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Israelisches Militär liefert Toilettenpapier und Essen für bedürftige Menschen, Bnei Brak, 2021. Foto: Activestills

Israels Krieg gegen das Virus

Im Diskurs über den weltweiten Umgang von Regierungen mit dem Coronavirus beobachten Sicherheitsforscher*innen eine «Versicherheitlichung» (securitization). Der in den 80er Jahren von der Kopenhagener Schule innerhalb der Disziplin der Security Studies geprägte Begriff beschreibt einen Prozess, in dem Regierungen eigentlich zivile Probleme wie Immigration, Strafverfolgung oder Naturkatastrophen als Probleme kontextualisieren, die mit einer besonderen Bedrohung der Sicherheit einhergehen.

Entscheidungsträger*innen und Expert*innen arbeiten dabei darauf hin, die Öffentlichkeit in komplizierten rhetorischen Prozessen zu überzeugen, dass es zur Bewältigung des Problems besonderer Maßnahmen bedarf, die das Thema außerhalb der normalen Politik verorten. So können etwa Menschen- und Bürgerrechte oder übliche demokratische Abläufe umgangen werden. Diese Vorgehensweise kann auch zur Etablierung von Notmaßnahmen führen, die Regierungen legale Befugnisse an die Hand geben, Ausnahmeregeln zu verhängen. Das trifft auch auf die Coronakrise zu.

In dieser Bewältigungsstrategie setzt sich ein Trend fort, der sich in den vergangenen Jahren im Umgang westlicher Staaten mit Epidemien herausgebildet hat – ein Trend, den man kurzum als Versicherheitlichung von Gesundheitsfragen bezeichnen könnte.

Rückgriff auf Kriegsterminologie

Israel bildet dabei keine Ausnahme. Dort wurde im Kampf gegen das Virus auf Kriegsterminologie zurückgegriffen: Zur Rechtfertigung der Ausnahmeregeln verkündete Premierminister Netanjahu, Israel befinde sich «in einem Krieg gegen einen unsichtbaren Feind.» Andere Regierungen schlugen ganz ähnliche Töne an.

Obwohl auch in anderen Ländern Soldat*innen zur Aufrechterhaltung der neuen Ordnung eingesetzt wurden, zeichnet sich der Prozess in Israel im Vergleich zu westlichen Demokratien durch eine viel größere Beteiligung des Sicherheitsapparates im Allgemeinen und der Armee im Besonderen aus: das Krisenmanagement liegt beim Nationalen Sicherheitsrat (National Security Council, NSC); das Heimatfront-Kommando hat sogenannte «Corona-Hotels» eingerichtet, verwaltet sie, und kümmert sich auch um die Logistik in Pflegeheimen; Polizeieinheiten bekamen zur Durchsetzung des Lockdowns Verstärkung durch Soldat*innen, und in der dicht besiedelten Stadt Bnei Brak wurden zur Unterstützung, aber auch zur Überwachung der Bevölkerung Bataillons stationiert; die Expertise des Militärs wird zur Kartierung, Regulierung und zum generellen Umgang mit dem Phänomen herangezogen; der Inlandsgeheimdienst Shin Bet wurde mobilisiert, um die Mobildaten bestätigter Coronainfizierter auszuwerten, und der Mossad wurde zur Anschaffung medizinischer Ausrüstung abgestellt.

Auf den ersten Blick begründen sich diese Maßnahmen auf einem nach wie vor starken israelischen Sicherheitsapparat, der in der Lage ist, Ressourcen – Arbeitskräfte, Technologie, Logistik und Infrastruktur – zum Krisenmanagement bereitzustellen. Doch diese Perspektive lässt andere Aspekte außen vor, insbesondere die Legitimierung des Prozesses. Die Legitimierung der Versicherheitlichung von Gesundheit lässt sich nicht zuletzt auf die Ängste zurückführen, die die Regierung schürt, damit die israelische Bevölkerung, ganz ähnlich wie die Bevölkerungen anderer Länder, zivilrechtliche Einschränkung akzeptiert.

Die Krise als Sicherheitsfrage

Im Falle Israels wurden solche Maßnahmen auch von den seit der Staatsgründung 1948 etablierten Notstandsregelungen unterstützt. Außerdem herrscht ein hohes öffentliches Vertrauen in die Sicherheitsorgane, was den Widerstand gegen ihre Maßnahmen erschwert. Um jedoch das Ausmaß der Legitimierung von Versicherheitlichung im Allgemeinen zu verstehen, gilt es, einen Blick auf die Normalisierungsmechanismen in Prozessen der Versicherheitlichung zu werfen.

Das Framing der Epidemie als Sicherheitsfrage begann in dem Moment, in dem das Krisenmanagement ohne jede öffentliche Debatte an den NSC übergeben wurde. Gemäß dem Gesetz, das den NSC in Kraft gesetzt hat, ist dieser «im Auftrag des Premierministers verantwortlich für die organisations- und ressortübergreifende Stabsarbeit in Auslands- und Sicherheitsbelangen.» Sobald der NSC einen Vorgang koordiniert, deutet das also darauf hin, dass es sich um eine Sicherheitsfrage handelt. Der Spezialausschuss der Knesset, der (unter dem Vorsitz von Ofer Shelah) über den Umgang mit dem Coronavirus beriet, sprach dem NSC die nötige Kompetenz für die Aufgabe ab, weil dessen organisatorische Ressourcen denen anderer Verwaltungsorgane nicht vorzuziehen seien. Die grundlegende Idee, die Coronakrise als Sicherheitsfrage zu behandeln, kritisierte der Ausschuss jedoch nicht. Selbst wenn der NSC effektiv gearbeitet hätte, gäbe es dann nicht immer noch Raum für Kritik?

