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„Ich war, ich bin, ich werde sein!“ Das Erbe der „roten Rosa“

Die unter dem Titel „Brennende Zeitfragen“ erschienene Anthologie versammelt eine Handvoll Schriften Rosa Luxemburgs, der jüdischen Revolutionärin, die 1918 zusammen mit Karl Liebknecht an der Spitze des „Spartakusaufstandes“ in Berlin stand und von Soldaten des Freikorps umgebracht wurde. Diese paramilitärische Organisation war von den Sozialdemokraten eingesetzt worden, um die im November 1918 in Berlin, Bayern und Kiel ausgebrochenen Aufstände niederzuschlagen und die alte Ordnung wiederherzustellen. Einer ihrer Mörder, Otto Wilhelm Runge, wurde wegen „versuchten Mordes“ zu zwei Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt (er hatte Luxemburg im Hotel Eden am Kurfürstendamm [dem Quartier der Gardekavallerie-Schützendivision, die die Verfolgung von Spartakisten in Berlin organisierte; Anm. d. Übersetzerin] mit einem Gewehrkolben auf den Kopf geschlagen, bis sie bewusstlos war). Oberleutnant Kurt Vogel wurde wegen der „Beseitigung einer Leiche“ und „vorsätzlicher unwahrer dienstlicher Meldung“ zu zwei Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt (er und seine Leute hatten Luxemburg [nach dem Abtransport aus dem Hotel Eden; Anm. der Übersetzerin] in einem Auto in den Kopf geschossen und daraufhin ihre Leiche in den Landwehrkanal geworfen). Vor Gericht war als Beweisstück eine Fotografie eingereicht worden, auf der zu sehen ist, wie Runge und seine Freunde einen Tag nach dem Mord in demselben Hotel feierten. Beim Vorzeigen der Fotografie im Gerichtssaal waren die Angeklagten in Gelächter ausgebrochen. Der oberste Richter hatte Runge ermahnt: „Bitte verhalten Sie sich angemessen. Das ist kein Spaß.“

Hannah Arendt hat angemerkt, dass sich etwa 45 Jahre später während des Auschwitz-Prozesses in Frankfurt am Main im Gerichtssaal eine ähnliche Szene abgespielt hat und die Angeklagten tatsächlich auch hier mit der Aufforderung, sich ordentlich zu benehmen, vonseiten des Richters zurechtgewiesen wurden. Die rechten paramilitärischen Einheiten des Freikorps waren eine der Keimzellen, aus denen heraus sich später das nazistische Gespenst entwickeln sollte. Der Mord vertiefte den Graben zwischen Sozialisten und Kommunisten, an deren Spitze damals Luxemburg und Liebknecht gestanden hatten.

Luxemburg war 1871 im polnischen Zamość geboren worden. Sie begann ihre revolutionäre Laufbahn in Warschau mit Veröffentlichungen in polnischer Sprache. Das Verfassen von theoretischen Kampfschriften war integraler Bestandteil ihrer revolutionären Aktivitäten. Das muss dem Nachwort von Oded Heilbronner und der ausgezeichneten Einführung von Moshe Zuckermann über die Aktualität Luxemburgs unbedingt hinzugefügt werden. Das, was unsere Revolutionäre – wenn es denn solche überhaupt noch gibt – „Theorie“ nennen, wird heute in Seminaren an der Universität gelehrt und ist in der Regel tief eingetunkt in eine trübe Suppe von Moralismus, Mitleid und Sich-zum-Opfer-machen. Über jeden Demonstranten, der auf die Straße geht, gibt es ungefähr zehn Facebook- und Internet-Philosophen und die philosophischen Reflexionen werden mithilfe von akademischen Zitaten stark gemacht – einschließlich der korrumpierenden Verwendung von Schlüsselwörtern wie „Hegemonie“, „Klasse“ oder „Revolution“. Daher ist es gut, dass diese Anthologie von Schriften Rosa Luxemburgs erschienen ist, und wenn auch nur, um daran zu erinnern, dass linke Theorie aus der revolutionären Praxis erwächst und nicht jenseits oder anstelle von ihr.

Moshe Zuckermann nennt fünf Gründe für die Aktualität Luxemburgs: ihre souveräne Beherrschung der Marx’schen Argumentation, ihre Beschäftigung mit der nationalen Frage, ihre vertiefende Betrachtung dessen, was „das revolutionäre Subjekt und die Spontaneität“ genannt wird, ihre Gedanken zur Funktion der revolutionären Partei sowie Luxemburgs Position bezüglich der bolschewistischen Revolution.

