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Palästinenser:innen mit Passagierscheinen, um in Israel zu arbeiten, warten am Checkpoint Qalqilya, Westbank, Mai 2019. Foto: Activestills

Bürokratie als Waffe

Stell dir vor, um arbeiten oder einkaufen zu gehen, um deine Familie oder eine Kulturveranstaltung zu besuchen, musst du erst eine Erlaubnis beantragen. Stell dir vor, dass du bei der Antragsstellung weder weißt, ob dir die Erlaubnis erteilt wird noch wie das Verfahren abläuft, das darüber entscheidet, wer warum eine Erlaubnis erhält und wer nicht.

Stell dir vor, du zählst zu den mehr als 250.000 Menschen, denen die Einreise grundsätzlich verweigert wird, weil sie vom Geheimdienst oder von der Polizei als »Sicherheitsrisiko« eingestuft werden. Stell dir vor, du weißt noch nicht einmal, warum du so eingestuft wirst.

Stell dir vor, diese Einschränkung deiner Bewegungsfreiheit beruht darauf, dass dir keine Bürgerrechte zustehen und dir als Rechtssubjekt jede Möglichkeit verwehrt ist, an den politischen Entscheidungen teilzuhaben, die dein Leben bestimmen.

Stell dir vor, du wirst einer verdächtigen Bevölkerungsgruppe zugerechnet, die einer Notstandsgesetzgebung unterliegt, die ausgerechnet im Zuge von Friedensverhandlungen zunehmend verschärft wurde. Währenddessen wird deine Bewegungsfreiheit weiter eingeschränkt, die Zahl der jüdischen Siedlungen nimmt zu und die bürokratische und prozedurale Gewalt, die deine Zeit, deinen Bewegungsraum, deine sozialen Beziehungen und selbst deine Träume bestimmt, bleibt unsichtbar. Das ist es, was ich die Bürokratie der Besatzung nenne.

Israels seit 1967 bestehende Militärherrschaft über die palästinensische Zivilbevölkerung dürfte bei vielen Beobachter:innen Bilder von Gewehrläufen, Stacheldrahtzäunen, Checkpoints und der berüchtigten Mauer hervorrufen. Doch das Arsenal zur Kontrolle von Millionen Palästinenser:innen und ihres Alltagslebens besteht größtenteils aus den unsichtbaren Waffen eines riesigen Bürokratieapparats, der vor allem der Mobilitätsbeschränkung dient, und zwar mittels Passierscheinen, Identifikationskarten und einem weitreichenden Überwachungssystem, das darauf basiert, innerhalb ein und desselben Territoriums unterschiedliches Recht für die palästinensische und die israelische Bevölkerung gelten zu lassen.

Das Passierscheinregime

Über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren – und mit einer zunehmenden Geschwindigkeit seit dem Oslo-Friedensprozess – hat sich dieses bürokratische Regime in eine spezifische Richtung entwickelt: Es hat einen äußert komplexen Verwaltungsapparat hervorgebracht mit dem Ziel, die Bewegungen einer ganzen Bevölkerung zu kontrollieren. Dieses Regime gilt es zwar im spezifischen Kontext des Siedlerkolonialismus zu betrachten, es weist jedoch viele Ähnlichkeiten mit anderen aktuellen Grenzkontroll- und Polizeiregimen auf. In seinen extremsten Erscheinungsformen steht es für die institutionelle Logik von Überwachungssystemen, die weltweit dafür genutzt werden, um mit ausgeklügelten Sicherheitsklassifizierungen Menschen in verschiedene Gruppen einzuteilen, sie voneinander zu spalten und damit soziale und gesellschaftliche Ungleichheiten aufrechtzuerhalten.

Israels beharrliche Rechtfertigung für die Überwachung und Einschränkung der Mobilität der Palästinenser:innen und damit auch für seine andauernden, tagtäglichen Menschenrechtsverstöße lautet, dass diese Maßnahmen absolut unumgänglich seien, um die Sicherheit des Staates Israel und seiner Bürger:innen zu wahren. Tatsächlich sind in den letzten 30 Jahren über 1.000 Israelis durch palästinensische Angriffe ums Leben gekommen. Angesichts der strukturellen Beschaffenheit und der institutionellen Abläufe, die Teil des Passierschein-Regimes sind, erscheint es jedoch fraglich, dass dieses Vorgehen ausschließlich Sicherheitsüberlegungen geschuldet ist. Vielmehr zeugen die Maßnahmen von anderen institutionellen Zielsetzungen, darunter die umfassende politische und gesellschaftliche Kontrolle des Alltagslebens der palästinensischen Bevölkerung und die Anwerbung zigtausender Informant:innen durch den israelischen Inlandsgeheimdienst Schin Bet.

