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Eine Demonstration in Tel Aviv für eine gemeinsame Gesellschaft, „Friede Israel Palästina“, „ein gemeinsames Leben“, „das ist das Zuhause von uns allen“ so die Parolen auf den Plakaten, Mai 2021. Foto: Ofer Vaknin

Wenn Partnerschaft Ungleichheit schafft

Die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen jüdischen und arabischen Staatsbürger:innen im Mai 2021 führten dazu, dass die Möglichkeit einer gemeinsamen jüdisch-arabischen Gesellschaft in Israel wieder stärker öffentlich diskutiert wird. Bekannte Stimmen aus Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften, Bildung, Wissenschaft und anderen öffentlichen Institutionen forderten, dass die Bemühungen um eine gemeinsame Gesellschaft fortgesetzt oder gar intensiviert werden. Bei vergangenen Eskalationen zwischen Jüd:innen und Araber:innen war das anders. Auch für Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen im Allgemeinen war diese Reaktion untypisch, zumal die Forderung mit ungewöhnlichem Nachdruck vorgebracht wurde. Wir glauben, dass diese Aufrufe auf dem Höhepunkt der Krise entscheidend dafür waren, die Gewalt einzudämmen und zu verringern und den Zusammenbruch der jüdisch-arabischen Beziehungen in Israel zu verhindern.

Diese neue Entwicklung kommt aber nicht von ungefähr. In den vergangenen Jahren begegneten sich Araber, Araberinnen, Juden und Jüdinnen immer häufiger in öffentlichen Räumen und Institutionen, vor allem am Arbeitsplatz und auf dem Campus. Auch in den Macht- und Einflusszentren sind arabische Staatsbürger:innen zunehmend präsent geworden.

Dazu kommt, dass immer mehr öffentliche Einrichtungen und zivilgesellschaftliche Initiativen Schritte unternehmen, um arabische Staatsbürger:innen als Partner:innen, Teilnehmende und manchmal als Führungspersonal in ihre Arbeit einzubeziehen. Dieser Trend zeigte sich zunächst innerhalb der jüdischen Linken, wurde dann aber auch in der politischen Mitte beliebter. Das ist ein Glücksfall, denn je breiter das Fundament für eine gemeinsame jüdisch-arabische Gesellschaft und je umfassender und diverser die beteiligten öffentlichen, privaten und zivilgesellschaftlichen Interessengruppen und Einrichtungen, desto solider und stabiler wird diese gemeinsame Grundlage werden. Das wiederum wird es erleichtern, Brücken zwischen den Bevölkerungsgruppen zu bauen, und könnte sogar zukünftige Eskalationen verhindern.

Da diese Entwicklung aber relativ fragil ist, sollten wir uns darum bemühen, sie zu fördern und auszubauen. Zu zweit engagieren wir uns schon lange für den Aufbau jüdisch-arabischer Partnerschaften und möchten hier drei Grundprobleme schildern, denen solche Projekte gewöhnlich begegnen. Wir geben auch Handlungsempfehlungen, die hoffentlich anderen dabei helfen, diese Probleme zu überwinden.

Nationale Identität schafft Sicherheit

Das erste Problem gemeinsamer Räume und Organisationen ist die meist unausgesprochene Erwartung, dass sich Araber:innen zwischen ihrer staatsbürgerlichen Identität als Israelis und ihrer nationalen Identität als Palästinenser:innen zu entscheiden haben – und dass sie letztere ablegen oder zumindest auf ein Mindestmaß reduzieren müssen, wenn sie gemeinsame Räume betreten. Diese Erwartungshaltung wird sehr deutlich, wenn nationale Spannungen aufflammen oder wenn der arabische Teil der Gesellschaft zu Protesten aufruft. Die jüdische Seite zeigt sich oft enttäuscht und wütend, wenn sich arabische Staatsbürger:innen zur palästinensischen Flagge bekennen oder sich solidarisch mit den Palästinenser:innen im Westjordanland und Gaza zeigen. Diese Reaktion konnten wir während der Proteste gegen das sogenannte Nationalstaatsgesetz, aber auch bei jeder erneuten Gewalteskalation zwischen Israel und Gaza beobachten.

