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Ermitteln im Staat ohne Staatlichkeit

Der Beschluss des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, sich für die Situation in Palästina zuständig zu erklären, öffnet den Weg für Ermittlungen wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen im Gazastreifen und der Westbank. Die Entscheidung von Februar beendet außerdem den seit mehr als zehn Jahren andauernden Streit darüber, ob Palästina ein Staat im Sinne des Römischen Statuts ist – zumindest vorerst. Im Folgenden soll zunächst erklärt werden, worüber gestritten und was nun entschieden wurde, ehe die rechtlichen Konsequenzen der Entscheidung erläutert werden.

Vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) können Personen (nicht Staaten) wegen Verbrechen im Sinne des internationalen Rechts strafrechtlich verfolgt werden. Das Römische Statut (https://www.un.org/Depts/german/internatrecht/roemstat1.html), die Rechtsgrundlage des Gerichts, listet Duzende von Verbrechen in vier Kategorien auf: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression. In Bezug auf die „Situation in Palästina“ will die Anklagebehörde des Gerichts Handlungen untersuchen, die in die Kategorien Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen fallen könnten.

Obwohl das Gericht für Verfahren gegen Einzelpersonen zuständig ist, bildet die Zustimmung von Staaten die Grundlage für diese Befugnis. Das Gericht ist zuständig für Verbrechen, die Staatsbürger*innen von Staaten, die der Zuständigkeit des Gerichts zugestimmt haben, begangen haben sowie für Verbrechen, die auf dem Territorium solcher Staaten begangen wurden. Die Zustimmung wird in der Regel durch den Beitritt zum Römischen Statut zum Ausdruck gebracht. Daher ist die Frage, ob ein Staat dem Statut beigetreten ist oder nicht, von entscheidender Bedeutung.

Israel, Palästina und die Frage der Zuständigkeit

Die Arbeit der Anklagebehörde des Gerichts beginnt mit der Überprüfung der jeweiligen „Situationen“. Die Anklagebehörde untersucht die „Situation“ und entscheidet dann, ob Anklage gegen bestimmte Personen erhoben werden kann. Seit 2016 hat die Anklagebehörde des IStGH präliminäre Ermittlungen durchgeführt, um festzustellen, ob die „Situation in Palästina“ untersucht werden kann. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage der Zuständigkeit des IStGH hinterfragt. Wie bereits erwähnt, ist dafür von entscheidender Bedeutung, ob die an der „Situation“ beteiligen Staaten das Römische Statut unterzeichnet haben.

Israel ist dem Römischen Statut nicht beigetreten. Im Allgemeinen vermeidet es Israel, bindenden internationalen Mechanismen zur Konfliktlösung beizutreten, unter anderem aus Angst vor deren Politisierung. Darüber hinaus hat Israel Bedenken, dass einige im Römischen Statut aufgeführten Verbrechen Folgen für Israel und seine Staatsbürger*innen haben könnten, insbesondere die zu den Kriegsverbrechen zählende „unmittelbare oder mittelbare Überführung durch die Besatzungsmacht eines Teiles ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet“, mit anderen Worten auf das Verbot, Siedlungen im besetzten Gebiet zu errichten.

Den Haag für Israel nicht zuständig

Da Israel dem Römischen Statut nicht beigetreten ist, ist der IStGH nicht befugt, Strafverfahren wegen Handlungen durchzuführen, die auf israelischem Territorium oder von israelischen Staatsbürger*innen begangen wurden. In der „Situation in Palästina“ scheint jedoch noch ein weiterer Staat involviert zu sein, oder nicht? Das Urteil des IStGH vom 5. Februar 2021 hat diese Frage entschieden und festgestellt, dass es im Sinne des Römischen Statuts den Staat Palästina gibt, der befugt ist, die Zuständigkeit dem IStGH zu übertragen. Dies bedeutet, dass das Gericht für Strafverfahren wegen Handlungen zuständig ist, die auf dem Territorium Palästinas begangen wurden, unabhängig davon, ob sie von Israelis oder von Palästinenser*innen begangen wurden.

Die Geschichte begann im Januar 2009. Nach der israelischen Militäroperation „Gegossenes Blei“ gab die Palästinensische Autonomiebehörde (unter dem Namen „Palästina“) ihre Zustimmung bekannt, dass in ihrem Territorium begangene Verbrechen in die Zuständigkeit des IStGH fallen. Anfang 2012 dann erklärte die Anklagebehörde des IStGH, dass sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt Palästina nicht als Staat betrachten könne. Dies änderte sich am 29. November 2012, als die Vollversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution verabschiedete, die Palästina als Nicht-Mitgliedsstaat mit Beobachterstatus anerkannte. Gemäß den Verfahrensregeln der Vereinten Nationen ermöglichte es diese Resolution, dass „Palästina“ den Konventionen beitritt, die vom UN-Sekretariat verwaltet werden, wozu auch das Römische Statut gehört.

