Dies ist ein Buch über Flecken und Prägungen, worunter nicht nur Arbeitstechniken, künstlerische Bilder oder Metaphern zu verstehen sind. Es handelt von „befleckten“ Kulturen, die andere Kulturen mit ihrem Stempel versehen. Hier wird das „Pure“ und „Reine“ der Kulturen hinterfragt, in der Überzeugung, dass die Flecken, also die Hinterlassenschaften anderer Kulturen und ihre Einflüsse jede Gesellschaft und Kultur bereichern können. Eigentlich sind der Austausch und die Wechselwirkung so immens, dass es nicht mehr möglich ist zu wissen, wer wen beeinflusst hat bzw. was der Ursprung war oder ob es einen solchen je gegeben hat. Man fragt sich manchmal sogar, ob es ein „wir“ und „die Anderen“ in dieser essentialistischen Form wirklich gibt.

Im Dezember 2015 starb der Politikwissenschaftler Benedict Anderson, der vor allem durch sein berühmtes und umstrittenes Buch „Imagined Communities“ („Vorgestellte Gemeinschaften“; auf Deutsch „Die Erfindung der Nation“) bekannt geworden ist. Kulturelle Quellen, gemeinsame Geschichte und Traumata – all dies ist seiner Meinung nach als Kitt erforderlich, damit aus einer großen Ansammlung von Individuen eine imaginierte Gemeinschaft wird. Das Buch „Stains and Stampings“ ermöglicht einen wenn auch nur flüchtigen Blick auf eine andere Sichtweise, die gleichfalls künstlich, gekünstelt, romantisch, vielleicht sogar pathetisch daherkommt, aber ganz bestimmt nicht mehr gekünstelt oder konstruiert ist als die Fantasie, die die nationale Idee von uns abverlangt.

(Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin)

Der Artikel erschien ursprünglich am 9.1.2016 in der hebräischen Tageszeitung Haaretz.

Anmerkungen:

[1] Die englische Übersetzung findet sich unter: http://people.socsci.tau.ac.il/mu/yshenhav/files/2013/07/the-bond-of-silence.pdf