Alternative text missing

Rechtsextremer MK Itamar Ben Gvir am Damascus Gate, Jerusalem, Juni 2021. Foto: ActiveStills

Lizenz zum Töten: Ben-Gvirs Freikorps

Vor dem Hintergrund der Massenproteste, denen es gelungen ist, die von Benjamin Netanjahus rechter Regierung vorangetriebene Gesetzesreform vorübergehend einzufrieren, sorgte die von Minister Itamar Ben-Gvir initiierte Debatte über «bewaffnete Milizen» für Schlagzeilen und für Besorgnis in weiten Kreisen der israelischen Öffentlichkeit. Bereits nach dem Ausbruch der Gewalt im Mai 2021 hatten palästinensische Staatsbürger*innen in Israel vor einer solchen Militarisierung der Polizei, dem Phänomen und seinen Folgen, gewarnt, denn sie hatten sie bereits unmittelbar zu spüren bekommen.

Die Ereignisse im Mai 2021 stellen einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen den jüdischen und den palästinensischen Staatsbürger*innen Israels dar, und es scheint, dass diese Eskalation und die daraus folgende Verschlechterung des Verhältnisses zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen, insbesondere in den binationalen, jüdisch-palästinensisch Städten, unvermeidbar war. Bei den binationalen Städten handelt es sich um Städte, die bereits vor 1948 bestanden, in denen heute eine jüdische Mehrheit und eine palästinensische Minderheit leben und in denen es besonderer Anstrengungen bedarf, um eine harmonische Koexistenz der beiden nationalen Gruppen mit ihren unterschiedlichen Identitäten und Bedürfnissen zu ermöglichen. Es gibt verschiedene Analysen der tiefer liegenden Prozesse, die zu der Eskalation geführt haben, aber eine der wichtigsten Entwicklungen steht in direktem Zusammenhang mit der Einrichtung von sogenannten „Thora-Kernen[1] in diesen binationalen Städten . Die Thora-Kerne sind ein Phänomen, das sich in den letzten 20 Jahren entwickelt hat. Hierbei handelt es sich um Familien, die aufgrund ihrer siedler-zionistischen Ideologie aus Siedlungen in den besetzen palästinensischen Gebieten in «gemischte» Städte umgezogen sind, um diese – angesichts der dort lebenden liberalen jüdischen und palästinensischen Bevölkerungsgruppen – zu «judaisieren» und die national-religiöse Infrastruktur zu stärken. Ihre Tätigkeit wird sowohl direkt als auch indirekt staatlich finanziert.

Diejenigen, die das Geschehen in den besetzten palästinensischen Gebieten verfolgen, wissen, dass die Siedler*innen seit Jahren keine Mittel gescheut haben, um den Palästinenser*innen dort das Leben tagtäglich zur Hölle zu machen, und ihnen gegenüber gewalttätig sind, wobei eine große Bandbreite von Waffen und Angriffsformen zum Einsatz kommt und sich die Siedler*innen der vollen Unterstützung der israelischen Armee sicher sein können. In der Praxis arbeiten die Siedler*innen und die Armee eng zusammen, als «integrierte Militäreinheiten», die im «besten» Fall landwirtschaftliche Felder und Bäume niederbrennen und Steine werfen und im schlimmsten Fall Palästinenser*innen angreifen und sogar Zivilist*innen töten. Doch – und davor warnen Menschenrechtsorganisationen und Aktivist*innen seit Jahren – die Verbrechen der Besatzung werden nicht an der Grünen Grenze haltmachen; sie werden sich schließlich auch nach Israel hinein ausbreiten.

Dies geschah im Zuge der Ereignisse im Mai 2021. Beim Schüren der Gewalt kam den Siedler*innen eine Schlüsselrolle zu. Sie riefen in sozialen Medien zu Angriffen auf palästinensische Bürger*innen auf und kamen zum Teil von außerhalb in die binationalen Städte, um sich an den Angriffen zu beteiligen, wobei sie bewaffnet waren und in einigen Fällen von der Polizei unterstützt wurden. Das Ergebnis war das Ende der Suche nach versöhnlichen Lösungen, die dem Verständnis verpflichtet sind, dass sich die beiden nationalen Bevölkerungsgruppen einen gemeinsamen Raum teilen, in dem es darum geht, für eine bessere und für eine gemeinsame Zukunft zu kämpfen. Dies ist daher eine neue Situation, in der sich nationalistische Stimmen durchsetzen konnten, in der die palästinensische Gesellschaft als ein Feind betrachtet wird, der bekämpft werden muss, und in der die Erweiterung der Polizeibefugnisse im Hinblick auf Einschüchterungs- und Gewaltmaßnahmen gefordert werden.

