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Nach der Wahl ist vor der Wahl

Aller schlechten Dinge sind drei: Nach 2019 und 2020 hat Israels Präsident Reuven Rivlin Ministerpräsident Benjamin Netanjahu abermals mit der Regierungsbildung betraut. Weniger überzeugend könnte ein Staatsoberhaupt diesen Schritt kaum begründen: „Kein Kandidat verfügt über eine realistische Chance, eine Regierung zu bilden, die das Vertrauen der Knesset genießen wird“, sagte der 81-Jährige Anfang April, zwei Wochen nach der vierten Parlamentswahl in 24 Monaten. Wäre es ihm rechtlich möglich gewesen, hätte er das Mandat direkt dem israelischen Parlament übertragen, so der Präsident. Auch angesichts des laufenden Korruptionsprozesses gegen den seit 2009 regierenden Netanjahu sei es keine leichte Entscheidung gewesen, den 71-Jährigen erneut mit der Regierungsbildung zu beauftragen.

Der Vorsitzende des rechtsnationalen Likud hatte zuvor bei Beratungen der Parteichefs mit Rivlin die meisten Empfehlungen erhalten: 52 der 120 Knesset-Abgeordneten drückten ihm ihre Unterstützung aus. Für den Zweitplatzierten der Parlamentswahl, den Vorsitzenden von Jesh Atid (Es gibt eine Zukunft), Jair Lapid, sprachen sich lediglich 45 Abgeordnete aus. Für keinen der beiden votierten die sechs Abgeordneten der linken Gemeinsamen Liste sowie die vier Parlamentarier der islamisch-konservativen Vereinigten Arabische Liste. Auch die sechs Angehörigen der rassistischen Neuen Hoffnung von Gideon Saar gaben gegenüber Rivlin keine Empfehlung ab. So erzielten weder der Anti-Netanjahu-Block noch der Zusammenschluss rechter und religiöser jüdischer Parteien die erforderliche Mehrheit von 61 Stimmen in der Knesset.

Nach vier Parlamentswahlen in nur zwei Jahren droht Israel nun in sechs Monaten bereits – der fünfte Urnengang. Oder aber ein politisch äußerst fragiles Bündnis, das aufgrund ideologischer Differenzen kaum von lange halten wird. Ob es dazu kommt, hängt entscheidend von zwei Personen ab: Naftali Bennet, dem Vorsitzenden von Yamina (Nach Rechts), der sich gegenüber Rivlin selbst als Ministerpräsident empfahl, und Mansour Abbas, der die islamisch-konservative Ra’am-Partei führt, der wichtigsten Kraft der Vereinigten Arabischen Liste. Beide müssten politisch über ihren Schatten springen, was für den jüdischen Nationalisten Bennet bedeutete, eine Koalition mit einer arabischen Partei einzugehen – und für Abbas, Netanjahu zu unterstützen.

Beides scheint unwahrscheinlich zu Beginn der Sondierungen, für die der am längsten dienende Regierungschef seit Gründung Israels 1948 nun 28 Tage Zeit hat, ehe Präsident Rivlin das Mandat möglicherweise dem Liberalen Lapid übergeben wird. Doch sowohl Bennet wie Abbas haben sich bislang öffentlich bedeckt gehalten, was ihr Preis für ein Bündnis mit dem wegen Korruption angeklagten Netanjahu wäre, sodass dies auch nicht komplett auszuschließen ist.

Zugleich sind die Konsequenzen in Hinblick auf ihre Wählerbasis unberechenbar: Der dezidiert palästinenserfeindliche Bennet hat sich immer wieder rechts von Netanjahu positioniert; kaum denkbar, dass seine Anhänger dem Befürworter von Annexionen weiter Teile des Westjordanlands ein Bündnis mit einer arabischen Partei durchgehen lassen würden. Und ob die Strategie von Abbas dauerhaft aufgeht, auf Alltagsprobleme und moralische Wertvorstellungen zu fokussieren, ist ebenfalls ungewiss. Die bis Jahresbeginn mit der Ra‘am verbündeten arabischen Parteien Ta’al, Balad und Ma‘an jedenfalls werden bei einem neuerlichen Wahlkampf alles versuchen, die Rolle der Gemeinsamen Liste als wichtigste Stimme der arabisch-israelischen Wählerschaft zurückzugewinnen.

So lässt sich eine weitere Neuwahl möglicherweise nur dann abwenden, wenn sich Abbas wie Bennet beide zusammen entweder Lapid oder Netanjahu zuschlagen. Das allerdings wäre eine Zäsur in der israelischen Geschichte: Noch nie war eine arabische Partei Teil einer Regierung, für Netanjahus rechte und religiöse Bündnispartner bedeutete das eine kaum vorstellbare Überwindung. Weder die ultraorthodoxen Parteien Schas, Vereintes Tora-Judentum oder gar das Bündnis Religiöser Zionismus sind dazu heute bereit. Insbesondere die Wahl des Rechtsextremisten Itamar Ben-Gvir in die Knesset macht einen solchen Schritt unwahrscheinlich. Doch da Netanjahu auf die Stimmen von Abbas‘ Vereinigter Arabische Liste angewiesen ist, um eine Mehrheit zu bekommen, wird er alles versuchen, sie dazu zu bewegen. Ein weiterer Rechtsruck in gesellschaftspolitischen Fragen und beim Ausbau der Siedlungen im Westjordanland wäre dafür der Preis.

Dagegen fällt ein Schulterschluss mit Abbas fast leicht aus: Bereits im Wahlkampf hatte Netanjahu offensiv um die Stimmen der knapp zwei Millionen arabischen Wähler geworben. Abbas wiederum vermied jeden Bezug auf die anhaltende Besatzung der palästinensischen Gebiete, sondern hob islamische Werte hervor – womit er moralisch andockt an die konservativen jüdischen Parteien, die seit Jahren Netanjahus Regierungsmehrheiten sichern helfen. „Was uns vereint, ist größer als das, was uns trennt“, sagte Abbas Ende März in einer viel beachteten Rede in Nazareth. Die kommenden Wochen werden zeigen, ob das auch für ein für die arabische Bevölkerung bislang als Tabu geltendes Bündnis mit Netanjahu gilt.

Autor:in

Markus Bickel leitete das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv zwischen 2020-2023.