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Impfung palästinensischer Arbeiter am Militärcheckpoint Meitar, südlich von Hebron, März 2021. Foto: Activestills

Unterlassene Hilfeleistung

In einem Interview mit der BBC wurde der israelische Gesundheitsminister Juli Edelstein im Februar gefragt, warum Israel sich nicht darum kümmere, Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten zu impfen. Edelstein antwortete, dass Israel rechtlich in keiner Weise dazu verpflichtet sei. Um seine Position zu untermauern, verwies er auf die Oslo-Abkommen, wonach die Zuständigkeit für Gesundheitsangelegenheiten der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) übertragen worden sei. Warum Edelsteins Verständnis der Rechtslage ganz und gar falsch ist, will ich im Folgenden kurz erläutern.

Beginnen wir mit der Situation in der Westbank: Nach allgemein akzeptierter Auffassung – selbst nach den Entscheidungen des israelischen Obersten Gerichtshofs – hat Israel in der Westbank den Status einer Besatzungsmacht und als solche muss es sich an die Bestimmungen der Vierten Genfer Konvention halten, an das Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten. Dieses Abkommen sieht ausdrücklich vor, dass besondere Vereinbarungen, die mit Akteur*innen in besetzten Gebieten getroffen werden, weder die in dem Abkommen verankerten Rechte der in den besetzten Gebieten lebenden Menschen verletzen oder beschränken dürfen, noch die Besatzungsmacht von den sich aus dem Abkommen ergebenden Verpflichtungen entbinden können.

Genfer, nicht Oslo-Abkommen entscheidend

Es ist daher klar, dass die Frage, ob Israel verpflichtet ist, die Impfung von Palästinenser*innen sicherzustellen, in erster Linie aufgrund der Bestimmungen des Genfer Abkommens zu beantworten ist. Dies bedeutet nicht, dass die in den Oslo-Abkommen festgelegten Vereinbarungen irrelevant wären, aber diese Vereinbarungen können nur die Art und Weise beeinflussen, in der der Staat Israel seinen Verpflichtungen aus dem Genfer Abkommen nachkommt, das heißt sie umsetzt. Sie ändern nichts daran, dass diese Pflichten bestehen.

Zwei Bestimmungen des Genfer Abkommens sind von besonderer Relevanz für die Impffrage. Artikel 55 des Genfer Abkommens verpflichtet die Besatzungsmacht, die Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln „mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln sicherzustellen“. Artikel 56 befasst sich explizit mit Epidemien: Er verpflichtet die Besatzungsmacht in Zusammenarbeit mit den Landes- und Ortsbehörden im besetzten Gebiet zur „Einführung und Anwendung der notwendigen Vorbeugungs- und Vorsichtsmaßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten und Epidemien“. Angesichts dieser beiden Bestimmungen besteht keinerlei Zweifel daran, dass Israel rechtlich verpflichtet ist, mit der PA zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass die palästinensische Bevölkerung geimpft werden kann.

Sogar eine Analyse, die nur auf Oslo-Abkommen in Betracht zieht, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Gemäß Artikel 17 des III. Anhangs (Protokoll über zivile Angelegenheiten), der Teil des von Israel und der PLO unterzeichneten Interim-Abkommens ist, wurden Befugnisse und Verantwortlichkeiten in Gesundheitsfragen in den besetzten Gebieten „an die palästinensische Seite“ übertragen. Es ist hervorzuheben, dass der Text nicht sagt, dass die (im Sinne von alle) Befugnisse und Verantwortlichkeiten an die palästinensische Seite übertragen wurden, sondern nur, dass Befugnisse und Verantwortlichkeiten übertragen wurden.

Israel muss Impfstoffe bereitstellen

Der Grund dafür ist klar: Die Herrschaftsbefugnisse in den besetzten Gebieten sind in den Händen der Besatzungsmacht, nämlich Israel, konzentriert. Israel hat einige seiner Befugnisse an die Palästinenser*innen delegiert, aber selbst nach israelischem öffentlichem Recht gibt eine Behörde, die Befugnisse delegiert, diese Befugnisse nicht auf. Das Delegieren von Befugnissen ermöglicht es einer anderen Körperschaft, im Rahmen dieser Befugnisse tätig zu werden, aber die letztendliche Verantwortung dafür, dass die Pflichten des Staats erfüllt werden, bleibt bei der delegierenden Behörde. Das israelische Recht steht mit den Bestimmungen der Genfer Konvention dahingehend im Einklang, dass Israels Verpflichtungen in Gesundheitsfragen aufgrund der Konvention ungeachtet des Inhalts der Oslo-Abkommen bestehen.

Gesundheitsminister Edelstein verwies zwar auf die Oslo-Abkommen, doch ist es fraglich, ob er sie gelesen hat. In Artikel 17 Absatz 6 des III. Anhangs heißt es ausdrücklich, dass Israel und die palästinensische Seite bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten und Epidemien zusammenarbeiten werden. Israel betrachtet die Impfung als ein wichtiges Mittel zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie und muss daher mit den Palästinenser*innen zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass ihnen dieses Mittel auch zur Verfügung steht. Wenn die PA nicht in der Lage ist, die für eine Impfung der palästinensischen Bevölkerung erforderlichen sicheren und wirksamen Impfstoffe zu erhalten, ist nach Artikel 55 der Genfer Konvention Israel dazu verpflichtet, diese Impfstoffe bereitzustellen.

