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Carte blanche für Bennett

Nach 20 Stunden im Willard Intercontinental in Washington hatte die Warterei für Naftali Bennett schließlich ein Ende. Einen Tag später als geplant kam es zu dem Treffen, auf das Israels Ministerpräsident seit seinem Amtsantritt im Juni hingearbeitet hatte: die Zusammenkunft mit Joe Biden. Wegen des Anschlags auf den Flughafen von Kabul musste der Termin im Weißen Haus um einen Tag verschoben werden. Dort bat der US-Präsident Bennett vergangenen Freitag zu dessen Freude zunächst nicht ins Oval Office, sondern zum Kaffee in sein privates Esszimmer. Eine Geste, um die frostigen Beziehungen zu beenden, die zwischen Biden und Bennetts Vorgänger Benjamin Netanjahu geherrscht hatten. Eine Einladung nach Washington hatte der Nachfolger Donald Trumps dem israelischen Regierungschef in jenen fünf Monaten verwehrt, in denen sich seine Amtszeit mit der Netanjahus überschnitt.

Seiner Wählerschaft in Israel zu zeigen, dass er auf internationalem Parkett bestehen kann, war deshalb die wichtigste Botschaft, die Bennett durch die Begegnung mit Biden aussenden wollte: Während Netanjahu mit seiner Frau Sara auf Hawaii Urlaub macht, präsentiert sich der diplomatisch wenig erfahrene Premier als verlässlicher Partner der Vereinigten Staaten und ist im Umgang weniger forsch als der Vorgänger. Netanjahu hatte während der Präsidentschaft Barack Obamas (2009 – 2017) für nachhaltige Verstimmung unter Amerikas Demokraten gesorgt, weil er sich direkt an den von Republikanern dominierten Kongress wandte, um die Iran-Strategie des Weißen Hauses zu hintertreiben.

Konziliant im Ton, hart in der Sache

Diese Phase im israelisch-amerikanischen Verhältnis scheint mit Bennetts erstem Besuch in Washington vorbei. Es sei gelungen, „eine direkte und persönliche Beziehung zu schaffen“, so der 49-Jährige vor dem Rückflug nach Tel Aviv, „basierend auf Vertrauen“. Abseits der Floskeln teilen er und der 29 Jahre ältere Biden ein handfestes Interesse: Beide wollen eine Rückkehr Netanjahus an die Macht verhindern. Der jetzige Oppositionsführer hatte mit außenpolitischen Alleingängen immer wieder für Ärger bei Obama und Biden gesorgt, als Letzterer US-Vizepräsident war. Unter Trump dann kamen 2018 die international nicht abgestimmte Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem sowie ein Jahr später die Anerkennung der 1981 von Syrien annektierten Golanhöhen hinzu.

Revidieren dürfte Biden diese Entscheidungen kaum, doch wird er ebenso wenig die von Trump und Netanjahu betriebene Missachtung internationaler Vereinbarungen fortsetzen. Tiefpunkt dieser Politik war der Anfang 2020 von Trump vorgelegte und von diesem als „Jahrhundertdeal“ bezeichnete „Friedensplan“, der die Annexion von bis zu einem Drittel der besetzten Westbank vorsah. Ein Affront sondergleichen, der für die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) allenfalls die Rolle eines Bittstellers vorsah. Vor diesem Hintergrund stärkte die Einladung nach Washington zweifelsfrei Bennetts ideologisch diffuse Regenbogenkoalition, der neben rechten, liberalen und linken Parteien mit der Vereinigten Arabischen Liste erstmals eine palästinensisch-israelische Gruppierung angehört.

Inhaltlich indes hält es der neue Regierungschef mit der Außenpolitik Netanjahus, im Verhältnis zu den USA ebenso wie in der Region. So ging es auch während des Gesprächs mit Biden um das Thema Iran und Israels unbeirrbaren Willen, die Entwicklung von Atomraketen durch die Islamische Republik zu verhindern, notfalls mit Gewalt. Joe Biden sicherte amerikanischen Beistand zu. „Sollte die Diplomatie scheitern, sind wir bereit, auch andere Optionen zu erwägen“, meinte er nach dem Treffen im Weißen Haus. Inwieweit die USA wirklich willens sind, sich nach dem Afghanistan-Desaster auf einen Waffengang im Mittleren Osten einzulassen, steht auf einem anderen Blatt, doch das Signal ist klar: Schwäche gegenüber der Führung in Teheran mit dem neuen, bislang wenig verhandlungsbereit auftretenden Präsidenten Ebrahim Raisi wird sich Biden nicht erlauben.