Im Mittelpunkt dieses Artikels steht die Art und Weise, wie Israel versucht, die Bewegungsfreiheit der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten zu unterbinden bzw. einzuschränken. Das Anliegen, als gefährlich eingestufte Bevölkerungsgruppen räumlich zu kontrollieren, teilt die israelische Regierung mit vielen anderen Regierungen, vor allem in Zeiten, in denen sich Terrorismus, Kriminalität, Migration und neuerdings auch Viruserkrankungen zu einem allgegenwärtigen Bedrohungsszenario verdichtet haben, das als Gefahr für die Nation wahrgenommen wird. Um diese Sicherheitsrisiken zu handhaben, kam es im globalen Maßstab zu einem Ausbau von staatlichen Strukturen, die es ermöglichen, die Bewegungsströme von Populationen innerhalb von oder über umstrittene(n) Grenzen hinweg zu verlangsamen oder zu verhindern. Staaten setzen dabei auf neueste Technologien, Expertenwissen und Fachpersonal, sie sammeln Daten über diejenigen, von denen »Risiken« ausgehen könnten, und überwachen, identifizieren und benennen ständige neue potenzielle »Gefährdergruppen« in und außerhalb der eigenen Bevölkerung.

Das Vorgehen in den besetzten Gebieten zu untersuchen ist von daher auch aus internationaler Sicht von Relevanz. Denn als ein Staat im permanenten Ausnahmezustand nimmt Israel bei der Bevölkerungskontrolle in gewisser Weise eine Vorreiterrolle ein: Die von ihm erprobten Ansätze und Techniken dienen anderen Staaten oft als Blaupause und haben als Teil des globalen Krieges gegen den Terror und zunehmend auch unter anderen Vorwänden inzwischen weltweite Verbreitung gefunden. Das Fachwissen, die Technologien und die institutionelle Logik, die das Kontrollregime im Westjordanland auszeichnen, kommen seit etwa einem Jahrzehnt auch verstärkt in Europa, in den USA und in Südasien zur Anwendung. Dank intensiver Marketingkampagnen und mithilfe von Ausbildungsstätten für ausländische Sicherheits- und Streitkräfte konnte Israel seine Expertise erfolgreich an etliche andere Staaten weitergeben, die sich vorgenommen haben, die Bewegungsströme von als gefährlich wahrgenommenen Bevölkerungsgruppen stärker zu kontrollieren bzw. zu verhindern.

Aus der Kolonialzeit stammende Notstandsgesetze

Als das israelische Militär 1967 die palästinensischen Gebiete Westjordanland und Gaza besetzte, hatte es bereits Erfahrung mit einem Militärapparat zur Verwaltung einer als feindlich und verdächtig geltenden Lokalbevölkerung. Von 1949 bis 1966 hatte sich die israelische Militärregierung eines von Großbritannien übernommenen kolonialen Instrumentariums bedient, um die räumliche Mobilität der palästinensischen Bevölkerung Israels zu überwachen sowie ihren Alltag und ihr politisches Leben zu kontrollieren. Dabei setzte man vor allem auf drei wirkungsvolle Instrumente, die auch die spätere Besatzungspolitik prägen sollten: Notstandsgesetze, die Klassifizierung der Bevölkerung nach dem von ihr ausgehenden Bedrohungspotenzial und räumliche Abschottung.

Die Verwaltung der 1967 besetzten Gebiete ging mit zahlreichen, für eine Kolonialherrschaft typischen Spannungen und Herausforderungen einher, die noch dadurch verschärft wurden, dass man vielerorts davon ausging, die Besatzung sei nur vorübergehend. Auf offizieller Ebene schwankte man zwischen Bestrebungen, die palästinensische Bevölkerung mit administrativen Maßnahmen zu kontrollieren, und Befürchtungen vor den damit einhergehenden hohen ökonomischen Kosten. Die Unterscheidung zwischen den besetzten Gebieten und dem Rest des Landes, auf die Israel großen Wert legte, und die Aberkennung der Grund- und Eigentumsrechte der palästinensischen Bevölkerung, entwickelten sich damit, wie der Politikwissenschaftler Neve Gordon erklärt, zu wesentlichen Elementen der Besatzungslogik.

Im Frühjahr 1963, bereits vier Jahre vor dem Sechstagekrieg, beschloss der Militärstaatsanwalt Meir Shamgar, dass im Fall einer israelischen Besatzung des Westjordanlands auf die britisch-kolonialen Notstandsgesetze (Emergency Defense Regulations) von 1945 zurückgegriffen werden sollte. Es handelte sich dabei um ein Regelwerk, das überall im britischen Empire und auch zuvor schon im Mandatsgebiet Palästina zum Einsatz gekommen war, um Aufstände zu unterdrücken, politische Oppositionsbewegungen zu zerschlagen und gleichzeitig wirtschaftliche Ausbeutung zu ermöglichen. Die Notstandsgesetze führten eine Dekretherrschaft ein und garantierten somit eine umfassende Verfügungsmacht der Exekutive.