Studien und Umfragen belegen immer wieder, dass sich Araber:innen in Israel mehrheitlich als Palästinenser:innen identifizieren, was insbesondere für arabische Volksvertreter:innen gilt. Tagtäglich erleben arabische Bürger:innen die strukturellen Reibungen zwischen ihrer staatsbürgerlichen Identität als Israelis und ihrer nationalen Identität als Palästinenser:innen – denn der Staat, in dem sie leben, steht schon seit seiner Gründung in Konflikt mit ihrer Bevölkerungsgruppe. Wenn sich der Konflikt zuspitzt – wie im September 2021, als sechs aus einem israelischen Gefängnis geflohene palästinensische Gefangene in arabischen Communitys in Israel untertauchen wollten – oder wenn die Gewalt eskaliert – wenn etwa Israel die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen bombardiert –, dann werden diese Spannungen fast unerträglich. Von Araber:innen in Israel zu erwarten, dass sie ihre palästinensische Identität ablegen, ähnelt in gewisser Weise der Erwartung mancher Araber:innen, dass jüdische Israelis ihre zionistisch geprägte Identität ablegen sollten. Beides ist unrealistisch, denn Individuen und Gruppen lassen ihre nationale Identität nicht einfach so fallen, vor allem nicht während eines schwelenden Konflikts.

Die Sozialpsychologie lehrt uns, dass sinnstiftende Zusammenarbeit und Partnerschaft zwischen Gruppen, die in Konflikt stehen, nur dann möglich sind, wenn sich alle Seiten in ihrer Identität sicher fühlen – nicht, wenn eine Seite ihr kollektives Narrativ, ihre Identität und ihr Ethos aufgibt. Nationale Identität abzusprechen, kann zudem oft Gewalt hervorrufen. Die von jüdischer Seite an die andere Gruppe gestellte Erwartung, sich für einen Teil ihrer Identität zu entscheiden oder den palästinensischen Teil hintanzustellen, untergräbt die Möglichkeit einer umfassenden, starken und aufrichtigen Partnerschaft und sorgt bei der Gegenseite für Frust und Wut. Das ist nicht nur wenig hilfreich, sondern behindert auch den Aufbau der Infrastruktur für eine gemeinsame jüdisch-arabische Gesellschaft.

Diese falsche Erwartungshaltung hat in manchen Fällen zu Partnerschaften mit Randgruppen aus der arabischen Bevölkerung geführt. Im Juni 2021 etwa begründete das Forum for a Shared Society (Forum für eine gemeinsame Gesellschaft) eine solche Partnerschaft bei einer Konferenz in Abu Gosch westlich von Jerusalem. Die arabischen Teilnehmenden identifizierten sich ausnahmslos als nicht-palästinensisch, wobei manche sogar aktiv dagegen ankämpften, dass sich arabische Staatsbürger:innen als palästinensisch identifizieren. Solche zivilgesellschaftlichen und philanthropischen Initiativen haben sich zwar den Aufbau einer gemeinsamen jüdisch-arabischen Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben, doch in der Praxis machen sie dabei alle nur erdenklichen Fehler und gefährden so eine aufrichtige Partnerschaft.

Statt sich arabischen Bürger:innen zuzuwenden, die sich von der palästinensischen Identität entfremdet haben oder sie gar bekämpfen, würden wir empfehlen, dass Juden und Jüdinnen den Dialog mit denjenigen Mitgliedern der arabischen Bevölkerung suchen, die sich als Palästinenser:innen verstehen. Wir schlagen vor, mögliche Partnerschaften mit einer Neugier darauf anzugehen, wie es Araber:innen gelingt, mit den Spannungen zwischen israelischer Staatsbürgerschaft und palästinensischer Nationalität umzugehen, die von außen betrachtet bisweilen unüberwindbar wirken. Wir raten von Partnerschaften ab, die darauf basieren, dass eine Seite – in diesem Fall die arabische – ihre nationale Identität aufgeben oder zurückstellen muss. Vielmehr sollte der Ausgangspunkt sein, dass beide Seiten eine gefestigte nationale Identität besitzen, dass diese Identitäten – die zionistische und die palästinensische – miteinander in Konflikt stehen und dass eines der Ziele darin besteht, die Gemeinsamkeiten der beiden Seiten zu fördern. Dieser Ansatz kann Möglichkeiten eröffnen, mit dem Konflikt zu leben, in seinem Schatten Räume für gemeinsames Handeln zu schaffen und so auf seine Überwindung hinzuarbeiten.

Anerkennung kollektiver Rechte

Das zweite Problem ist die Erwartung, dass die arabische Seite das bestehende politische System vorbehaltlos anzuerkennen hat. Es wird also erwartet, Israels Selbstverständnis als jüdischer und demokratischer Staat zu akzeptieren. Hier sei daran erinnert, dass die kollektiven Rechte der Jüd:innen als Gesellschaft und Nation in «gemeinsamen Räumen» – ob nun auf Organisationebene oder konkret am gemeinsamen Arbeitsplatz – vom Staat und seinen Institutionen verbürgt und geschützt werden. Doch eben diese Institutionen – von denen manche den arabischen Staatsbürger:innen gleiche Individualrechte versprechen (aber nicht immer gewähren) – beruhen darauf, dass die kollektiven und nationalen Identitäten von Araber:innen verleugnet und ausgegrenzt werden. Wenn es aber zur Bedingung einer Partnerschaft gemacht wird, dass sich arabische Bürger:innen dem bestehenden Institutionensystem bereitwillig fügen, dann reproduziert die Partnerschaft lediglich die politische Ungleichheit.