Seit Mai 2021 sind mehrere Initiativen vorangetrieben worden, die solche Maßnahmen umsetzten. Eine davon ist die Förderung von Bürgerpatrouillen in binationalen Städten. So wurde in der Stadt Beer Sheva die «Bar-El Patrouille – das Komitee zur Rettung des Negev» gegründet, die sich als Freiwilligeneinheit organisiert und mit der Polizei zusammenarbeitet. Erst nachdem Nichtregierungsorganisationen beim Generalstaatsanwalt Beschwerde dagegen eingelegt hatten, dass die Patrouille Spenden für ihre Aktivitäten sammelt, was gegen das Gesetz, das den öffentlichen Dienst regelt, verstößt, zog sich die Polizei von der Teilnahme an der gemeinsamen Eröffnungsfeier zurück. Laut Angaben auf der Webseite der Patrouille weitet sie ihre Aktivitäten auch auf andere Ortschaften im Negev aus, wo sie Trainings und sogar die Ausstellung von Zertifikaten in Zusammenarbeit mit der Polizei anbietet. Laut Website «wird ihre Rolle [d. h. der Patrouille] darin bestehen, ein Kräftemultiplikator für die Sicherheitskräfte im Negev zu sein, eine hochqualifizierte zivile Freiwilligentruppe aus Veteranen der Kampfeinheiten der IDF [Die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte] und der Polizei». Denn es handelt sich hier nicht um einen normalen Freiwilligendienst für den Mischmar haEzrachi (die freiwillige Bürgerwehr), sondern um eine «unabhängige Truppe».

Almog Cohen, der Koordinator der Partei Otzma Jehudit im Süden Israels, der auch einer der Gründer der Patrouille ist, erklärte in der Vergangenheit, er wolle «bewaffnete Leute mit einem [Waffen-]Schein » rekrutieren, die für die Sicherheit der Bewohner*innen des Negev sorgen sollen. Auf der Ynet-Webseite wird er wie folgt zitiert: «Wir ziehen in den Krieg im südlichen Distrikt; das Ziel ist es, den [Polizei-]Kommandanten des Bezirks abzulösen. Wir werden mit unseren eigenen Waffen auf die Straßen [innerhalb und außerhalb von Ortschaften] gehen. Wir werden die Bewohner des Negev schützen, was die Polizei nicht tun kann.» Weiter heißt es, dass Cohen in Vorbereitung auf seine Kandidatur bei den Knesset-Wahlen seine Konten in den sozialen Netzwerken Facebook und Twitter gelöscht habe, wo er die Bürger*innen unter anderem dazu aufgerufen hatte, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen. «Kristallnacht – die Negev-Version», schrieb er zur Zeit der Militäroperation «Guardian of the Walls» im Mai 2021, «Wenn die Samthandschuhe nicht ausgezogen werden, wie es der Polizeipräsident angekündigt hat, werden wir sie ausziehen.»[2]

In der binationalen Stadt Lod, im Zentrum des Landes, wurde die Organisation «Schomrim al ha’Ir» ([Wir] bewachen die Stadt) gegründet, die bereits beim Justizministerium als gemeinnützige Organisation registriert ist. Laut den dort zugänglichen Informationen sind die Gründer der Organisation mit Chabad und Thora-Kernen verbunden. Zu ihren erklärten Zielen gehören: «Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit durch Verhinderung von Personen- und Sachschäden, Unterstützung des Schutzes und der Sicherheit vulnerabler Communities, Förderung der Ansiedlung in gemischten Städten durch die Erhöhung der persönlichen Sicherheit. Förderung von Freiwilligen-Engagement für Wach- und Sicherheitszwecke.» Auch in diesem Fall erfolgte die Gründungsinitiative und die Eröffnungsfeier in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung und der örtlichen Polizeistelle. Der Chef der Polizeistelle in Lod sprach sogar mit den Medien über das Thema und erklärte: «Wir starten ein Projekt im Ramat-Eschkol Viertel[3]: eine Bereitschaftsgruppe, die mit uns, der Polizei und den Einsatzkräften, zusammenarbeiten wird – Freiwillige, die die Einsatzkräfte begleiten, die bewaffnet sind und die Teams verstärken. Mit der Zeit wollen wir in jedem Stadtteil eine solche Gruppe einrichten. Wir haben in Ramat Eschkol mit der Rekrutierung von etwa dreißig guten Kumpels begonnen, die Erfahrungen mit Militärpatrouillen haben, Offiziere.»[4]

