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Alles begann mit dem linken Fuß

Es hätte der Moment der Linken sein sollen: Massen von Demonstranten gehen auf die Straße, und angesichts der Korruptionsvorwürfe gegenüber Netanjahu schwindet die Unterstützung für die Regierung. Die Koalition, deren Vorsitzender viele Stunden in polizeilichen Untersuchungsräumen verbringt, wankt. Der Stuhl des Ministerpräsidenten wackelt mehr denn je. Dies ist natürlich auch im politischen Alltag zu spüren: Drohungen über die Auflösung der Regierung werden immer wieder in den Raum geworfen, die Vorsitzenden der Koalitionsparteien verhalten sich so, als würden sie bereits den Wahlkampf für den Tag danach vorbereiten. Zu viele Israelis haben genug davon, und es ist nun klar, dass sich einiges in Kürze ändern wird – auch wenn nicht klar ist, inwiefern.

Diese Dynamik kommt just zu einem Zeitpunkt, in dem sich das linke Lager mit einem neuen und unverbrauchten Politiker an seiner Spitze aufstellt: Avi Gabbay wurde erst vor im Sommer 2017 zum Vorsitzenden größten Oppositionspartei, der Arbeiterpartei gewählt, welche traditionell in Konkurrenz zu Likud, der momentanen Regierungspartei steht. Dem Zeitgeist entsprechend, ist Gabbay ein Außenseiter, der von außerhalb der Reihen der Partei und aus der Wirtschaft kommt und der seine Aufgabe mit einer Botschaft von Veränderung und Erneuerung antritt. Der Öffentlichkeit wurde er erst nach dem Sieg der Rechten bei den letzten Wahlen bekannt, als er von der gemäßigten rechten Partei Kulanu zum Umweltminister ernannt wurde – aber auch als Minister blieb er dem Großteil der israelischen Bevölkerung unbekannt. 2016 trat er von seinem Amt zurück, da er der Ansicht war, dass die Regierung einen zu radikalen und spaltenden Rechtsaußenkurs eingeschlagen hatte. Im Jahr darauf trat er bereits für den Vorsitz der linken Arbeiterpartei an, überholte eine Reihe von alteingesessenen Mitstreitern und gewann.

Die Wahl Gabbays – ein Mann ohne besonderen öffentlichen Status, ohne große Anhängerschaft oder klare politische Einstellungen – machte mehr als alles andere den Überdruss deutlich, den die versagende Parteiführung und die Politiker*innen, die diese leiten, auslöste. Vor den internen Wahlen verkündete Gabbay, dass er für die Zweitstaatenlösung auf Basis der Grenzen von 1967 bei geringem und von beiden Seiten akzeptiertem Gebietsaustausch eintritt; er verkündete wiederholt, dass er in Sicherheits-, Wirtschafts- sowie Demokratiefragen linke Positionen vertritt. Viele der israelischen Linken hofften darauf, dass Gabbays persönliche Geschichte – die eines Selfmademan, der in eine sozial schwache Familie in einem Armenviertel hineingeboren wurde – ihm dabei helfen würde, sein Versprechen "sich an neue Zielgruppen zu richten" umzusetzen, eine Kodierung für rechte und Mizrachi-Wähler. Seine ersten Monate an der Parteispitze lassen jedoch erkennen, dass sein Werben um die ‚neuen Zielgruppen‘ nichts anderes als die Wiederholung alter, fehlgeleiteter Strategien darstellt.

