Israels Krieg gegen Corona

Im Diskurs über den weltweiten Umgang von Regierungen mit dem Corona-Virus beobachten Sicherheitsforscher:innen eine Versicherheitlichung (securitization). Der in den 1980er Jahren in den Security Studies von der Kopenhagener Schule geprägte Begriff beschreibt einen Prozess, in dem Regierungen eigentlich zivile Probleme wie Immigration, Strafverfolgung oder Naturkatastrophen als Probleme darstellen und kontextualisieren, die mit einer besonderen Bedrohung der Sicherheit einhergehen.

Politische Entscheidungsträger:innen und Expert:innen arbeiten dabei darauf hin, die Öffentlichkeit mit komplizierten rhetorischen Mitteln davon zu überzeugen, dass es zur Bewältigung dieser Probleme besonderer Maßnahmen bedarf, die sie außerhalb der normalen Politik verorten. So können etwa Menschen- und Bürgerrechte oder übliche demokratische Abläufe umgangen werden. Diese Vorgehensweise kann auch zur Etablierung von Notmaßnahmen führen, die Regierungen legale Befugnisse an die Hand geben, Ausnahmeregeln zu verhängen. Das trifft auch auf die Corona-Krise zu.

In dieser Bewältigungsstrategie setzt sich ein Trend fort, der sich in den vergangenen Jahren im Umgang westlicher Staaten mit Epidemien herausgebildet hat – ein Trend, den man kurzum als Versicherheitlichung von Gesundheitsfragen bezeichnen könnte. Israel bildet dabei keine Ausnahme. Dort wurde im Kampf gegen das Virus auf Kriegsterminologie zurückgegriffen: Zur Rechtfertigung der Ausnahmeregeln verkündete Premierminister Netanjahu, Israel befinde sich »in einem Krieg gegen einen unsichtbaren Feind«. Andere Regierungen schlugen ganz ähnliche Töne an.

Obwohl auch in anderen Ländern Soldat:innen zur Aufrechterhaltung der neuen Ordnung eingesetzt wurden, zeichnet sich der Prozess in Israel durch eine viel größere Beteiligung des Sicherheitsapparates im Allgemeinen und der Armee im Besonderen aus: Das Krisenmanagement liegt beim Nationalen Sicherheitsrat (National Security Council/NSC). Das Heimatfront-Kommando hat sogenannte Corona-Hotels eingerichtet, verwaltet sie und kümmert sich auch um die Logistik in Pflegeheimen. Polizeieinheiten bekamen zur Durchsetzung des Lockdowns Verstärkung durch Soldat:innen, und in der dicht besiedelten und stark von Corona betroffene Stadt Bnei Brak wurden zur Unterstützung, aber auch zur Überwachung der Bevölkerung Bataillons stationiert. Die Expertise des Militärs wird zur Kartierung, Regulierung und zum generellen Umgang mit dem Phänomen herangezogen. Der Inlandsgeheimdienst Schin-Bet wurde mobilisiert, um die Mobildaten bestätigter Corona-Infizierter auszuwerten, und der Mossad wurde zur Anschaffung medizinischer Ausrüstung abgestellt.

Auf den ersten Blick stützen sich diese Maßnahmen auf einem nach wie vor starken israelischen Sicherheitsapparat, der in der Lage ist, Ressourcen – Arbeitskräfte, Technologie, Logistik und Infrastruktur – für das Krisenmanagement bereitzustellen. Doch diese Perspektive lässt andere Aspekte außen vor, insbesondere die Frage, wie sich ein solches Vorgehen demokratisch rechtfertigen lässt. Die Legitimation der Versicherheitlichung von Gesundheit beruht auf den von der Regierung geschürten Ängsten der israelischen Bevölkerung, die ganz ähnlich wie die Menschen in anderen Länder aufgrund von Verunsicherung zivilrechtliche Einschränkungen akzeptiert hat.

In Israel wurden solche Maßnahmen auch von den seit der Staatsgründung 1948 etablierten Notstandsregelungen unterstützt. Außerdem herrscht in der Öffentlichkeit ein großes Vertrauen in die Sicherheitsorgane, was den Widerstand gegen ihre Maßnahmen erschwert. Um jedoch das Ausmaß der Legitimation der Versicherheitlichung zu verstehen, gilt es, einen Blick auf die Normalisierungsmechanismen in Prozessen der Versicherheitlichung zu werfen.

Das Framing der Epidemie als Sicherheitsfrage begann in dem Moment, in dem das Krisenmanagement ohne jede öffentliche Debatte an den NSC übergeben wurde. Laut Gesetz, das den NSC in Kraft gesetzt hat, ist dieser »im Auftrag des Premierministers verantwortlich für die organisations- und ressortübergreifende Stabsarbeit in Auslands- und Sicherheitsbelangen«. Sobald der NSC einen Vorgang koordiniert, deutet das also darauf hin, dass es sich um eine Sicherheitsfrage handelt. Der Spezialausschuss der Knesset, der über den Umgang mit dem Corona-Virus beraten hat, sprach dem NSC die nötige Kompetenz für die Aufgabe ab, weil dessen organisatorische Ressourcen denen anderer Verwaltungsorgane nicht vorzuziehen seien. Die grundlegende Entscheidung, die Corona-Krise als Sicherheitsfrage zu behandeln, kritisierte der Ausschuss jedoch nicht. Selbst wenn der NSC effektiv gearbeitet hätte, gäbe es dann nicht immer noch Anlass für Kritik?