Seitdem hat Palästina Dutzende internationalen Konventionen unterzeichnet, im Januar 2015 auch das Römischen Statut mit der Folge, dass es dem IStGH die Zuständigkeit übertrage für alle Handlungen, die seit Juni 2014 in Palästina begangen worden waren, das heißt auch für Handlungen während der israelischen Militäroperation „Starker Fels“. Im Januar 2016 leitete die Anklagebehörde des IStGH vorläufige Ermittlungen ein, in denen sie die Zuständigkeit des Gerichts für die Situation in Palästina prüfte sowie die Frage, ob in dem Territorium Handlungen begangen wurden, die (anscheinend) zu den Verbrechen gehören, für die das Gericht zuständig ist. Im Dezember 2019 gab die Anklagebehörde bekannt, dass ihres Erachtens der IStGH zuständig sei und dass sie beabsichtige, eine Untersuchung einzuleiten. Jedoch habe sie, um jedweden Zweifel auszuschließen, das Gericht angerufen, ihre Entscheidung zu bestätigen sowie festzustellen, dass das in der Angelegenheit relevante Territorium Palästinas den Gazastreifen und die Westbank, einschließlich Ost-Jerusalem, umfasst.

Die Anerkennung als Staat

Die Anklagebehörde führte zwei Gründe an für ihre Sicht, dass Palästina ein Staat ist. Der erste basiert auf der Auslegung des Römischen Statuts, wonach Palästina dem im Statut festgelegten Verfahren für den Beitritt von Staaten gefolgt sei. Angesichts dessen sei es unmöglich, Palästina nicht als Staat anzuerkennen, der befugt ist, Zuständigkeiten der Strafverfolgung dem Gericht zu übertragen. Zum Zweiten erfülle Palästina nach den Regeln des Völkerrechts die Bedingungen für eine Einstufung als Staat, einschließlich einer sehr breiten internationalen Anerkennung, fast vollständig. Das einzige Manko in diesem Zusammenhang sei die mangelhafte Effizienz der PA, was laut der Anklagebehörde die Folge von israelischen Maßnahmen sei, die das palästinensische Volk daran hinderten, sein Selbstbestimmungsrecht auszuüben.

Israel hat an dem Verfahren vor dem IStGH nicht offiziell teilgenommen. Israels Hauptgegenargument ist, dass die Tatsache, dass die Palästinenser*innen dem Römischen Statut quasi beigetreten sind, nicht ausreiche, um die Zuständigkeit des Gerichts zu begründen, weil es in völkerrechtlicher Hinsicht keinen „Staat Palästina“ gebe. Aus Israels Sicht üben die Palästinenser*innen in der Praxis keine vollständige Kontrolle über ihr Territorium aus, und gemäß den Oslo-Abkommen haben sie keine Gerichtsbarkeit über Israelis. Daher, argumentiert Israel, seien sie kein Staat, der dem Gericht Befugnisse zur strafrechtlichen Verfolgung in seinem Territorium verleihen könne.

In seiner Entscheidung vom 5. Februar 2021 hat der IStGH die Position der Anklagebehörde unter Bezugnahme auf den ersten Grund mehrheitlich angenommen. Er entschied, dass Palästina durch seinen Beitritt zum Römischen Statut befugt sei, dem Gericht die Zuständigkeit für in seinem Territorium begangene Verbrechen im Sinne des internationalen Rechts zu übertragen. Das Gericht stellte fest, dass nicht entschieden werden müsse, ob Palästina die Bedingungen für die Einstufung als Staat nach allgemeinem Völkerrecht erfüllt. Das Gericht stellte weiterhin fest, dass es nicht befugt sei, die Gültigkeit der Resolution der UN-Vollversammlung, die Palästina den Status eines Nicht-Mitgliedsstaats verleiht, oder die Verfahren für den Beitritt zu internationalen Konventionen zu überprüfen. Das Gericht akzeptierte die Sicht der Anklagebehörde, dass sich das Territorium von Palästina für die Zwecke des Römischen Statuts über den Gazastreifen und die Westbank, einschließlich Ost-Jerusalem, erstreckt. In Bezug auf die Oslo-Abkommen entschied das Gericht, dass sie für die Frage der Zuständigkeit des Gerichts nicht relevant seien. Sie könnten jedoch zu einem späteren Zeitpunkt im Zusammenhang mit der Pflicht beziehungsweise Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit dem Gericht relevant sein.