Während Luxemburg über die Revolution und über Marx schrieb, vertieften sich im sozialistischen Lager Europas die Meinungsverschiedenheiten, vor allem angesichts des immer stärker werdenden Kapitalismus. Es erhob sich hier immer lauter die Forderung nach gesellschaftlichen Reformen anstelle einer Revolution. Luxemburg war vollständig auf der Seite der Revolution und gegen den Reformismus. Allerdings gab Luxemburg im Gegensatz zu Lenin und zu den Bolschewiki wenig auf das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Im imperialistischen Zeitalter des Kapitalismus sei der Nationalismus von geringer Bedeutung, weil, so Luxemburg, die Träger des Nationalismus in den kleinen Nationen die größten Feinde der Revolution sind.

Luxemburg fragt in einem ihrer Aufsätze, wie es sein kann, dass Lenin und Trotzki hinsichtlich des nationalen Selbstbestimmungsrechts als Teil der Freiheiten, die die Revolution mit sich bringen wird, so schwankend sind, und wie sie so schnell um dieser Freiheit willen gerade auf die Denk- und Redefreiheit verzichten können. Dies schrieb sie ein Jahr nach Beginn der Russischen Revolution. Und sie warf Lenin und Trotzki vor, sich „für die Diktatur im Gegensatz zur Demokratie und damit für die Diktatur einer Handvoll Personen […] der Partei oder einer Clique“ auszusprechen.[1] In diesem wichtigen Aufsatz verlangte sie „eine Diktatur der Klasse, d.h. in breitester Öffentlichkeit, unter tätigster ungehemmter Teilnahme der Volksmassen, in unbeschränkter Demokratie“. Diese Kritik Luxemburgs findet in dem vorliegenden Band keine Erwähnung.

Warum ist Luxemburgs Kritik an Lenin und Trotzki im Jahre 1918 so wichtig? Weil sie Dinge vorhersagte, die andere Kommunisten selbst dann nicht den Mut und die Fähigkeit hatten zu sehen, als sich Luxemburgs Prophezeiungen bereits innerhalb kürzester Zeit bewahrheitet hatten. Aber kann die Sponsorin des Buches, die Rosa-Luxemburg-Stiftung – eine Stiftung die von der Partei gegründet wurde, die die Nachfolgerin der ostdeutschen Regierungspartei SED ist – das Erbe der „roten Rosa“ tatsächlich würdigen? Lässt sich mit diesem Zusammenhang erklären, dass in der vorliegenden Anthologie der wichtige Artikel über die Russische Revolution fehlt oder eine Erwähnung ihrer Schriften zum politischen Streik, den Luxemburg befürwortete und von dem sie hoffte, dass er die Arbeiterklasse in Bewegung setzen und ausgeweitet würde, bis aus den organisierten und unorganisierten Streiks die Revolution hervorgehen würde?

Was ist dagegen in diesem Band enthalten? Luxemburgs Aufsatz gegen den Reformismus von 1898, ein schöner Essay über das Erbe der Begründer des Marxismus (1903), ein Artikel gegen den Terror (1905), ein bekannter Aufsatz über Tolstoi (1908) und auch ihr berühmter Brief aus dem Gefängnis, der alle Mythen über die empfindsame Revolutionärin enthält.

Die Übersetzung ist gut. Manchmal gibt sie das junge Alter des Übersetzers und der Herausgeber preis. Kein Marxist würde jemals den Begriff „Massen“ (Hamonim) mit dem Wort „Menge“ (Hamon) verwechseln. Ersterer ist im revolutionären Jargon positiv, Letzterer negativ konnotiert.

Es ist sehr schwierig, eine gute Auswahl der Schriften Luxemburgs zu treffen. Erstens haben wir keine linke Partei, für die Luxemburgs Denken und Aktivitäten noch von Relevanz wären. Zweitens stehen die Tage der „roten Rosa“ in Deutschland, ihre Veröffentlichungen in den sozialistischen Zeitungen, ihre Reflexionen und Auseinandersetzungen mit dem, was bei den Schwesterparteien passierte, wie zum Beispiel ihre Kontroverse mit Jean Léon Jaurès, für eine untergegangene Welt. Nur in dieser Welt konnte eine polnische Jüdin, eine kleine und humpelnde Rothaarige zu einer charismatischen Führerin werden. Und das nicht nur wegen ihrer radikalen Schriften, sondern weil damals mit dem Aufstieg des französischen, belgischen und deutschen Sozialismus ein großes Aufblühen der Freiheit, immer stärker werdende politische Aktivitäten und ein reiches kulturelles Leben verbunden waren. Nicht nur liegt zwischen den damaligen Kontroversen und denen in unserem heutigen Leben eine große Distanz, auch die Namen, die in ihren Artikeln erwähnt werden, sind selbst den Linken in den betreffenden Ländern kaum mehr bekannt. Und trotz alledem: Rosa Luxemburg begleitet uns im Gegensatz zu anderen historischen Figuren derselben Epoche weiterhin, sei es, indem ihr Erbe mit Dreck beworfen wird, sei es, indem man ihren Namen feiert.