Die rhetorische Klaviatur der Sicherheit

Der Parlamentsausschuss trug zum Framing des Virus als Sicherheitsfrage sogar noch aktiv bei, indem er sich für eine PR-Kampagne seitens der Israel Defense Forces (IDF) ausgesprochen hat. Dabei ließ das Gremium ein zentrales Problem außer Acht: Es geht nicht nur darum, welche Informationsquellen die Regierung heranzieht, sondern auch darum, woraus sich die Autorität dieser Informationsquellen speist – wenn nicht die offizielle Autorität, so doch zumindest die symbolische.

Als Militärjournalist:innen über die Corona-Krise zu berichten begannen, fing auch die unabhängige Presse an, sich an der Versicherheitlichung zu beteiligen. Allein die Tatsache, dass der militärische Teil der Presse sich mit der Krise beschäftigte, legitimierte ihre Einordnung als Sicherheitsfrage – als wäre das eine Selbstverständlichkeit. Später widmete sich das Institute for National Security Studies (ein unabhängiges Forschungsinstitut mit Anbindung an die Universität Tel Aviv) der Analyse der Corona-Krise und bestärkte so die Wahrnehmung der Gesundheitskrise als Sicherheitskrise. Das Institut engagierte für die Analyse zwar Fachleute, verfügt jedoch selbst über keinerlei fundierte Expertise zum öffentlichen Gesundheitswesen. Das Institut spielte vielmehr auf der rhetorischen Klaviatur der Sicherheit, wie man an Formulierungen wie »Kriegsübung« oder »von der Eindämmung zum Sieg« erkennen kann.

Indem man den Kampf gegen eine Epidemie als Krieg bezeichnet, macht man den Umgang damit zu einer Sicherheitsfrage, gibt Sicherheitsexpert:innen die Befugnis, sich damit zu befassen, was das Framing als Sicherheitsfrage wiederum verstärkt und das Ergreifen irregulärer Maßnahmen rechtfertigt. Die Sicherheitsmaßnahmen, die Israel bereits zur Kontrolle der palästinensischen Bevölkerung in der Westbank einsetzt, wurden so auf den Kampf gegen die Epidemie ausgeweitet. Potenziell galt jede mit dem Virus infizierte Person als eine Art Terrorist.

Selbst die Solidarität wurde in Israel von oben auferlegt wie in einem Krieg. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür war die vom Channel 12 des Medienunternehmens Keshet initiierte virtuelle Pessach-Seder-Zeremonie. In Israel versuchte der Staat, die Solidarität, die sich während der Corona-Krise in Europa gezeigt hat – etwa beim gemeinsamen Singen auf den Balkonen, eine spontane Aktion in vielen italienischen Städten, oder in anderen lokalen kommunalen Aktivitäten – von oben anzuregen. Die Regierung führte die (jüdische) Nation gewissermaßen in den Krieg.

Der durch die Versicherheitlichung entstandene Schaden besteht nicht nur in der wachsenden Gewöhnung an die ständige Überwachung durch den Inlandsgeheimdienst oder in einer vermehrten Präsenz des Militärs in Krisenzeiten. Man kann davon ausgehen, dass einige der Kontrollmaßnahmen auch nach der Corona-Pandemie erhalten bleiben werden, denn es liegt in der Natur einer solchen Krise, auf lange Sicht die autoritären Züge und Durchgriffsrechte der Regierung zu stärken. Sobald eine Maßnahme einmal ergriffen ist, ist sie aufgrund einer Art »Sperrklinkeneffekts« schwer wieder rückgängig zu machen. Der Schaden besteht auch in der Lähmung der öffentlichen Diskussion darüber, mit welchen anderen Mitteln man angemessen auf die Corona-Krise hätte reagieren können. In dem Moment, in dem die Geschehnisse als Sicherheitsfrage behandelt wurden, dominierte eine bestimmte staatliche Logik die Debatte. Nicht nur, dass der öffentliche Diskurs nicht dazu anregte, auch andere Einschätzungen und Stimmen (etwa aus dem öffentlichen Gesundheitswesen) zu Wort kommen zu lassen, solche Stimmen wurden, wie im Kriegsfall üblich, sogar gezielt marginalisiert und zum Schweigen gebracht. Der dominante Diskurs der Versicherheitlichung setzt die deliberative Demokratie außer Kraft – nicht unbedingt konkrete demokratische Verfahren, sondern vielmehr die kulturelle Essenz der Demokratie. Es ist daher naheliegend, nachhaltige Schäden für das Gesundheitswesen, die Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur zu befürchten.

Der Artikel erschien am 20. Mai 2020 auf der Webseite des Forum for Regional Thinking.

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