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Palästinensische Bewohner von Khirbet Zanuta packen ihre Habseligkeiten und Baumaterialien, als sie nach einem Anstieg der israelischen Siedlergewalt während des Gaza-Krieges aus ihren Häusern fliehen, Westjordanland, 1. November 2023. Foto: Oren Ziv

«Wenn ihr nicht verschwindet, bringen wir euch um»: Im Umland von Hebron fliehen Hunderte Palästinenser*innen vor israelischer Siedlergewalt

Am Abend des 13. Oktobers erhielt ich um 22 Uhr einen Anruf von Amer Abu Awad, einem palästinensischen Bewohner der kleinen ländlichen Gemeinde Khirbet Al-Radeem, südlich von Hebron im besetzten Westjordanland. «Die Siedlerhaben mich angegriffen», berichtet er mit angsterfüllter Stimme. «Einige von ihnen trugen Armeeuniformen. » Die Angreifer aus dem nicht genehmigten Siedlungs-Außenposten Havat Meitarim wurden von Yinon Levy angeführt, der den Bewohner*innen von Al-Radeem kein Unbekannter ist; zwei Monate zuvor hatte Levy einen anderen Bewohner und dessen Familie unter Drohungen dazu gebracht, ihr Haus zu verlassen.

«Sie griffen mich an, schlugen meinen betagten Vater, stießen ihn zu Boden, zogen ihn durch die Pfützen und richteten ihre Waffen auf uns», setzt Abu Awad seinen Bericht fort, und macht eine Pause, um zu Atem zu kommen. «Sie sagten, ich müsse bis morgen verschwinden, sonst gehe es mir und meiner Familie an den Kragen.»

Am Morgen des nächsten Tages rief Abu Awad mich erneut an. «Ich will fort, aber die Straßen sind gesperrt.» Nach stundenlangen Bemühungen gelang es ihm schließlich, sich mit seiner fünfköpfigen Familie und der Schafherde in die Stadt As-Samu zu retten. Sein Haus, seine Möbel, sowie die Ställe und das Futter für die Tiere musste er dabei zurücklassen. Die Familie musste ihre gesamte Habe zu Fuß in Sicherheit bringen, da die israelische Armee keinerlei Fahrzeuge in die Gegend ließ.

Später am Abend kehrten die Siedler mit einem Bulldozer nach Al-Radeem zurück, demolierten Abu Awads Haus und die Viehställe, zerstörten sein Getreide und beschädigten die Solaranlagen. Zurück blieben nichts als Ruinen.

Seit über einem Monat richtet sich die Aufmerksamkeit der Medien vor allem auf den Gazastreifen, nachdem Israel diesem nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober den Krieg erklärt hat. Doch viele vergessen, dass die Kriegserklärung auch dem Westjordanland galt. Seit dem 7. Oktober verüben israelische Siedler*innen und Soldat*innen überall in den besetzten Gebieten gemeinsam Angriffe auf palästinensische Gemeinden; wie im Fall von Al-Radeem trugen einige Siedler dabei sogar Armeeuniformen.

In den ländlichen Gebieten um Hebron im südlichen Westjordanland läuft diese brutale Offensive auf Hochtouren. Vielerorts sahen sich Palästinenser*innen unter dem Druck der rund um die Uhr stattfindenden Siedlerangriffe dazu gezwungen, ihre Wohnorte zu verlassen. Siedler steckten Häuser in Brand, stahlen Schafe, blockierten Straßen und verwüsteten Eigentum. Sie schossen auf palästinensische Anwohner*innen, schlugen und bedrohten sie und führten Leibesvisitationen durch. Selbst die Stadt Hebron blieb von dem Treiben nicht verschont, da die israelische Armee in Zusammenarbeit mit Siedler*innen eine Ausgangssperre in dem als H2 (s. Hebron) bezeichneten Teil der Stadt verhängte und die Notstandsgesetze dazu führen, dass Täter*innen in noch geringerem Maße als zuvor zur Rechenschaft gezogen werden können.

Das führte dazu, dass mehrere Gemeinden aus dem Umland von Hebron, die in Zone C liegen – also in jener Zone, die zwei Drittel des Westjordanlandes ausmacht, vollständig unter israelischer Kontrolle steht und sämtliche israelische Siedlungen beherbergt –, vollständig geräumt und mitsamt den zugehörigen Ländereien von Siedler*innen beschlagnahmt wurden. Seit dem 7. Oktober mussten schätzungsweise 400 Palästinenser*innen in der Gegend von Hebron vor diesen Gräueln fliehen, darunter 100 Frauen und mehr als 150 Kinder.