Zvi Inbar, ein junger Soldat und Teil von Shamgars juristischem Team, schrieb 1963 in seinem Tagebuch, dass der Entwurf für die Verwaltung der besetzten Gebiete wortwörtlich aus den britischen Notstandsgesetzen von 1945 übernommen worden war: »Heute habe ich mit einem Übersetzer daran gearbeitet, die Notstandsgesetze von 1945 ins Arabische zu übertragen. Wir mussten […] Ausdrücke streichen wie ›Hoher Kommissar‹ oder ›Streitkräfte Ihrer Majestät‹ und sie durch ›Oberbefehlshaber‹, ›Streitkräfte Israels‹ usw. ersetzen.« Einige Tage später schrieb Inbar: »Um die arabische Übersetzung der Notstandsgesetze weiter vorzubereiten, ist der beste Weg […], Fotokopien der (britischen) Gesetzestexte zu erstellen, die Textabschnitte auszuschneiden, neu zusammenzufügen und anschließend erneut zu kopieren.« 1

Durch dieses Kopieren und Zusammenfügen kam es nicht nur zu einer territorialen Übertragung der Geltungskraft eines Gesetzes. Hiermit übernahm man auch das administrative Gedächtnis der Kolonialherrschaft, wozu neben Gesetzen auch institutionelle Praktiken und politische Dispositionen zählten, allen voran die Vorstellung, dass es legitim sei, auf der Grundlage ethnischer Kategorien Bevölkerungsgruppen gesonderten Rechtssystemen zu unterwerfen. 1967 wurde ebendieses juristische Modell zur Kontrolle des zivilen Lebens in den besetzen Gebieten eingeführt, und den Gouverneuren kam dort die gleiche Rolle zu wie früher den Bezirkskommissaren in den britischen Kolonien. Die Militärdekrete waren nicht Teil des israelischen Rechts und wurden statt auf ein bestimmtes Territorium nur auf die palästinensische Bevölkerung angewandt. Als israelische Regierungen in den Folgejahren die jüdische Besiedlung der besetzten Gebiete förderten, waren israelische Bürger:innen vom Militärrecht ausgenommen und blieben dem israelischen Zivilrecht unterstellt. Für Palästinenser:innen galt zwar ein gesondertes Rechtssystem, doch ihre Bewegungsfreiheit und ihre Möglichkeiten, in Israel einer Arbeit nachzugehen, unterlagen größtenteils noch keiner staatlichen Kontrolle. In der Folgezeit gerieten aber nicht nur Palästinenser:innen in eine Situation wirtschaftlicher Abhängigkeit, sondern auch bestimmte Branchen der israelischen Wirtschaft wie etwa das Bauwesen.

Die duale Bürokratie nach Oslo

1993 unterzeichneten Israel und die PLO das Oslo-I-Abkommen. Das Herzstück dieser Vereinbarung war die Anerkennung der Autonomie der palästinensischen Bevölkerung durch die Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde. Ein Zeitplan wurde festgelegt, der schrittweise zur Gründung eines palästinensischen Staates führen sollte. Mit dem Abkommen wurde ein sehr bedeutender institutioneller Wandel in der Verwaltung der besetzten Gebiete eingeleitet, der aber vor dem Hintergrund der von Gewalt, gegenseitigen Vorwürfe und Ausweglosigkeit gekennzeichneten Entwicklung seit dem Scheitern des Friedensprozesses nur selten thematisiert wird.

Dem Abkommen liegt eine komplexe Karte von Zuständigkeitsbereichen zugrunde, die das Westjordanland in verschiedene Zonen (A-, B- und C-Gebiete) mit jeweils unterschiedlichem Rechtssystem und Verantwortlichkeiten zwischen Israelis und Palästinenser:innen aufteilt. In Zone A ist die Palästinensische Autonomiebehörde für die Sicherheit und zivile Angelegenheiten wie Bildungs- und Gesundheitsversorgung verantwortlich. In Zone B sind Sicherheitsaufgaben zwischen Palästinensischer Autonomiebehörde und israelischem Militär aufgeteilt. In Zone C ist das israelische Militär alleinverantwortlich für die Sicherheit.