Private Initiativen, die die Bewaffnung von jüdischen Bürger*innen fördern, sind auch in Scheich Dscharrah in Ost-Jerusalem aufgetaucht, und es deutet alles darauf hin, dass sich das Phänomen weiter ausbreiten wird, zumal der Minister für nationale Sicherheit, Ben-Gvir, der explizit rassistische Ansichten vertritt und in der Vergangenheit Kahanes terroristischer Kach-Bewegung angehörte, derjenige ist, dem die öffentliche Sicherheit und die persönliche Sicherheit der Staatsbürger*innen anvertraut sind.

Bereits lange vor seiner Wahl hat Ben-Gvir mit Planungen in diese Richtung begonnen und jetzt ist die Einrichtung von bewaffneten Kräften tatsächlich im Koalitionsvertrag festgeschrieben, den Ben-Gvirs Partei Otzma Jehudit mit der von Netanjahu geführten Likud-Fraktion im Dezember 2022, unmittelbar nach den letzten Wahlen (im November 2022), unterzeichnete. In Artikel 108 des Koalitionsvertrags ist darüber hinaus Folgendes festgelegt: «Die Regierung wird einen Beschluss fassen, der es einer Kommune, mit Zustimmung des Innenministers und des Ministers für nationale Sicherheit, ermöglicht, aus Budgets zur Entwicklungsförderung (im Gegensatz zum laufenden Budget) Gelder zur Deckung von Ausgaben zu entnehmen, die mit der Errichtung von Sicherheitspatrouillen verbunden sind oder mit der Einrichtung zusätzlicher Stellen für die kommunale Polizeiarbeit, sowohl für den Kauf von Einsatzwagen und Ausrüstung als auch für Personalkosten.»

Gleichzeitig hat Ben-Gvir alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Gründung einer Nationalgarde voranzutreiben, und es ist ihm gelungen, in Artikel 90 des Koalitionsvertrags Folgendes festzulegen: «Die Regierung wird innerhalb von 90 Tagen nach ihrem Amtsantritt einen Beschluss fassen, basierend auf der Vorlage des Ministers für nationale Sicherheit zur Regulierung der israelischen Nationalgarde, einschließlich eines detaillierten Zuweisungsplans, dem Hauptquartier und der Organisationsstruktur, der Befugnisse, der Normierung sowie eines zusätzlichen Budgets zu den Budgets für die nationale Sicherheit, wie im Folgenden vereinbart wird, und dies alles ab dem Jahr 2023 auf der Grundlage des Staatshaushalts. Im Rahmen des Regierungsbeschlusses wird beschlossen, den Grenzschutz aus der Polizei auszugliedern und zu einem unabhängigen Dienst, mit einem ähnlichen Status wie dem des Israel Prison Service, zu machen und dem Minister zu unterstellen; und die entsprechenden Gesetzesänderungen vorzunehmen …»

Nun wird das in der Koalitionsvereinbarung niedergelegte Versprechen eingelöst und in einen konkreten Plan umgesetzt. Dies geschieht jetzt, weil Netanjahu zugesichert hat, die Angelegenheit voranzutreiben, nachdem Ben-Gvirs, der mit dem Austritt seiner Partei aus der Koalition droht, nun – als Gegenleistung – einer zeitweiligen Unterbrechung des Gesetzesreformprozesses zugestimmt hat. Die Erfüllung der Forderung bedeutet in der Praxis die Einrichtung einer von der Polizei unabhängigen Truppe. Dabei wird der Grenzschutz in eine operative Einheit umgewandelt, die die Aufgaben der Polizei übernimmt und deren Kommandeur dem Minister, nämlich Ben-Gvirs, unterstellt ist.