Eine Opposition kämpft – gegen sich selbst

Anstatt eine attraktive Alternative zur Regierung anzubieten, entschied sich Gabbay dafür, die Grenzlinien, die in rechts und links unterteilen, zu verwischen. Und anstatt rechte Positionen anzugreifen – nimmt er sie selbst an. In einer Reihe öffentlicher Äußerungen übernahm Gabbay Positionen der sich stetig radikalisierenden israelischen Rechten zu jedem Thema, das auf der politischen Tagesordnung des Lands steht. In der sicherheitspolitischen Frage, welche die entscheidende Frage in der israelischen Politik ist, verkündete Gabbay, dass er alles tun wird, um die Räumung der jüdischen Siedlungen in der Westbank zu verhindern, da dies "weder realistisch, noch logisch" sei. Auch Gabbay weiß, dass die Räumung der Siedlungen eine Grundbedingung für jegliches Abkommen zwischen Israel und den Palästinenser*innen ist. Ohne die Räumung der Siedlungen kann es keinen palästinensischen Staat geben. Die rechte Siedlerbewegung widerspricht deshalb mit folgendem Argument: Man könne die Siedlungen einfach gar nicht (mehr) räumen - es sei einfach unmöglich. Anstatt die Wahrheit zu sagen - nämlich dass die Räumung der Siedlungen zunächst einmal ein notwendiges, existentielles israelisches Interesse darstellt, da diese eine enorme Last für das eigene Militär darstellen, weiter dass dies eine Vorbedingung für das Ende der blutigen Konflikts mit den Palästinenser*innen ist – wählte Gabbay den Anschluss an den messianischen Kern der Annexionsfürsprecher*innen innerhalb der rechtsradikalen Parteien, an deren Spitze der Vorsitzende der Partei HaBajit HaJehudi (Jüdisches Heim) Naftali Bennett steht, und verkündete ohne zu zögern: "In der Sicherheitspolitik gibt es keinen Unterschied zwischen mir und der sogenannten Rechten"; "beim Sicherheitsthema sehe ich keine Unterschiede zwischen mir und Bennett".

Vor dem Hintergrund von Trumps jüngster Ankündigung, die amerikanische Botschaft nach Jerusalem zu verlegen, zerstörte Gabbay die Hoffnung, dass es sich um einen einmaligen Ausrutscher handle, indem er verkündete, dass "ein vereintes Jerusalem wichtiger als der Frieden" sei. Dies ist eine irritierende, fast wörtliche Wiederholung der Position der religiösen Rechten, so wie Naftali Bennett sie vor einen halben Jahr ausdrückte. "Besser ein vereintes Jerusalem als ein Friedensabkommen", sagte Bennett damals und erhielt dafür viel Protest und Verachtung aus den Reihen der linken Wähler*innen. Ein "vereintes Jerusalem" ist eine alte rechte Fantasie. Jerusalem ist weder vereint, noch wird es dies jemals sein: Der Osten und der Westen der Stadt sind nicht nur geographisch, sondern auch wirtschaftlich, kulturell und gesellschaftlich voneinander getrennt. Die Rechte zieht vor, diese Fakten aus dem öffentlichen Diskurs zu löschen, da sie sehr genau wissen, dass es ohne die Teilung Jerusalems keinen Friedensvertrag geben wird. Um welchen Teil Jerusalems handelt es sich, der Gabbay wichtiger ist, als die Möglichkeit, zu einem Friedensvertrag zu gelangen? Um das palästinensische Jabel Mukaber? Um das palästinensische Flüchtlingslager Kalandia oder den palästinensischen Universitätsbezirk Abu Dis? Warum dreht ein Politiker, der den Friedensprozess vorwärts treiben möchte, genau an dem Rädchen, das das Ganze zum Scheitern verurteilt?

Nicht nur in der sicherheitspolitischen Frage entpuppte sich Gabbay direkt nach seiner Wahl als rechter Falke. Das gilt auch für das arabisch-jüdische Verhältnis innerhalb der Grenzen des Staates Israels, wo er alles tut, um nicht die Meinungen seines Lagers zu repräsentieren: Als der arabisch-israelische Knessetabgeordnete der Arbeiterpartei, Zouheir Bahloul, bekannt gab, dass er nicht an den Feierlichkeiten anlässlich der Erinnerung an die Balfour-Deklaration vor hundert Jahren teilnehme werde, nannte Gabbay dessen Ansichten ‚radikal‘ und machte klar, dass Bahloul die Partei verlassen sollte. Kurz davor war es ihm sehr wichtig, mittzuteilen, dass er niemals in einer Regierung mit der Gemeinsamen Liste, der drittgrößten Knesset-Fraktion, die die palästinensisch-arabische Minderheit in Israel repräsentiert, sitzen werde. Die Deligitimisierung der arabischen Bevölkerung ist ein zentrales Projekt der radikalen Rechten in Israel, die sowohl Diskriminierung unterstützt, als auch von Rassismus geprägt ist. Unter ihnen fand Gabbay unerwartete Verbündete, welche es sehr eilig hatten, ihn in den Medien mit Komplimenten zu überhäufen.