Das Abkommen basiert daher auf der wesentlichen Unterscheidung zwischen zivilen Zuständigkeitsbereichen (wie etwa Bildung, Gesundheit, Wasserversorgung, Handel und Verwaltung der Zivilbevölkerung) und Sicherheitsbefugnissen (wie etwa Grenzkontrollen, Bekämpfung militanter palästinensischer Gruppen, Festnahmen und Gesetzesvollzug in den Zonen B und C). Mit dem Oslo-Prozess wurde in den palästinensischen Gebieten ein sozialräumliches und rechtliches Raster geschaffen, nach dem Menschen je nach Wohnort, Bevölkerungsdichte und geografischer Nähe zu israelischen Bevölkerung unterschiedlich behandelt werden. Ein Raster, basierend auf vermeintlichen Risikofaktoren und Verdachtsmomenten, bestimmt wiederum darüber, welcher Art von Gewalt – Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Festnahme, Gewahrsam, Konfiszierung etc. – und welchen anderen Formen der Kontrolle diese Menschen ausgesetzt sind.

Israels Machtübergabe an die »Autonomen Gebiete« erforderte auch eine veränderte Rolle der Zivilverwaltung, und zwar dahingehend, dass diese sich von einer staatlichen Institution mit direktem Einfluss auf die palästinensische Zivilbevölkerung in eine koordinierende Instanz verwandeln musste, deren Aufgabe darin besteht, die Palästinensische Autonomiebehörde zu überwachen und anzuweisen. Die Palästinensische Autonomiebehörde wiederum war unmittelbar für die palästinensischen Bewohner:innen in den besetzen Gebieten zuständig und damit auch für die Regulierung der Mobilität von in Israel arbeitenden Palästinenser:innen. Die neue Machthierarchie und Arbeitsteilung sah vor, dass die palästinensische Behörde die demografischen und statistischen Daten sammelte und sie an die israelisch-palästinensischen District Coordination Offices (DCO) weiterreichte.

Im Zuge des Oslo-Prozesses entwickelte sich also ein administratives Modell indirekter Herrschaft, das sowohl auf der räumlichen Segregation der Bevölkerung als auch auf einer institutionellen Trennung in rechtlicher und organisatorischer Hinsicht basiert. Ausgehend von diesem Modell sollte Israel dann durch seinen Rückzug aus den besetzten Gebieten den Palästinenser:innen schrittweise mehr Autonomie gewähren. Israel hätte folglich einen Paradigmenwechsel vollzogen, nämlich weg vom Prinzip der Kolonisierung hin zur Separation.

Im Rahmen der Kolonisierung verwaltete das israelische Militär das Leben der kolonisierten Bevölkerung, während es zugleich die territorialen Ressourcen erschließen konnte. Separation bedeutete dagegen, dass – mit dem Abzug der israelischen Sicherheitskräfte aus den palästinensischen Städten und der Übertragung ihrer Befugnisse auf die Palästinensische Autonomiebehörde – der Zugriff des israelischen Staates auf die palästinensische Zivilbevölkerung und ihr Alltagsleben reduziert worden wäre. Meine Recherchen zur Mobilitätskontrolle zeigen jedoch, dass die strukturellen Veränderungen innerhalb der israelischen Institutionen tatsächlich zur Ausweitung ihrer Kontrolle und ihres Wissens über die palästinensische Bevölkerung geführt haben.

Abschottung und Separation

Nur selten wird gesehen, dass die Etablierung des Passierschein-Regimes in den besetzten Gebieten zeitlich mit einem Wandel der Erwerbsbevölkerung und des Arbeitsmarkts in Israel zusammenfiel. Die veränderte Nutzung migrantischer und palästinensischer Arbeitskräfte, die beide eine wesentliche Rolle für die israelische Wirtschaft spielen, hat zum einem mit globalen Veränderungen und zum anderen mit den Oslo-Prozessen zu tun.

In den frühen 1990er Jahren, als es zu einem vermehrten Zuzug von Arbeitsmigrant:innen nach Israel kam, waren fast 40 Prozent der Beschäftigten im israelischen Bauwesen Palästinenser:innen aus den besetzen Gebieten. Während migrantische Arbeitskräfte zunächst oft eingesetzt wurden, um Lohndumping zu betreiben und um über die Konkurrenz die einheimische Arbeiterschaft in Israel zu disziplinieren, veränderte sich mit der israelischen Politik der Abschottung und Separation in Reaktion auf die Erste Intifada die Situation für die palästinensischen Arbeiter:innen. Sie wurden zunehmend durch Arbeitsmigrant:innen ersetzt, die häufig eine Festanstellung erhielten und somit zu einen integralen Bestandteil der israelischen Wirtschaft wurden.