Vorermittlungen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Im März gab die Anklagebehörde des IStGH bekannt, wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit seit Juni 2014 Vorermittlungen eingeleitet zu haben. Sie listete eine Reihe von Handlungen auf, die von Israelis und Palästinenser*innen begangen wurden und die als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen werden können, wobei sie sich nicht darauf festlegt, dass diese Liste vollständig ist.

In Bezug auf den Gazastreifen untersucht die Anklagebehörde Handlungen, die während der Kämpfe im Jahr 2014 sowie bei den Demonstrationen in der Nähe der Sperranlage seit 2018 begangen wurden, wobei sie sich auf Handlungen mit schwerwiegenden Folgen für Zivilist*innen und zivile Objekte konzentriert. In diesem Zusammenhang besteht ein Unterschied zwischen Soldat*innen der israelischen Armee einerseits und Angehörigen von Hamas und anderen palästinensischen Gruppen andererseits.

Für die strafrechtliche Verfolgung ist es erforderlich, dass die Absicht, Zivilist*innen Schaden zuzufügen, nachgewiesen werden kann. Hamas-Mitglieder und andere palästinensische Gruppen haben erklärtermaßen mit Absicht gegen israelische Staatsbürger*innen gehandelt, sodass es nicht schwerfallen wird, diese Absicht zu beweisen. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei den Schäden durch Handlungen, derer Soldat*innen der israelischen Armee beschuldigt werden, meist nicht um absichtlich verursachte, sondern um unverhältnismäßige Begleiterscheinungen. Die Unverhältnismäßigkeit und das Bewusstsein dafür sind nicht leicht nachzuweisen. Daher sind in Bezug auf die Ereignisse im Gazastreifen Palästinenser*innen nicht weniger, sondern vielleicht sogar eher strafrechtlich verfolgbar als Israelis.

Verfolgung von Personen, nicht von Staaten

In Bezug auf Handlungen von Israelis in der Westbank und Ost-Jerusalem konzentriert sich der Verdacht der Anklagebehörde auf Aktivitäten im Zusammenhang mit den Siedlungen sowie auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit, insbesondere Verfolgung, Deportation und Apartheid. In Bezug auf Handlungen von Palästinenser*innen dort konzentriert sich der Verdacht der Anklagebehörde auf Folterungen in den Verhöreinrichtungen der palästinensischen Sicherheitskräfte sowie auf die Förderung von Gewalt durch die PA mittels Zahlungen an die Familien von palästinensischen Gefangenen, die wegen terroristischer Handlungen gegen israelische Staatsbürger*innen verurteilt wurden.

Vor dem IStGH können nur Personen (nicht Staaten) strafrechtlich verfolgt werden. Die Zuständigkeit des IStGH erstreckt sich auf alle Personen, die im Verdacht stehen, Verbrechen im Sinne des internationalen Rechts auf dem Territorium Palästinas verübt zu haben, das heißt sowohl Israelis als auch Palästinenser*innen. Aus Sicht der Anklagebehörde besteht berechtigter Grund zur Annahme, dass Verbrechen, die in die Gerichtsbarkeit des IStGH fallen, sowohl von Soldat*innen der israelischen Armee und israelischen Behörden als auch von Hamas-Mitgliedern und Angehörigen anderer palästinensischer bewaffneter Gruppen begangen wurden.

Eine Anklage vor dem IStGH ist nur zulässig, wenn der zur Durchführung von Strafverfahren befugte Staat dies nicht wirklich tut oder nicht tun kann. Aus Sicht der Anklagebehörde sind Anklagen gegen Palästinenser*innen zulässig, da das palästinensische Justizsystem (in der Westbank und dem Gazastreifen) keine Strafverfahren wegen der mutmaßlichen Verbrechen durchführt. In Bezug auf Israel wird die Zulässigkeit von Anklagen gegen Soldat*innen der israelischen Armee gegenwärtig geprüft. Dies liegt daran, dass Israel über Mechanismen verfügt, um dem Verdacht von Kriegsverbrechen nachzugehen. Die reine Existenz solcher Mechanismen reicht jedoch nicht aus. Die Frage, inwieweit Israel den Verdacht auf Kriegsverbrechen wirklich untersucht und gegebenenfalls strafrechtlich verfolgt, ist hier von zentraler Bedeutung.