Ein linker Anführer gegen die linken Wähler

Aber das Verheerendste ist, dass Gabbay sich selbst den ungezügelten rechten Angriffen auf die Linke anschließt. Bei einem Treffen mit potenziellen Wählern sagte er: "Netanjahu hat 1999 gesagt, dass die Linke vergessen hat, was es heißt, Jude zu sein. Wißt ihr, wie die Linke darauf reagiert hat? Sie hat vergessen, Jude zu sein". Man kommt nicht drumherum, festzustellen, dass an der Spitze des linken Lagers ein Politiker steht, der sich aus freien Stücken an der Delegitimierung seiner eigenen Wählerschaft beteiligt.

Die Arbeiterpartei ist die einzige Partei in Israel, deren wechselnde Parteichefs sich sicher sind, dass der Weg zum Sieg darüber geht, dass man die eigene Wählerschaft angreift und den politischen Gegner imitiert. Gabbay hat diese Taktik kaum erfunden: Seine beiden Vorgänger*innen glaubten, dass sie sich pausenlos für die eigenen Positionen entschuldigen und das Etikett ‚links‘ meiden müssen wie das Feuer. All dies wird natürlich deshalb unternommen, um "Stimmen von den Rechten" zu bekommen. Die sofortige Folge war, dass die Lösungen, die die Opposition in den Bereichen Sicherheit, Wirtschaft und Gesellschaft anzubieten hätte, aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwanden. Aber neben dem grundsätzlichen Problem, dass eine linke Führung sich weigert linke Werte zu repräsentieren, besteht ein weiteres, ein grundlegenderes Problem: Bis heute ist diese Taktik des rechten Stimmenfangs gänzlich gescheitert: Gabbays beider Vorgänger*innen, Shelly Yachimovich und Jitzchak Herzog haben es versucht, aber der Name des Ministerpräsidenten heißt auch heute Benjamin Netanjahu. Ganz im Gegenteil zu ihren Vorgängern Jitzchak Rabin und Ehud Barak, die eine klare Alternative anboten und Premierminister wurden.

Politisches Pokern durch kurzfristiges, taktisches Abwägen gehört in bestimmten politischen Konstellationen zum Handwerk, die Aufgabe eigener Profilierung und Programmatik aber kaum. Dass im israelischen Diskurs seit Jahren nur eine legitime Weltanschauung präsent ist, nämlich die der Rechten, ist folglich nicht nur dem erfolgreichen Agieren der Rechten geschuldet, sondern ist Ergebnis des Versagens der Opposition. Gabbay hat zwar richtig erkannt, dass die Arbeiterpartei ihre Richtung ändern muss – aber er irrt, wenn er denkt, dass eine noch genauere Nachahmung Bennetts die Rettung für uns sein wird. Wenn die Linke damit beschäftigt ist, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass sie eigentlich rechts ist, sagt sie im Prinzip: Die Rechte hat recht. Niemand möchte eine Führung wählen, die nicht an ihr eigenes politisches Lager glaubt, sich für sich selbst schämt und vor dem wegläuft, was sie vertritt. Niemand wird für eine Netanjahu-Kopie stimmen, wenn er das Original wählen kann. Mittlerweile ist es so, dass die linken Wähler*innen nicht nur Hiebe von den Rechten einstecken müssen, sondern auch von denjenigen, die sie führen sollten. Es ist kaum verwunderlich, dass viele von ihnen politikverdrossen sind oder sich kleinen Parteien zuwenden, die niemals in der Lage sein werden, eine Regierung zu bilden.

Im Bereich der Sicherheitspolitik bedeutet der Verzicht auf eine Alternative zu Netanjahus Regierungspolitik ein doppeltes Scheitern: Einerseits überlässt man die Sicherheit Israels den Rechten; andrerseits zerstört man damit jede Möglichkeit, in einem Land, dessen Bürgersorgen berechtigterweise und vor allen Dingen Sicherheitsfragen gelten, die Wahlen zu gewinnen. Bei den letzten Wahlen konnte Netanjahu gegenüber seinem Vorgänger Herzog mithilfe des zentralen Themas ‚Sicherheit‘ siegen. Eine Untersuchung von Molad zeigt deutlich, dass nur auf dem Gebiet der Sicherheit die Anschauungen der Rechten als glaubwürdiger aufgefasst werden, als die der Linken. Dies ist natürlich nicht verwunderlich: Seit Jahren vermeidet es die Arbeiterpartei ein anderes Konzept vorzuschlagen als das der rechten Gallionsfiguren Netanjahu, Bennett und Lieberman. Die Führung der Partei vermied nicht nur, linke Positionen zu entwickeln, sondern wiederholte rechte Positionen und raubte sich somit jegliche Glaubwürdigkeit. Am Absurdesten ist jedoch, dass die sicherheitspolitischen Positionen der Rechten den Empfehlungen der Sicherheitsabteilungen des Innengeheimdiensts Schin Bet, des Auengeheimdienstes Mossad und der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte klar widersprechen. Die Verantwortung des Vorsitzenden der Opposition wäre dies klar und deutlich auszusprechen.