Die Abschottungspolitik verwandelte die migrantischen Arbeiter:innen also gewissermaßen in ein Instrument in einem politischen Konflikt, der zunehmend auf dem Feld des Arbeitsmarkts ausgetragen wurde. Da die Palästinenser:innen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts auf ihre Bewegungsfreiheit angewiesen waren, wurde das Passierschein-Regime zu einer mächtigen ökonomischen Waffe gegen den palästinensischen Widerstand. Die rassistische Trennung zwischen palästinensischen und anderen Arbeiter:innen fügte sich ein in die starre Hierarchie des israelischen Arbeitsmarkts, der ohnehin bereits von ethnischer Stigmatisierung und Stratifizierung geprägt war: An der Spitze der Arbeitsmarktpyramide standen jüdische Arbeiter:innen europäischer Herkunft, gefolgt von jüdischen Arbeiter:innen asiatischer oder nordafrikanischer Herkunft (Mizrachim), palästinensischen Staatsbürger:innen Israels sowie migrantischen Arbeiter:innen. Ganz unten befinden sich bis heute die palästinensischen Arbeiter:innen aus den besetzten Gebieten.

In den Oslo-Abkommen war zwar von einem ungehinderten Zufluss von Arbeiter:innen und Gütern aus den besetzten Gebieten nach Israel die Rede, doch infolge der Abschottung ging die Zahl der in Israel beschäftigten palästinensischen Arbeiter:innen 1995 um die Hälfte zurück. Die Kluft zwischen dem politischen Diskurs, der Freizügigkeit und freie Märkte betonte, und einer von Immobilität, Isolation und Armut gezeichneten Realität führte bei vielen Palästinenser:innen zu Ängsten und Zweifeln am Oslo-Prozess. Die 1994 und 1995 in israelischen Städten verübten Selbstmordanschläge lieferten eine weitere Rechtfertigung für die Abschottungspolitik und ihre nachdrückliche Umsetzung in Form von immer mehr bewachten Checkpoints, Erdwällen, Grenzpolizei und Militärpatrouillen, aber auch erhöhten Anforderungen an die Identifikationsdokumente der palästinensischen Bevölkerung.

Im Oktober 2000 mündeten die Zusammenstöße zwischen palästinensischen und israelischen Sicherheitskräften rasch in dem, was als Al-Aksa-Intifada bekannt wurde. Die erste Institutionen, die dabei zusammenbrachen, waren die District Coordination Offices (DCO). Zum Teil kam es in den gemeinsam genutzten Koordinationsbüros sogar zu Schussgefechten zwischen israelischen Soldat:innen und palästinensischen Sicherheitskräften. Die Zusammenarbeit der gemeinsamen Gremien wurde über Nacht aufgekündigt und die israelische Zivilverwaltung geißelte die palästinensische Führung als »Architekten der Terrorangriffe«. Infolge des Zusammenbruchs der DCO sah sich der israelische Teil der Besatzungsbürokratie dazu berechtigt, seine Befugnisse als administrative Waffe gegen die palästinensische Zivilbevölkerung einzusetzen. Palästinenser:innen galten nun nicht länger als »feindselige Bevölkerung«, sondern als »gefährliche Feindbevölkerung«, die an einer direkten kriegerischen Auseinandersetzung beteiligt ist und diese vorantreibt.

Bei der israelischen Besatzungsbürokratie führte diese Situation zu Unruhe und Verwirrung und war Anlass, neue Kategorien zu entwickeln, um zwischen Freund und Feind unterscheiden zu können. Die einzige Gewissheit bestand darin, dass sämtliche Bewohner:innen des Westjordanlands eine potenzielle Sicherheitsgefahr darstellen. So wurde der Aspekt der Klassifizierung und Identifizierung von Sicherheitsrisiken zum Dreh- und Angelpunkt des administrativen Apparats. Binnen kürzester Zeit wurden die Identifikation und Abwehr von Sicherheitsrisiken allen anderen Zielen der Besatzungsbürokratie vorangestellt. Der israelische Inlandsgeheimdienst Schin Bet legte fest, nach welchen Kriterien Palästinenser:innen verschiedenen Risikogruppen zuzuordnen waren. Nur wenige Tage nach Ausbruch der Intifada wurde der Schin Bet zur Informationsquelle und gleichzeitig zur maßgeblichen Instanz, die über die Maßnahmen der Bevölkerungskontrolle in den besetzten Gebieten entschied.

Mit der Auflösung der dualen Strukturen und Zuständigkeiten kam es in der Zivilverwaltung auch zu schwerwiegenden administrativen Problemen infolge von Personal- und Budgetengpässen. Die institutionellen Auswirkungen waren verheerend. Wenn sich Palästinenser:innen für einen Passierschein an die Büros der Palästinensischen Autonomiebehörden wandten, wurde ihnen gesagt, dass die Kommunikation mit Israel gestoppt sei, sodass sie die DOC direkt aufsuchten, um dort die für den Übergang nach Israel erforderlichen Dokumente zu erlangen. Als die Angestellten in der Zivilverwaltung personelle Unterstützung anforderten, um die täglichen Anfragen Tausender Palästinenser:innen bewältigen zu können, reagierten Verteidigungs- und Finanzministerium auf ihre Proteste und wiederholten Streiks mit einer kategorischen Absage.