Der Parlamentsausschuss trug zum Framing des Virus als Sicherheitsfrage sogar noch bei, indem er sich für eine PR-Kampagne seitens des Militärs (etwa der IDF-Sprechereinheit und des Heimatfront-Kommandos) aussprach. Dabei ließ das Gremium ein zentrales Problem außer Acht: Es geht nicht nur darum, welche Informationsquellen die Regierung mobilisiert, sondern auch darum, woraus sich die Autorität dieser Informationsquellen speist – wenn nicht die offizielle Autorität, so doch zumindest die symbolische.

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Provisorischer Checkpoint auf der Strandpromenade in Tel Aviv, 2021. Foto: Activestills

Die rhetorische Klaviatur der Sicherheit

Als Militärjournalist*innen über die Coronakrise zu berichten begannen, fing auch die unabhängige Presse an, sich an der Agenda der Versicherheitlichung zu beteiligen. Allein die Tatsache, dass der militärische Teil der Presse sich mit der Krise beschäftigte, legitimierte ihre Einordnung als Sicherheitsfrage – als wäre das eine Selbstverständlichkeit. Später begann das Institute for National Security Studies (INSS; ein unabhängiges Forschungsinstitut mit Anbindung an die Universität Tel Aviv) mit der Analyse der Coronakrise und bestärkte so die Wahrnehmung der Gesundheitskrise als Sicherheitskrise noch weiter. Das Institut engagierte für die Analyse zwar Expert*innen, verfügt jedoch selbst über keinerlei fundierte Expertise im öffentlichen Gesundheitswesen. Das Institut spielte vielmehr auf der rhetorischen Klaviatur der Sicherheit, wie man an Formulierungen wie «Kriegsübung» oder «von der Eindämmung zum Sieg» erkennen kann.

Indem man den Kampf gegen eine Epidemie als Krieg bezeichnet, kontextualisiert man den Umgang damit als Sicherheitsfrage, gibt Sicherheitsexpert*innen die Befugnis, sich damit zu befassen, was das Framing als Sicherheitsfrage wiederum verstärkt und irreguläre Maßnahmen weiter legitimiert. Die Sicherheitspolitik, die Israel bereits zur Kontrolle der palästinensischen Bevölkerung in der Westbank einsetzt, wurde so für den Kampf gegen die Epidemie ausgeweitet, sodass potenziell jede mit dem Virus infizierte Person als eine Art «Terrorist» gelten kann.

Selbst die Solidarität wurde in Israel von oben auferlegt wie in einem Krieg. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür war der von Channel 12 des Medienunternehmens Keshet initiierte kollektive virtuelle Seder. Die Solidarität, die sich während der Coronakrise in Europa gezeigt hat, etwa das gemeinsame Singen vom Balkon in Italien, entstand spontan und auf kommunaler Ebene – in Israel wurden lokale kommunale Aktivitäten explizit von oben angeregt. Die Regierung führte die (jüdische) Nation gewissermaßen in den Krieg.

Der durch Versicherheitlichung entstandene Schaden besteht nicht nur in der Akzeptanz der Überwachung durch den Inlandsgeheimdienst oder einer vermehrten militärischen Präsenz in Krisenzeiten. Man kann davon ausgehen, dass einige der Kontrollmaßnahmen auch nach der Corona-Pandemie erhalten bleiben werden, denn es liegt in der Natur einer solchen Krise, auf lange Sicht die Kontrollfähigkeit der Regierung zu stärken – sobald eine Maßnahme einmal ergriffen ist, ist sie in einer Art «Sperrklinkeneffekt» schwer wieder auszuhebeln. Der Schaden besteht auch in der Lähmung der öffentlichen Diskussion um angemessene Maßnahmen. In dem Moment, in dem die Geschehnisse als Sicherheitsfrage behandelt wurden, wurde die Debatte vom offiziellen Umgang mit der Krise bestimmt. Nicht nur, dass der öffentliche Diskurs nicht dazu anregte, auch anderen Stimmen (etwa aus dem öffentlichen Gesundheitswesen) zuzulassen – solche Stimmen wurden, wie im Kriegsfall üblich, sogar marginalisiert und zum Schweigen gebracht. Der dominante Diskurs der Versicherheitlichung setzt die deliberative Demokratie außer Kraft – nicht unbedingt konkrete demokratische Verfahren, sondern vielmehr die kulturelle Essenz der Demokratie. Es ist daher naheliegend, nachhaltige Schäden in Gesundheitswesen, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur zu befürchten.

Übersetzung: Gegensatz Translation Collective.

Der Artikel erschien zuerst am 20. Mai 2020 im Forum for Regional Thinking

Yagil Levy ist Professor für Politische Soziologie und Public Policy an der Open University of Israel. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter zuletzt The Divine Commander: The Theocratization of the Israeli Military (2015)

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