Man zeigt Selbstbewusstsein

Auch wenn man davon ausgehen wollen würde, dass Gabbay Stimmen von der Rechten einfangen und die Wahlen gewinnen könnte – so ist dies vollkommen irrelevant, da er sich durch eine Reihe von Versprechungen schon verpflichtet hat, rechte Positionen zu übernehmen. Jemand, der sich aus der Opposition heraus nicht traut, sich mit der Rechten auseinanderzusetzen, wird es auch kaum tun können, wenn er an der Macht ist.

Momentan sieht es kaum so aus, als ob Gabbays Gebaren zu einer Stärkung eines wie auch immer definierten oppositionellen Lagers führt. Stattdessen hat er das Guthaben verspielt, das die Wähler*innen einer überzeugenden neuen Führung zugestanden hätten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Menschen es nicht mögen, wenn man sie zum Narren hält. Aber es geht hier um mehr: Die Zukunft des Staates Israels hängt davon ab, ob es die israelische Opposition schafft, sich neu aufzustellen. Denn linke Lösungen sind nicht nur denen der Rechten entgegengesetzt: Sie sind auch gerecht, richtig und besser geeignet, die dringenden existentiellen Fragen des Lands zu beantworten.

Die vielen Israelis, die an den vergangenen Samstagen gegen die Korruption der Regierung Netanjahu demonstrierten, könnten der Führung der Arbeiterpartei etwas in Sachen Überzeugungen und Entschlossenheit beibringen. Schon am Tag nach der ersten Demonstration zeigte sich ihre Effektivität: Innerhalb von zwei Tagen schafften es die Demonstrant*innen, die Abstimmung über ein umstrittenes Polizei-Gesetz zu verschieben (Ministerpräsident Netanjahu steht wegen Korruptionsvorwürfen seit Monaten unter Druck. Kritiker*innen zufolge sollte das Gesetz Netanjahu schützen, indem es der Polizei verbietet, ihre Empfehlungen an die Staatsanwaltschaft für oder gegen eine Anklage zu veröffentlichen). Der Wortlaut wird zudem derart geändert, dass es nicht für Netanjahu gilt; die Koalitionsparteien möchten Bedingungen stellen, bevor sie automatisch dem Gesetz zustimmen; die israelischen Medien lernten, dass sie die Art ihrer Berichterstattung ändern müssen und dass sie beginnen müssen, den Protest ernst zu nehmen.

Die Rechte abzulösen ist ein schwerer Auftrag, aber im Bereich des Möglichen. Umfragen zeigen immer wieder, dass die Bevölkerung die Vision der Rechten nicht teilt, die die Annektierung von Land, auf dem Millionen von Palästinenser*innen leben, mit einschließt, und sie ist bereit Land zurückzugeben für einen endgültigen Friedensvertrag mit den Palästinenser*innen. Aber die Propagandamaschine der Rechten, die bestens finanziert ist und von der rechten Siedlerbewegungslobby betrieben wird, hat die Überzeugung gefördert, dass die Rechten ‚das Volk‘ sind. Politiker*innen wie Gabbay gehören zu denen, die sich das zu eigenmachen, anstatt der Debatte eine neue Richtung zu geben. Zurzeit müssen die Demonstrant*innen auf der Strasse ihre eigenen Vertreter*innen in der Knesset hinter sich herziehen. In Israel dürstet ein Großteil der Bevölkerung nach einer Führung, die keine Angst hat, dem eigenen politischen Lager anzugehören und die sich nicht für ihre Ansichten schämt. Jetzt braucht es nur noch diese politische Führung, die an sich glaubt, und bereit ist, in den Kampf zu ziehen.

Liat Shlesinger ist die Geschäftsführerin von Molad – Das Center für die Erneuerung der Demokratie in Israel.

Weiterführende Links

• Partnertext Molad

• Lösungsmöglichkeiten aus heutiger Sicht, Cohen, Tsafrir

Arbeitspartei auf Abwegen, Manekin, Mikhael

• Sozialistischer Universalismus oder nationales Projekt? Ein Blick auf die Geschichte linker Parteien in Israel, Sheizaf, Noam