Ansturm auf die Koordinationsbüros

Da die District Coordination Offices die einzige Einrichtung waren, die die erforderlichen Dokumente ausstellen konnten, wurden sie von Tag zu Tag von immer mehr Palästinenser:innen aufgesucht. Dieser Ansturm verstärkte sich noch durch die wachsende Zahl von Palästinenser:innen, die als sicherheitsgefährdend eingestuft worden waren und denen die Einreise nach Israel grundsätzlich verwehrt blieb. Von Oktober 2000 bis 2005 klassifizierte der Schin Bet über 200.000 Palästinenser:innen als Sicherheitsbedrohung, während die Polizei weitere 60.000 als potenzielle Kriminelle einstufte – was damals insgesamt rund einem Viertel der erwachsenen männlichen palästinensischen Bevölkerung entsprach. Tausende bemühten sich daraufhin um eine Aufhebung ihres Einreiseverbots und um eine der vielbegehrten Magnetkarten und Passierscheine.

Ab Oktober 2000 weitete der Schin Bet seinen Einfluss auf das Passierschein-Regime enorm aus und verwandelte sich von einer Behörde von Agenten und Sicherheitsfachleuten in eine Organisation, die über die Politik und Praxis des Verwaltungsapparats bestimmte. Die Kompetenz, darüber zu entscheiden, welche Palästinenser:innen als Freund oder Feind gelten, entwickelte sich damit zu einer unanfechtbaren Form von Macht. Die Einschätzung, jemand stelle ein Sicherheitsrisiko dar, betraf eine immer größere Zahl von Einwohner:innen. Es handelte sich bei sicherheitsgefährdend nicht länger um eine feste Kategorie, sondern um ein veränderliches Profilraster, bei dem Alter, Geschlecht, Region, Familienstatus, politische Zugehörigkeiten, Religiosität oder sonstige Geheimdienstinformationen eine Rolle spielen konnten. Mit der Zeit kamen immer neue Indizes und Kenngrößen hinzu, die weiterhin als Verschlusssache gelten, sodass die geheimen Listen immer länger und länger wurden. Wie im Einzelnen darüber entschieden wird, ob eine Person als Sicherheitsrisiko gilt und damit in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden soll, bleibt ein administratives Geheimnis. Es hängt jedoch eng mit der Einschätzung zusammen, in welcher Beziehung die betreffende Person zu Israel steht.

Das Passierschein-Regime beruht, wenn man dafür herkömmliche Prinzipien einer rationalen Verwaltung heranzieht, auf einem eigentümlichen Gebilde aus Institutionen und Technologien. Die moderne Bürokratie bewertet Verwaltungsangestellte nach ihrer vermeintlichen Effizienz, vor allem nach ihrer Fähigkeit, die zur Erreichung bestimmter Ziele erforderlichen Mittel anzupassen und damit Zeit und Ressourcen einzusparen. Die israelische Besatzungsbürokratie zeichnet sich dagegen durch eine »effektive Ineffizienz« aus, was damit zusammenhängt, dass sie sowohl einen zivilen als auch militärischen Charakter hat und von eklatantem Personalmangel geprägt ist.

Trotz dieser Ineffizienz leistet dieses System der Bevölkerungskontrolle für das Westjordanland mehrerlei: Durch die Ausweitung der Überwachung und Kontrolle sorgt es zunächst dafür, dass die Palästinenser:innen von diesem System abhängig sind. Durch die Behinderung der Mobilität erzeugt es zudem Ungewissheit, Desorientierung und Argwohn innerhalb der palästinensischen Gesellschaft. Darüber hinaus hat dieses Mobilitätsregime zusammen mit einem gewaltigen Überwachungsapparat in den letzten beiden Jahrzehnten der schleichenden Annexion von Gebieten Vorschub geleistet. Die Mobilitätsbeschränkungen haben zudem die Ausweitung von Siedlungen und die Aneignung der umliegenden Territorien ermöglicht.