Ich habe bisher hauptsächlich auf Israels Verpflichtungen abgestellt, die sich aus der Genfer Konvention ergeben. Es gibt aber auch noch andere Rechtsquellen, nach denen Israel verpflichtet ist, dafür zu sorgen, dass die Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten geimpft werden. Ich will hier nur auf eine davon eingehen. Bekanntermaßen ist die Westbank (abgesehen von Ost-Jerusalem) in drei Zonen – A, B und C – unterteilt. Israels Verpflichtungen, die sich aus der Genfer Konvention ergeben, variieren nicht von Zone zu Zone. Angesichts der in den Oslo-Abkommen vereinbarten Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen Israel und der PA darf Israel die Palästinenser*innen in den Zonen A und B nicht ohne die Zustimmung der PA und ohne Zusammenarbeit mit ihr impfen.

Gebot der Gleichberechtigung in allen Gebieten

Das ist in den Gebieten anders, die zur Zone C gehören, wo Israels Kontrolle uneingeschränkt ist; daher kann Israel dort seinen Verpflichtungen aus der Genfer Konvention nachkommen, ohne auf die Zustimmung oder Zusammenarbeit mit der PA angewiesen zu sein. Israel hat die Siedler*innen geimpft, die in der Zone C leben. Während des Ersten Golfkriegs 1991 urteilte der Oberste Gerichtshof, dass Israel bei der Verteilung von Schutzausrüstung Israelis und Palästinenser*innen nicht unterschiedlich behandeln dürfe. Da die Regierung damals Gasmasken-Sets an die israelische Bevölkerung verteilte, hätte es diese auch der palästinensischen Bevölkerung zur Verfügung stellen müssen.

Trotz der seitdem eingetretenen Veränderungen scheint das in dem Urteil dargelegte Prinzip auch in Bezug auf Impfstoffe zu gelten: Da Israel die in dem Gebiet lebenden Israelis geimpft hat, muss es auch die dort lebende palästinensische Bevölkerung impfen. Solange die PA die Bewohner*innen der Zone C nicht geimpft hat, kann sich Israel nicht auf die Befugnis der PA zu impfen berufen, um sich seiner Verpflichtung zu entledigen, alle in dem Gebiet lebenden Menschen gleich zu behandeln. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Israels Verpflichtung, nicht zu diskriminieren, gilt auch in Bezug auf die die Palästinenser*innen in den Zonen A und B, aber um diese Verpflichtung dort zu erfüllen, ist eine Zusammenarbeit mit der PA nötig, die das Leben in diesen Gebieten verwaltet.

In Bezug auf die Frage, ob Israel verpflichtet ist, die Impfung der Palästinenser*innen im Gazastreifen sicherzustellen, ist die Antwort etwas komplizierter, da kein Konsens über den Status des Gazastreifens besteht. Große Teile der internationalen Gemeinschaft und einige israelische Jurist*innen sind der Ansicht, dass Israel weiterhin die tatsächliche Kontrolle über den Gazastreifen ausübt und daher auch nach der Entflechtung den Status der Besatzungsmacht innehat. Führende israelische Expert*innen für internationales Recht teilen diese Ansicht nicht. Zudem hat der Oberste Gerichtshof ausdrücklich entschieden, dass der Gazastreifen nicht als besetztes Gebiet gilt.

Für Gaza gelten keine Ausnahmen

Es ist klar, dass aus Sicht derjenigen, die den Gazastreifen als besetztes Gebiet betrachten, die obige Analyse der Rechtslage in der Westbank auch für den Gazastreifen gilt. Mit anderen Worten, Israel habe auch dort seinen Verpflichtungen aus der Vierten Genfer Konvention nachzukommen und müsse mit den Palästinenser*innen zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass die Bewohner*innen des Gazastreifens geimpft werden können.

Aber selbst wenn man davon ausgeht, dass der Gazastreifen kein besetztes Gebiet ist, hat Israel die Pflicht, sicherzustellen, dass die Palästinenser*innen im Gazastreifen geimpft werden können. Zunächst einmal entschied der Oberste Gerichtshof, dass Israel die humanitären Grundbedürfnisse der Bevölkerung gewährleisten muss, auch wenn der Gazastreifen kein besetztes Gebiet ist. Besteht irgendein Zweifel daran, dass die Impfung der Bevölkerung ein humanitäres Grundbedürfnis ist? Zudem kann Israels Verpflichtung gegenüber den Bewohner*innen des Gazastreifens auch unter Bezugnahme auf Artikel 17 des oben genannten Anhangs des Interim-Abkommens begründet werden. In den Oslo-Abkommen erkannten die Vertragsparteien an, dass die Westbank und der Gazastreifen eine territoriale Einheit bilden. Israel hat die Oslo-Abkommen nie widerrufen und ist somit verpflichtet, mit der palästinensischen Seite bei der Bekämpfung von Krankheiten und Epidemien zusammenzuarbeiten, also auch bei der Bekämpfung der gegenwärtigen Epidemie, die in dem gesamten Gebiet wütet, für das die Oslo-Abkommen gelten.

Daher ist es erforderlich, mit den Palästinenser*innen zusammenzuarbeiten, um Maßnahmen zur Bekämpfung der Epidemie im Gazastreifen zu ergreifen. Wenn die israelische Regierung keinen direkten Kontakt zum Hamas-Regime im Gazastreifen aufnehmen will, kann die Zusammenarbeit mithilfe von internationalen Organisationen, wie dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz oder der Weltgesundheitsorganisation, durchgeführt werden.

Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin

Der Artikel erschien zuerst am 7. Februar 2021 im Forum for Regional Thinking

David Kretzmer ist emeritierter Juraprofessor der Hebräischen Universität von Jerusalem. Die zusammen mit Yael Ronen verfasste zweite Auflage seines Buchs „The Occupation of Justice: The Supreme Court of Israel and the Occupied Territories“ erschien im März 2021.