Nach der Debatte in der Regierungssitzung, die am 2. April 2023, nur fünf Tage nach Netanjahus Ankündigung, die Gesetzesreform-Offensive auf Eis zu legen, stattfand, wurde beschlossen, den Vorschlag anzunehmen und circa 1,5 Milliarden Schekel (rund 375 Millionen Euro) aus den Budgets aller anderen Ministerien zu streichen, um die Launen von Netanjahus Koalitionspartner zu befriedigen. Wie verschiedene Medien berichteten, werden so unter anderem das Jahresbudget des Verteidigungsministeriums um 285 Millionen Schekel (rund 71 Millionen Euro), des Ministeriums für Bildung und Hochschulwesen um mehr als 100 Millionen Schekel (rund 25 Millionen Euro) und das der Sozial- und Gesundheitsministerien um etwa 40 Millionen Schekel (rund 10 Millionen Euro) gekürzt.

Trotz der Diskussionen und der Genehmigung des Plans sind bisher nicht viele Details über die konkrete Ausgestaltung der Miliz und die Art und Weise, wie sie geführt wird, bekannt. Trotz der Versprechen, dass die neue Truppe nicht Ben-Gvir unterstellt sein wird und dass es sich nicht um eine Privatarmee handelt, ist die Polizei heute in der Praxis an die Weisungen Ben-Gvirs, dem gegenwärtigen Minister für nationale Sicherheit, gebunden: Seine Zuständigkeit für die bewaffneten Polizeieinheiten ermöglicht es ihm, Prioritäten zu setzen und den Einsatz der vorhandenen Kräfte in bestimmte Bereiche zu lenken. Das birgt das konkrete Potenzial, dass die Gewalt weiter eskaliert, und stellt eine konkrete Bedrohung für viele Staatsbürger*innen, insbesondere palästinensische Staatsbürger*innen, dar.

Auch nach der (vorübergehenden) Aussetzung des Gesetzesreformprozesses wirken sich die heute von der Regierung eingeleiteten Maßnahmen besonders negativ auf die vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen aus und setzen die Diskriminierung der palästinensischen Staatsbürger*innen nicht nur fort, sondern verstärken sie. Die Ankündigung der Einrichtung einer Nationalgarde, die Ben-Gvir unterstehen wird, ist nur ein Beispiel von vielen. Zugleich ist die zunehmende massive Bewaffnung der Zivilbevölkerung  äußerst besorgniserregend, da sie zu einem Anstieg der Gewalt im Alltag führt. Die zunehmende Bewaffnung spiegelt sich auch in den Zahlen wider: Die Anzahl der jährlich eingereichten Anträge auf die Erteilung privater Waffenscheine ist sprunghaft angestiegen und liegt derzeit bei rund 20.000 Anträgen pro Jahr. (Im Jahr 2021 hatte sich ihre Zahl im Vergleich zu den Vorjahren fast verdoppelt.) Und obwohl keine genauen Zahlen vorliegen, ist die Zivilbevölkerung im Besitz von schätzungsweise 80.000 illegalen Waffen. Neben der Fortsetzung des Kampfes für die vollständige Aufgabe der Gesetzesreform, die sich gegen das Justizsystem richtet, müssen wir uns zugleich mit aller Kraft den gefährlichen Maßnahmen der rechtesten und rassistischsten Regierung, die wir je hatten, entgegenstellen.                                     

                                  Aus dem Hebräischen übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin

Anmerkungen

[1] Als Thora-Kern wird eine Gruppe von Familien oder Einzelnen bezeichnet, die meist zur religiösen zionistischen Bewegung gehören und sich zusammentun, um in einer Gegend zu leben, in der es wenig jüdische oder wenig religiöse jüdische Bevölkerung gibt. Ihr erklärtes Ziel ist es, die Verbindung zwischen dem Judentum und diesem Ort zu stärken.

[2] https://www.ha-makom.co.il/post-itai-guns-streets  (Hebräisch) - Der obenstehende Satz wurde inzwischen aus den Sozialen Medien gelöscht. Der Link enthält einen Kommentar zu beiden Zitate auf Hebräisch.

[3] Ein Stadtviertel von Lod, dessen Einwohner*innen mehrheitlich palästinensisch sind, im Gegensatz zum Rest der Stadt – Anm. d. Übers.

[4] https://www.makorrishon.co.il/magazine/dyukan/446317 (Hebräisch)

Autor:in

Sanaa Ibn Bari ist Projektmanagerin der Rosa Luxemburg Stiftung in Israel.