Aus rechtlicher Perspektive begründet das Passierschein-Regime keine statutarische Ordnung, die auf einem formalen Regelwerk basiert. Dennoch ist es kein gesetzloses System und steht auch nicht außerhalb der Rechtsordnung. Die vielen Verwaltungserlasse, internen Richtlinien und Ad-hoc-Entscheidungen, aus denen sich das Passierschein-Regime entwickelt hat, ist ein äußerst wirksames rechtliches System, das den Zweck hat, mittels Verwaltungsinstrumenten persönliche Abhängigkeiten zu begründen. Die organisatorischen Grundpfeiler des Passierschein-Regimes lauten also Raum, Rassifizierung und Dokumentation. Das erste Prinzip ist die räumliche Abschottung: die rechtliche und räumliche Kontrolle und Einhegung der Bevölkerung innerhalb des Territoriums. Das zweite Prinzip läuft auf eine Aberkennung von Staatsbürgerschaft hinaus und das dritte umfasst Verwaltungspraktiken, die eine rassistische Hierarchie errichten, indem für verschiedene Bevölkerungen auf demselben Territorium verschiedene Rechtssysteme gelten. Das Fehlen eines formalen Regelwerks macht das Passierschein-Regime nicht zu einem extralegalen oder rechtsfreien System. Im Gegenteil: Mit dem Passierschein-Regime wurde ein separater Rechtsraum geschaffen, in dem palästinensische Arbeitskraft per Militärerlasse reguliert wird, der gleichzeitig aber auch dazu dient, den Palästinenser:innen die im israelischen Arbeitsrecht verbürgten Ansprüche und Rechte vorzuenthalten.

Die Beschränkungen der Bewegungsfreiheit und die physische Kontrolle des Raums machten die Passierscheine zu äußerst wertvollen Dokumenten. Nach dem keine Passierscheine mehr ausgestellt wurden, entwickelte sich die für Arbeitsbelange zuständige Einheit in der Zivilverwaltung von einer staubigen, vernachlässigten Abteilung, die vor Beginn des Oslo-Prozesses weniger als die Hälfte der Arbeiter:innen registriert hatte, zu einem mächtigen Entscheidungsapparat mit Einfluss auf sämtliche Bereiche des palästinensischen Gesellschaftslebens. Die Abschottung führte zu einer Privatisierung und Individualisierung der Beziehung zwischen den palästinensischen Rechtssubjekten und dem tatsächlichen Souverän: dem israelischen Militär. Als die duale Bürokratie im Zuge der Zweiten Intifada zusammenbrach, endete auch die zuvor von den gemeinsamen Institutionen oder der Palästinensischen Autonomiebehörde übernommene Vermittlungs- und Verwaltungsfunktion. Die Mobilitätsfrage war nicht mehr für alle gleichermaßen geregelt, sondern beruhte fortan auf dem jeweiligen Verhältnis zwischen palästinensischem Individuum und dem israelischem Staat, der seine Macht noch dadurch ausbaute, dass er zahlreiche Informant:innen anwarb, denen man im Gegenzug für unwesentliche Informationen ein gewisses Maß an Bewegungsfreiheit einräumte.

Üblicherweise bezieht sich Abschottung auf Räume und ein spezifisches Territorium, doch hier handelt es sich um die Abschottung einer spezifischen Bevölkerungsgruppe. Das heißt in der Praxis: Die Mobilitätseinschränkungen der Palästinenser:innen haben mit ihrer Identität zu tun – egal, ob es um die Einreise nach Israel geht, um die Bewegungsfreiheit im besetzten Westjordanland oder um die Möglichkeit, zwischen dem Westjordanland und dem Gazastreifen hin und her zu reisen. Die Mobilität jüdischer Siedler:innen in den militärisch gesicherten Zonen ist davon unbenommen, sodass sich mit der Zeit ein umfassendes, auf rassistischen Kriterien basierendes Verwaltungssystem herausgebildet hat, das mittels spezifischen Identifikationsanforderungen, Überwachungstechnologien und Segregationsinstrumenten funktioniert.

Die Doktrin eingeschränkter Bewegungsfreiheit

Der israelische Staat betrachtet das Passierschein-System als ein Privilegienregime, das in rechtlicher Hinsicht an eine Zentralgewalt geknüpft ist, die dazu autorisiert ist, Dekrete zu erlassen. Anders als im Falle eines Rechtsregimes, das den Staat dazu verpflichtet, Verstöße gegen Individualrechte zu vermeiden, erlaubt ein Privilegienregime dem Souverän, bestimmten Bevölkerungsgruppen Freiheiten zu gewähren oder zu entziehen – und zwar im Rahmen einer unmittelbaren Verwaltungsentscheidung, sodass das Rechtsubjekt auf Gunst und Gnade des Herrschenden angewiesen ist.