Ein wichtiger Punkt ist, dass die Ablehnung der heutigen Definition des Staates Israel durch breite Teile der arabischen Gesellschaft und ihrer Führungen nicht gleichbedeutend damit ist, der jüdischen Bevölkerung in Israel ihre kollektiven und nationalen Rechte abzusprechen und eine jüdische Öffentlichkeit abzulehnen.

Von arabischen Partner:innen zu erwarten, auf Israels Unabhängigkeit und/oder sein Selbstverständnis als jüdischer Staat die Treue zu schwören, ist unfair – doch genau das erwarten leider einige jüdische Führungsfiguren in gemeinsamen Räumen. Wir empfehlen dagegen, jüdisch-arabische Partnerschaften auf gegenseitiger Anerkennung der kollektiven Rechte beider Bevölkerungsgruppen aufzubauen. Dabei müssen wir uns auch eingestehen, dass Uneinigkeit über die politischen Rahmenbedingungen zum Schutz dieser Rechte besteht.

Die Besatzung beenden

Das dritte grundlegende Problem ist die Nichtbeachtung oder Weigerung, sich mit dem wichtigsten und dringlichsten Aspekt des israelisch-palästinensischen Konflikts auseinanderzusetzen, nämlich der israelischen Besatzung des Westjordanlands und der Belagerung von Gaza. Wenn wir das eklatanteste Beispiel für die Unterdrückung der Palästinenser:innen ausblenden, schränkt das die Möglichkeit stark ein, dass sich arabische Bürger:innen in gemeinsamen Räumen an einem legitimen politischen Diskurs beteiligen. Es erschwert den Aufbau aufrichtiger jüdisch-arabischer Partnerschaften enorm und schwächt ihr Potenzial zur Förderung einer gemeinsamen Gesellschaft in Israel. Eine solche Gesellschaft ist unmöglich zu erreichen, wenn arabischen Staatsbürger:innen ihre Rechte und ihre Nationalität aberkannt werden.

Wir erwarten nicht, dass High-Tech-Firmen, Supermärkte, Krankenhäuser oder andere Arbeitsplätze für ihre jüdischen und arabischen Beschäftigten Dialoge und Workshops zum Thema organisieren oder politische Stellungnahmen zur Besatzung formulieren. Ebenso wenig erwarten wir, dass sich jede arabisch-jüdische Partnerschaft ausdrücklich mit dem Thema befasst. Entscheidend ist jedoch, dafür zu sorgen, dass es an all diesen Orten legitim ist, den israelisch-palästinensischen Konflikt zu diskutieren und ablehnende Meinungen zur Besatzung zu äußern. Dass es dabei selten Konsens gibt, sollte uns nicht davor zurückschrecken lassen. Wir müssen begreifen, dass fehlender Konsens ein wesentlicher Teil unserer gemeinsamen Gesellschaft bleiben wird, solange der Konflikt ungelöst ist.

Die verstörenden Ereignisse im Mai 2021 haben uns schmerzhaft an die Tatsache erinnert, dass die tiefste und gefährlichste Bruchlinie der israelischen Gesellschaft entlang nationaler Linien zwischen jüdischen und arabischen Bürger:innen verläuft. Anderswo auf der Welt haben solche Gräben zu Bürgerkriegen mit unzähligen Toten geführt und ganze Länder und Gesellschaften in den Abgrund gestürzt. Der Aufbau einer gemeinsamen Gesellschaft gehört zu den epochalen Herausforderungen, an denen das Schicksal der israelischen Gesellschaft hängt. Wir hoffen, eine zukunftsfähige gemeinsame Gesellschaft errichten zu können, die dazu in der Lage ist, sich den Gegebenheiten des Konflikts zu stellen und vielleicht sogar Schritte zu seiner Überwindung zu gehen. Dazu braucht es eine gleichberechtigte Gesellschaft, die auf der gegenseitigen Anerkennung der Identitäten und Rechte von beiden hier lebenden Bevölkerungsgruppen baut.

Ofer Dagan ist Co-Direktor der NGO Sikkuy, die sich für Gleichberechtigung und Partnerschaft zwischen arabischen und jüdischen Staatsbürger:innen in Israel einsetzt.

Ron Gerlitz ist Geschäftsführer von aChord – Social Psychology for Social Change.

Der Artikel wurde zuerst am 16. September 2021 in der englischen Ausgabe der Tageszeitung Haaretz veröffentlicht.

Übersetzung von Gegensatz Translation Collective