Die Folgen der Ermittlungen

Die Zuständigkeit des IStGH ist nicht beschränkt auf Personen von bestimmten Rängen oder Positionen. Grundsätzlich ist die internationale Gemeinschaft eher daran interessiert, Führungskräfte und hochrangige Personen strafrechtlich zu verfolgen, da die Reichweite ihrer Handlungen am größten ist und es in ihrer Macht steht, die unteren Ebenen zu beeinflussen. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass selbst rangniedere Personen vor einem internationalen Gericht angeklagt und zu langen Haftstrafen verurteilt werden können.

Im Moment scheint die Entscheidung des IStGH die letzten verfahrensrechtlichen Hindernisse für die Untersuchung und Einleitung von Strafverfahren gegen einzelne Personen beseitigt zu haben. Es ist möglich, dass im Verlauf eines solchen Verfahrens Einsprüche in Bezug auf die Zuständigkeit des Gerichts erneut erhoben werden, aber es besteht kein Grund zur Annahme, dass in einem künftigen Verfahren eine Entscheidung getroffen wird, die wesentlich von der im Februar 2021 getroffenen abweicht. Deshalb ist die unmittelbare Frage, die israelische Behörden sich stellen müssen, nicht „wie Ermittlungen und Anklagen vermieden werden können“, sondern „wie sie sicherstellen, dass Israelis nicht vor dem IStGH strafrechtlich verfolgt werden“.

Nach dem Römischen Statut kann Israel die Anklagebehörde auffordern, die Verfahren gegen Verdächtige angesichts der sich aus der israelischen Untersuchung ergebenden Zulässigkeitsbarriere aufzuschieben. Eine solche Erklärung ist jedoch nicht zu erwarten. Erstens hält sich Israel nicht an die Verfahrensregeln des IStGH, da es dessen Zuständigkeit bestreitet. Zweitens wäre eine solche Erklärung ohne jeglichen Gehalt. Der Unwille, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, etwas an den Aktionen der israelischen Armee könnte nicht stimmen, ist so groß, dass per Gesetz denjenigen, die versuchen, dies zu überprüfen, Schranken auferlegt werden.

Siedlungsbau aus israelischer Sicht nicht zu ahnden

Darüber hinaus ist es in Israel nicht möglich, einem Verdacht auf Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit den Siedlungen nachzugehen. Israel bestreitet, dass seine Siedlungsprojekte gegen internationales Recht verstoßen: etwa gegen das Verbot, Teile der eigenen Zivilbevölkerung in das besetzte Gebiet zu übersiedeln; gegen das Verbot, das Recht in dem besetzten Gebiet zu ändern, es sei denn für militärische Zwecke oder zum Wohl der einheimischen Bevölkerung; oder gegen das Verbot der Diskriminierung durch Anwendung verschiedener Rechtssysteme in dem besetzten Gebiet je nach nationaler Zugehörigkeit (das heißt, Apartheid).

Der israelische Oberste Gerichtshof weigerte sich, über diese Frage zu urteilen. Auch in Bezug auf den Abriss von Häusern von Palästinenser*innen als Strafmaßnahme bestreitet Israel, dass dies gegen das völkerrechtlich verankerte Verbot der kollektiven Bestrafung und Zerstörung von Eigentum ohne militärische Notwendigkeit verstoße. Bereits in den1970er Jahren akzeptierte der israelische Oberste Gerichtshof die Sicht des Staats und entschied, dass die Politik der Häuserabrisse für Strafzwecke legal sei. Mit anderen Worten, in Bezug auf die Siedlungen und den Abriss von Häusern für Strafzwecke besteht keine Aussicht, dass Untersuchungen in Israel eingeleitet werden, die dann ein Hindernis für die Zulässigkeit eines Strafverfahrens vor dem IStGH darstellen könnten.

Der IStGH steht jedoch vor einem praktischen Hindernis: Israel kooperiert nicht mit dem IStGH, und es ist zweifelhaft, ob sich Hamas oder die PA anders verhalten, wenn ihre Leute im Verdacht stehen, in ihrem Handeln gegen internationales Recht verstoßen zu haben. Bei dem Verdacht auf Verbrechen während Kampfhandlungen wird die Anklagebehörde Schwierigkeiten haben, die an den Aktionen Beteiligten zu identifizieren oder einzuschätzen, auf welche Art und Weise die Entscheidungen getroffen wurden, die zu ihren Handlungen geführt haben. Ohne diese Informationen wird es ihr schwerfallen, jemandem persönliche strafrechtliche Schuld zuzuschreiben.