Hannah Arendt ist auch im Fall von Rosa Luxemburg eine besonders brillante Kritikerin. So schreibt Arendt über die Zeit nach Luxemburgs Ermordung: „Es brauchten nur ein paar Jahre zu vergehen und ein paar Katastrophen sich zu ereignen, um die Rosa-Luxemburg-Legende zum Inbegriff der Sehnsucht nach der guten alten Zeit der Bewegung werden zu lassen, als die Hoffnung noch grünte, die Revolution unmittelbar vor der Tür stand und vor allen Dingen der Glaube an die Fähigkeiten der Massen und die moralische Integrität der kommunistischen Führung noch unangetastet war. Es spricht nicht nur für Rosa Luxemburg selbst, sondern auch für die Qualitäten dieser älteren Generation der Linken, daß diese Legende – so unbestimmt, verworren und in den meisten Einzelheiten ungenau sie sein mochte – sich über die ganze Welt verbreiten und immer wieder zu neuem Leben erwachen konnte, sobald sich irgendwo eine ‚Neue Linke‘ auftat. Aber neben diesem verschönten Erinnerungsbild lebten auch die alten Klischees von dem ‚zänkischen Weib‘ und von der ‚Romantikerin‘ fort, die weder ‚realistisch‘ noch wissenschaftlich war (Konformismus war ihre Sache nicht), und deren Arbeiten, besonders das große Buch über den Imperialismus (Die Akkumulation des Kapitals, 1913) immer mit einem Achselzucken beiseitegeschoben wurden. Eine jede Bewegung der ‚Neuen Linken‘ aber begrub, sobald sie sich in eine ‚Alt-Linke‘ verwandelte, also meist, wenn ihre Mitglieder die Vierzig überschritten hatten, ihre ursprüngliche Begeisterung für Rosa Luxemburg zusammen mit ihren Jugendträumen, und da sie sich gewöhnlich nicht die Mühe gemacht hatten zu lesen, geschweige denn zu verstehen, was sie zu sagen hatte, fiel es ihnen leicht, sie mit dem herablassenden Philistertum ihres frischerworbenen Status abzutun.“

Das letzte Manifest von Luxemburg, vielleicht das berühmteste, wurde im Januar 1919 gedruckt, tatsächlich gleichzeitig mit ihrer Ermordung. Dort spottet sie der Redewendung „Ordnung herrscht“: „‘Ordnung herrscht in Berlin!‘ Ihr stumpfen Schergen! Eure ‚Ordnung‘ ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon ‚rasselnd wieder in die Höh' richten‘ und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: ‚Ich war, ich bin, ich werde sein!‘“

Der Aufsatz ist zuerst am 8.5.2015 in der Tageszeitung Haaretz erschienen.

(Übersetzt von Grit Schoarch)

Yitzhak Laor, Jahrgang 1948, ist ein israelischer Schriftsteller, Theaterstückautor, Essayist, Hochschullehrer und einer der scharfzüngigsten Literaturkritiker*innen Israels.

Brennende Zeitfragen: Texte von Rosa Luxemburg. (Hebräisch) Aus dem Deutschen übersetzt von Harel Kain. Edition: Niv Savariago, Verlag Ha-kibbuz Ha-meuchad, Kav-Adom-Reihe, 2015, 207 Seiten

Luxemburg in Nepal lesen - Eine Buchrezension von "Brennende Zeitfragen", ausgewählte Texte von Rosa Luxemburg auf Hebräisch von Yuval Elbashan

Anmerkungen:

[1] Zit. nach Luxemburg, Rosa: Zur Russischen Revolution. Das vollständige Zitat lautet: „Lenin-Trotzki entscheiden sich umgekehrt für die Diktatur im Gegensatz zur Demokratie und damit für die Diktatur einer Handvoll Personen, d.h. für bürgerliche Diktatur.“

Nachtrag:

Der Herausgeber von "Brennende Zeitfragen" Prof. Moshe Zuckermann, merkt an:

"Die Auswahl der Rosa-Luxemburg-Texte habe ich seinerzeit (mit Ergänzungen von anderer Seite) getroffen. Ich kann bezeugen, dass es zu keinem Zeitpunkt einen Druck seitens der RLS gegeben hat, etwas zu unterschlagen. Die damalige Leiterin des Israel-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung Angelika Timm war eigentlich an der Arbeit an der Anthologie so gut wie gar nicht beteiligt."

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