Den Konflikt schrumpfen

Jenseits der Absicht, das iranische Atomprogramm zu stoppen und Teherans Stellvertreterarmee an der Grenze zu Israel, die libanesische Hisbollah, in Schach zu halten, diente Netanjahus schroffe Iran-Rhetorik noch einem anderen Zweck: Sie sollte davon ablenken, dass es in seiner Regierungszeit keinerlei Fortschritte im Verhandlungsprozess mit der vom 85 Jahre alten Mahmud Abbas geführten Autonomiebehörde in Ramallah gab. Eine Politik, die Bennett ungebrochen fortsetzen will – ohne Druck aus Washington befürchten zu müssen. Offiziell sprach Biden lediglich davon, „Frieden, Sicherheit und Wohlstand für Israelis und Palästinenser voranzutreiben“; die anhaltende Besatzung im Westjordanland und in Ostjerusalem klammerte er aus. Auch unterblieb jede Kritik am anhaltenden Ausbau bestehender und der Errichtung neuer illegaler Siedlungen in den palästinensischen Gebieten.

Das bedeutet Carte blanche für Bennett, dessen Regierung zuletzt der Vergabe von 15.000 Arbeitserlaubnissen an palästinensische Arbeiter in Israel zustimmte und der Autonomiebehörde einen Kredit von umgerechnet gut 130 Millionen Euro anbot, um der darbenden Ökonomie in der Westbank aufzuhelfen. Das dürfte als Blaupause für den weiteren Umgang mit der innenpolitisch unter Druck stehenden Funktionärsriege um Abbas in Ramallah dienen: kleine Konzessionen in administrativer und ökonomischer Hinsicht, um die Lebensumstände der Bevölkerung zu verbessern. Am Ende jedoch könnte dies lediglich dazu dienen, Druck von der israelischen Militärverwaltung zu nehmen und die Besatzung aufrechtzuerhalten. Die beiden israelisch-palästinensischen Kabinettsmitglieder, Essawi Frej, der Minister für regionale Kooperation, und Hamad Amer als Minister im Finanzministerium, sind offenkundig vor allem deshalb im Amt, um sich zivilen Hilfsmaßnahmen zu widmen.

Bennetts Kurs, den „Konflikt zu schrumpfen“, wie er seine Palästinapolitik kurz nach dem Amtsantritt nannte, wird von Washington auch deshalb gedeckt, weil so ein besseres Verhältnis zu Jordanien und Ägypten in Aussicht steht. Netanjahu hatte die bis 2020 einzigen Staaten, mit denen Israel Friedensverträge unterzeichnete, zuletzt links liegen gelassen und gemeinsam mit Trump auf neue regionale Allianzen gesetzt. Bennett hingegen reiste schon einen Monat nach Übernahme der Regierungsgeschäfte zu einem Treffen nach Amman, wo er König Abdullah II. traf. Eine Einladung des ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah as-Sisi nach Kairo hat ihm dessen Geheimdienstchef Abbas Kamel im August in Jerusalem überreicht. Es wäre der erste offizielle Besuch eines israelischen Regierungschefs in Ägypten seit 2011, als Netanjahu kurz vor dessen Sturz mit Hosni Mubarak in Scharm el-Scheich am Roten Meer zusammenkam.

Auf Seiten der autoritären arabischen Allianz

Zehn Jahre nach dem Arabischen Frühling steht Israel fest an der Seite einer autoritären Allianz aus Ägypten, Saudi-Arabien, Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Bis heute gehen die Golfmonarchien hart gegen Oppositionelle vor. Regional bilden sie das Gegengewicht zu Katar und der Türkei, denen die Muslimbruderschaft ein Partner ist – von Libyen über Tunesien bis nach Syrien. Allen voran die repressive Führung der Emirate sorgte durch ihren Rückhalt für den Militärputsch gegen den Muslimbruder Mohammed Mursi 2012 dafür, den Tiefen Staat aus Justiz und Sicherheitsapparat nach einem Jahr islamistischer Herrschaft in Kairo wieder an die Macht zu hieven.

Israels Nähe zur arabischen Restauration erhielt durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten im Oktober 2020 einen offiziellen Status. Neben ökonomischen Interessen fiel eine gemeinsame Front gegen den Iran ins Gewicht. Das Ergebnis waren die maßgeblich von Trump und Netanjahu vorangetriebenen „Abraham Accords“. Inzwischen sind auch der Sudan und Marokko in diesem Fahrwasser unterwegs. Sowohl Bennett wie der alternierende Ministerpräsident und Außenminister Jair Lapid haben sich zur Einhaltung der Verträge bekannt. Ein Grund dafür liegt auf der Hand: Sie verschaffen der Post-Netanjahu-Regierung Legitimität durch gewichtige Staaten der Arabischen Liga. Ein Umstand, der hilfreich sein kann, um auch weiterhin Verhandlungen mit Abbas über eine Zweistaatenlösung zu verweigern.

Dieser Artikel erschien am 2. September in Der Freitag

Markus Bickel leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

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Markus Bickel leitete das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv zwischen 2020-2023.