Insgesamt scheint es, als ob die israelische Siedlerbewegung nun den günstigen Augenblick gekommen sieht, um der palästinensischen Präsenz in Zone C ein Ende zu bereiten. «Der Krieg wird vielleicht aufhören, aber werden die Bewohner*innen zurückkehren können?», diese Frage ließ Abu Awad in unserem Gespräch keine Ruhe. Es gibt darauf keine Antwort. Derzeit können wir nur festhalten, dass in Al-Radeem kein palästinensisches Leben mehr existiert. Und die Zukunft lässt wenig Gutes für seine ehemaligen Bewohner*innen erahnen.

Legalisierte Siedlungs-Außenposten

Unweit von Al-Radeem, wo Abu Awads Familie ihr Zuhause hatte, griffen Siedler die Familie von Issa Abu al-Kasbah an. In diesem Fall kamen die Täter aus Asa’el, einem Siedlungs-Außenposten, dessen Legalisierung die israelische Regierung im September dieses Jahres beschlossen hat. Asa’el ist damit eine von zehn sogenannten wilden Siedlungen im Westjordanland, die dieses Jahr nach israelischem Recht legalisiert wurden (während nach internationalen Recht alle Siedlungen in den besetzten Gebieten nach wie vor illegal sind).

Asa’els neuer Status scheint seine Bewohner*innen zu ermutigen, ihre Angriffe auf Palästinenser*innen zu intensivieren. Seit Monaten legen sie Weinstöcke in der Gegend an, um ihren Anspruch auf Kontrolle des Landes zu festigen. Bei den israelischen Behörden eingelegte Beschwerden von palästinensischer Seite zeigten keine Wirkung.

Am 19. Oktober griffen Siedler Abu al-Kabash an und drohten ihn zu ermorden, falls er sein Haus nicht räumen sollte; kurze Zeit später flüchtete er mit seiner zwölfköpfigen Familie, sechs davon Kinder. Seither hat sich keiner der geflüchteten Palästinenser*innen getraut, in die Gegend zurückzukehren.

Das auf den Oslo-Friedensprozess der 1990er Jahre zurückgehende System zur Klassifizierung der besetzten Gebiete unterteilt das palästinensische Territorium und seine Ballungszentren in drei verschiedene Kategorien und spricht seinen palästinensischen Bewohner*innen jeweils unterschiedliche Rechte zu – wobei diese in jedem Fall weit hinter den Rechten der israelischen Siedler*innen zurückbleiben, die in denselben Gebieten leben. In Zone C bemüht sich das israelische Besatzungsregime aktiv darum, die Vorherrschaft der Siedlerbewegung zu sichern.

Nach dem Kriegsausbruch vom 7. Oktober ergriffen die Siedlerbewegung und ihre rechtsextremen Unterstützer*innen die Gelegenheit, um gegen tausende unbewaffnete Palästinenser*innen eine Welle der Aggression loszutreten. In der Region um Masafer Yatta in den südlichen Hebron-Bergen belagert die israelische Armee faktisch zwölf palästinensische Gemeinden unter dem Vorwand, dass ein großer Teil des Gebiets als «militärisches Sperrgebiet» eingestuft wurde. Anfang 2022 gab Israels Oberster Gerichtshof grünes Licht für die Pläne der Armee, 1200 palästinensische Bewohner*innen aus der entsprechend gekennzeichneten Zone zu vertreiben. Seither eskaliert die Gewalt gegen diese Dörfer sowohl seitens der Streitkräfte als auch seitens der Siedler*innen und macht das Leben der dort ansässigen Familien zusehends unerträglich.

 «Unser Leben in Al-Qanoub ist vorbei»

Die palästinensischen Bewohner*innen waren bisher nicht in der Lage, sich den Siedlermilizen entgegenzustellen oder sie abzuwehren. Am 9. Oktober griffen mehr als 40 israelische Siedler die östlich von As-Sai’r und nördlich von Hebron liegende Gemeinde Al-Qanoub an. Einige der Angreifer*innen waren maskiert und mit Gewehren oder Knüppeln bewaffnet.

Der 76-jährige Mohammed Shalaldeh lebt seit Jahren mit seiner zehnköpfigen Familie, zu der auch fünf Kinder gehören, in dem Dorf. Ich kenne die Familie schon lange. Sie sprachen stets von ihrer Liebe zum Land und ihrer Entschlossenheit, standhaft (sumud) in Al-Qanoub zu bleiben, damit die Siedler*innen den Ort nicht in ihre Hände bekämen. Doch die Familie wurde ihrer Lebensgrundlage nun vollkommen beraubt.