Ein weiteres Hindernis für den IStGH besteht darin, dass die Angeklagten während ihrer Gerichtsprozesse anwesend sein müssen. Natürlich wird Israel niemanden an den IStGH ausliefern, aber in Israel wird befürchtet, dass andere Länder, die dem Römischen Statut beigetreten sind und mit dem IStGH zusammenarbeiten, israelische Staatsbürger*innen, die sich in ihrem Hoheitsgebiet befinden, ausliefern werden. Medienberichten zufolge wurde daher eine Liste mit Entscheidungs- und Funktionsträger*innen zusammengestellt, die gebeten werden, von Auslandsreisen abzusehen.

Im Römischen Statut ist unter anderem die Möglichkeit einer einjährigen Aussetzung des Strafverfahrens vor dem IStGH durch einen Beschluss des UN-Sicherheitsrats vorgesehen. Israel hat zumindest bisher die Unterstützung der USA genossen, die sich der Strafverfolgung von Staatsbürger*innen eines Landes, das der Zuständigkeit des Gerichts nicht zugestimmt hat, widersetzten. Aber selbst wenn die USA einen Vorschlag zur Aussetzung des Verfahrens des IStGH im UN-Sicherheitsrat einbringen, sind die Chancen gering, dass sich dafür eine Mehrheit finden lässt.

Die Kritik der israelischen Seite

Personen in der PA, politische Organisationen und viele Menschenrechtsorganisationen haben die Entscheidung des IStGH begrüßt und gesagt, dies sei ein bedeutender Schritt, um Gerechtigkeit zu erlangen in Bezug auf das von Israel an den Palästinenser*innen verübte Unrecht. Sollte die Erwartung bestehen, die fortschreitenden Verfahren vor dem Gericht würden die israelische Regierung dazu veranlassen, ihre Politik zu ändern, den Siedlungsbau zu stoppen oder die Besatzung zu beenden, so gibt es im bisherigen Verhalten Israels keinerlei Hinweise für solche Hoffnungen. Wenn die Freude auf der Erwartung beruht, dass nun diejenigen Israelis oder Palästinenser*innen, die persönlich für die Hauptverbrechen verantwortlich sind, strafrechtlich verfolgt werden, so ist die Freude verfrüht. Es wird wahrscheinlich noch einige Jahre dauern, bis Anklage gegen bestimmte Personen erhoben wird oder Haftbefehle gegen sie erlassen werden. Solange potenzielle Verdächtige es vermeiden, Israel zu verlassen, wird es nicht möglich sein, ein Verfahren gegen sie einzuleiten.

Israels Botschafter bei den Vereinten Nationen, Gilad Erdan, bezeichnete die Entscheidung des IStGH als „antisemitisch“ und behauptete, sie untergrabe die Fähigkeit von Demokratien, Terrorismus zu bekämpfen. Der israelische Premierminister, Benjamin Netanjahu, erklärte, dass „das Gericht die wirklichen Kriegsverbrecher ignoriert und stattdessen den Staat Israel verfolgt, einen Staat mit einem starken demokratischen Regime, der die Rechtsstaatlichkeit heiligt“. Diese und ähnliche Stellungnahmen, die die Verantwortung Israels und seiner Staatsbürger*innen für ihren Anteil am Konflikt negieren, werden nicht dazu führen, dass der IStGH verschwindet.

Sie sind Teil eines Diskurses innerhalb der israelischen jüdischen Bevölkerung, in dem jede Kritik an Israel als „antisemitisch“ bezeichnet wird, um sie zurückzuweisen, ohne sie inhaltlich zu diskutieren. Sie sind Teil eines Diskurses, der die Tatsache ignoriert, dass Israel über vier Millionen Menschen in der Westbank und im Gazastreifen auf verschiedenen Ebenen unter seiner Kontrolle hat und dort ein Regime unterhält, das keinen Anspruch darauf erhebt, demokratisch zu sein. Es ist zu befürchten, dass die Schande, die an Israel und Israelis klebt und die bisher in der politischen Arena geblieben ist, nun in die rechtliche und persönliche Sphäre übergeht. Das Problem liegt jedoch nicht nur bei den Entscheidungsträger*innen. Nach vielen Jahren, in denen die israelische Öffentlichkeit es vorgezogen hat, nicht zu wissen, was ihr Staat – ihre Politiker*innen, Beamt*innen und Soldat*innen – in den besetzten Gebieten machen, könnten die zu erwartenden Entwicklungen vielleicht ihr Interesse wecken.

Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin

Der Artikel erschien zuerst am 8. Februar 2021 im Forum for Regional Thinking

Yael Ronen ist Professorin für Internationales und Völkerrecht. Sie unterrichtet am Academic Center for Law and Science und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Minerva Center for Human Rights der Hebräischen Universität von Jerusalem.

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