«Um vier Uhr nachmittags umstellten die Siedler*innen meine Familie und begannen ihren Angriff mit der Zerstörung der Solaranlage», erinnert sich Shalaldeh. «Bei der Verwüstung unserer Wohnräume machten sie ein fürchterliches Geschrei, das die Kinder zum Weinen brachte. Wir hatten Angst, gerieten in Panik und waren wie gelähmt. Damit sie uns nichts antäten, versuchten wir uns von ihnen fernzuhalten und zogen uns daher gemeinsam in ein kleines Zimmer zurück. Für die Siedler*innen war das die Chance. Sie machten alles kaputt und ließen keinen Stein auf dem anderen.»

Als die Siedler*innen endlich abzogen, raubten sie Shalaldehs 150 Schafe starke Herde und trieben sie in die Siedlung Metzad. Er versuchte ihnen zu folgen, doch sie «richteten ihre Waffen auf mich und drohten mich zu erschießen. Ich war im Schockzustand. Die Schafe waren unser gesamter Besitz. Wir werden sie nie zurückbekommen. Ich habe alles verloren.»

Sechs Stunden später, um 22 Uhr, umzingelten maskierte Siedler das Haus erneut. «Sie brachen in das Haus ein und schrien uns an. Wir haben anderthalb Stunden lang Todesangst ausgestanden. Sie stahlen unser Geld, 10.000 Jordanische Dinar (etwa 13.000 Euro), den Erlös aus dem Verkauf von Schafen, mit dem ich Futter für meine Herde kaufen wollte.»   

Kurze Zeit später «befahlen die Siedler uns, das Zimmer zu verlassen. Sie jagten uns weg und hießen uns, nicht zurückzukommen. Ich versuchte vergeblich, mit ihnen zu reden. Nachdem wir länger durch die Nacht marschiert waren, «bemerkten wir dort, wo unser Haus stand, einen Lichtschein. Die Siedler hatten meinen Hof in Flammen gesetzt. Unser Leben in Al-Qanoub ist vorbei.»

 «Es war unmöglich, die Eltern zum Bleiben zu bewegen»

In den folgenden Tagen ging in den kleinen palästinensischen Gemeinden südlich von Hebron die Angst um. In Umm A-Tiran, A’nizan, Maqtal Msalam und ‘Atiriyah begannen neun Familien mit insgesamt mehr als 70 Mitgliedern, die Hälfte davon Kinder, ihre Häuser abzubauen und ihre Herden in andere Gegenden zu bringen. Im Schutze der Dunkelheit schlichen Siedler sich auf mehrere Höfe, um Schafe zu stehlen und die Bewohner*innen im Schlaf zu überfallen.

Viele Palästinenser*innen gehen derzeit durch einen Alptraum der Gewalt und stehen vor der Entscheidung, ob sie ihr Land für Sicherheit aufgeben sollen. Imad Abu Awad aus Maqtal Msalam ist einer von ihnen. Zwar hatten Siedler*innen aus illegalen Außenposten wie Asa’el und Havat Yehuda sein Dorf bereits in der Vergangenheit gewaltsam angegriffen, doch waren dabei bislang keine Schusswaffen im Spiel. Doch mit dem 7. Oktober änderte sich alles.

«Sie warfen mit Steinen nach mir und zwangen mich, meine Schuhe und meinen Mantel auszuziehen,» berichtet Abu Awad von seinen Erlebnissen während des letzten bewaffneten Siedlerangriffs. «Sie warnten mich, ‹Wenn ihr nicht aus der Gegend verschwindet, bringen wir euch um.› Dann zogen sie lachend ab und ließen mich dabei wissen, dass das ganze Land bald ihnen gehören werde.»

Ganz ähnlich erging es mehr als 25 palästinensischen Familien mit etwa 250 Mitgliedern, die aus Khirbet Znuta, südwestlich von A-Dhahiriya, vertrieben wurden. Das Dorf wird seit Jahren von Siedler*innen bedrängt, die die Bewohner*innen am Zugang zu ihren Weideflächen hindern. Sie haben sich daran gewöhnt mit erhöhter Wachsamkeit in ihren Zelten zu schlafen, da sie jederzeit Angriffe der Siedler*innen befürchten. Eine Entscheidung des Obersten Israelischen Gerichtshofes aus dem Jahr 2012 konnte das Dorf nicht schützen, da sich die Siedler*innen an keinerlei Gesetze halten.

Am Morgen nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober griffen israelische Siedler*innen die Bewohner*innen von Zanuta an, bewarfen ihre Zelte mit Steinen und hinderten sie daran, das Dorf zu verlassen. Während israelische Soldat*innen die Straße zum Dorf blockierten, zerstörten Siedler die Solaranlagen der Anwohner*innen. In den folgenden Tagen begann der Exodus dieser Familien.

«Die Abende sind ein Alptraum»

Die Angst grassiert nicht nur im ländlichen Raum. Auch in Hebron wurden viele palästinensische Viertel zur Zielscheibe von Siedler und Armee, zum Beispiel Tel Rumeida. Das Viertel in der von israelischem Militär kontrollierten Zone H2 leidet schon lange unter Siedlerangriffen, die in den letzten Wochen jedoch noch einmal zugenommen haben.

«Mit der Kriegserklärung vom 7. Oktober wurde ein großes Kontingent israelischer Sicherheitskräfte in die Nachbarschaft und die angrenzende Shuhadastraße entsandt», erklärt der ortsansässige Imad Abu Shamsiyya. «Sie haben die Gegend abgeriegelt, eine Ausgangssperre verhängt und Checkpoints eingerichtet, die alle Bewohner*innen vom Betreten und Verlassen des Viertels abhalten. Die erste Kriegswoche war ein Alptraum.» 

«Die Armee hat Posten auf meinem Dach und neben meinem Haus bezogen», fährt er fort. «Dann teilten sie uns mit, dass wir das Viertel nur zwischen 7 und 8 Uhr verlassen und nur zwischen 18 und 19 Uhr betreten dürften. Zehn Familien aus meiner Nachbarschaft haben sich entschieden, für immer zu gehen; einige ihrer Angehörigen leiden an Krebs oder Nierenversagen, manche haben Kinder. Ich mache ihnen keinen Vorwurf.»   

Abu Shamsiyya fährt fort: «Die Abende sind alptraumhaft. Niemand kann schlafen, weil die Siedler uns jeden Moment angreifen können. Sie laufen sogar in Militäruniform herum. Etwa 120 Familien in der Nachbarschaft sind völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Es kann stundenlang dauern, bis man jemanden ins Krankenhaus bringen oder einen Krankenwagen holen darf. Wir bekommen nicht einmal ein Stück Gasrohr durch den Checkpoint. Seit mehr als 20 Tagen konnten wir keine Genehmigung vom israelischen Koordinations- und Verbindungsbüro erhalten, um unser eigenes Haus zu betreten.»  

Viele andere Stadtteile von Hebron unterliegen der gleichen Ausgangssperre: Wadi al-Hussein, Jabira, Al-Ras, Ghaith und Al-Salamiya. Und wie schon immer in dieser Stadt, ist den israelischen Siedler*innen erlaubt, was den Palästinenser*innen verboten ist.

Areej al-Jabari ist Mutter von fünf Kindern und lebt im Al-Ras-Viertel, das ebenfalls in die Kategorie H2 fällt. Keine 100 Meter östlich von ihrem Haus haben Siedler*innen ein Gebäude beschlagnahmt. Davor liegt eine Straße, die sie nun nicht mehr passieren/betreten darf. Wenn Soldat*innen oder Siedler*innen sie dort entdecken, stürmen sie auf al-Jabari zu, die rasch flüchtet, um nicht angegriffen zu werden. «Was sollen wir nur tun, wenn das so weitergeht?» fragt sie mit Sorge in der Stimme.

Wie alle palästinensischen Kinder in der Gegend gehen auch die Kinder von al-Jabari nicht mehr zur Schule. Seit dem 7. Oktober, einem Tag, an den sie sich lebhaft erinnert, sind ihr Geist und ihr Herz von Angst erfüllt.

«Wir wurden von einer Lautsprecherdurchsage geweckt – sie verkündeten eine Ausganssperre», entsinnt sich al-Jabari. «Wir schalteten den Fernseher und unsere Telefone ein und begriffen, was passiert war», fährt sie fort. «In diesem Moment fragte ich mich, ob sich die Siedler*innen an uns rächen würden. Alles schien anders und beängstigend. Auf den Straßen war niemand unterwegs. Als die Nacht hereinbrach, ging ich ans Fenster und wollte nachsehen, was draußen los war. Zu meiner Überraschung schrie mich ein Soldat mit vorgehaltener Waffe an, und befahl mir, zurückzutreten und das Fenster zu schließen.»

«Die Situation verschlechtert sich zusehends», so al-Jabari weiter. «Die Schulen haben geschlossen, alles steht still. Wir leben hier im offenen Vollzug! Vielleicht geht uns bald das Essen aus. Es gibt keinen Ausweg. Wer vor die Tür geht, riskiert, festgenommen oder getötet zu werden.» 

Übersetzung aus dem Englischen von Gegensatz Translation Collective.

Dieser Artikel ist am 22.11.2023 ursprünglich in englischer Fassung in +972Magazine erschienen. 

Autor:in

Imad Abu Hawash ist ein palästinensischer Aktivist und Wissenschaftler aus Al-Tabaqa bei Dura, südwestlich von Hebron.