Der politische Status der Palästinenser:innen gründet auf einer rassistischen Unterscheidung. Obwohl in den besetzten Gebieten das humanitäre Völkerrecht gilt, fallen Palästinenser:innen in eine rechtliche Grauzone: Sie befinden sich physisch auf einem von Israel kontrollierten Territorium, doch sie sind aus der politischen Gemeinschaft ausgeschlossen. Ihnen bleiben sowohl Bürgerrechte verwehrt als auch die zeitlich begrenzten Rechte, die etwa Tourist:innen gewährt werden, sowie die Rechte von Arbeitsmigrant:innen, deren Status im israelischen Zivilrecht geregelt ist. Diese administrative Hierarchie, die zwischen einer herrschenden und einer beherrschten Bevölkerung unterscheidet, war in fast allen Kolonien eines der bürokratischen Organisationsprinzipien: Innerhalb ein und desselben physischen Raums galten dort unterschiedliche Rechtsordnungen für verschiedene Bevölkerungsgruppen.

Das gesamte Passierschein-Regime und die Überwachung der Bewegungen der palästinensischen Bevölkerung werden damit begründet, diese seien unabdingbar, um Terrorangriffe in Israel zu verhindern. Im Fokus des umfassenden Profiling-Systems stehen mehr als 200.000 Bewohner:innen des Westjordanlands, die in der Bevölkerungsdatenbank als Sicherheitsrisiko gespeichert sind. Diese Personen, denen die Einreise aus Sicherheitsgründen verweigert wird, haben keinen Zugang zu Ausweis- und Reisedokumenten, zudem sind ihnen geschäftliche, familiäre und kulturelle Verbindungen nach Israel untersagt. Alle im Westjordanland lebenden Palästinenser:innen leiden aufgrund des Passierschein-Regimes unter ständiger Sorge und Ungewissheit, denn die ihnen ausgestellten Dokumente gelten immer nur für eine kurze Zeit und können jederzeit widerrufen werden.

Im Zuge des Oslo-Prozesses, als sich das israelische Militär aus den palästinensischen Städten zurückzog, setzte der Schin Bet weniger auf unmittelbare Spionage, da es relativ kompliziert war, ein Agentennetz in einem Gebiet zu unterhalten, das nicht mehr vollständig unter Israels Kon-trolle steht. Die Alternative dazu war, dass man zahlreiche Informant:innen in der palästinensischen Bevölkerung anwarb, was den Vorteil bot, israelische Agent:innen nicht länger direkten Gefahren aussetzen zu müssen. Nach 2002, seitdem das Kontrollregime allein in die Verantwortung der israelischen Verwaltung fällt, wurden weniger Passierscheine ausgestellt und es wurde genauer geprüft. Das schuf günstige Bedingungen für den Schin Bet, um mit dem Lockmittel Passierscheine Tausende von Informant:innen anzuwerben. Im Endeffekt bedeutete das, dass Israel seitdem über mehr Informationen über das palästinensische Gesellschaftsleben und Kontrollmöglichkeiten verfügt als noch vor Beginn des Oslo-Prozesses.

(Un)heilige Orte der Sicherheit

Eine Person als Sicherheitsgefahr einzustufen, ist ein relativ unaufwändiger Verwaltungsakt, der unter Umständen wenig Zeit beansprucht, dessen Auswirkungen auf das Alltagsleben der betroffenen Menschen allerdings verheerend sein können. Das Anlegen von geheimen Listen ist ein zentrales Instrument, um Menschen zu verunsichern und sie damit ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Perspektiven zu berauben. Es führt zu einer von Verdacht und Misstrauen geprägten Atmosphäre in der palästinensischen Gesellschaft. Viele Palästinenser:innen landen deshalb auf diesen Listen, weil sie von Informant:innen des Schin Bet als Sicherheitsgefahr gemeldet wurden.

Mithilfe von Standardisierungsverfahren hat der Schin Bet einen Index erstellt, der Kenngrößen wie Alter, Wohnort, familiäre Bindungen und Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen oder politischen Leben umfasst. Dieser Index ist Grundlage für ein Raster von Risikofaktoren, das sich zwar ständig verändert, zugleich aber auch insofern eine Homogenisierung bewirkt, als es eine Art kollektives Profil erzeugt, allerdings unter Ausklammerung der kollektiven politischen Zugehörigkeit. Obwohl das Klassifizierungssystem auf Hunderttausende von Palästinenser:innen angewandt wird, muss jede und jeder die Einstufung als Sicherheitsgefahr individuell bewältigen und anfechten.

Administrative Flexibilität, geheime Anweisungen und Operationen, die Anonymität der Schin-Bet-Agent:innen und die faktische Exekutivmacht des Schin Bet resultieren in einer Geheimdienstpraxis, die seine Klassifizierungen als juristisch unanfechtbare Tatsachen erscheinen lässt. Die nur noch selten hinterfragten Grundannahmen lauten: Palästinenser:innen stellen per se eine gefährliche Bevölkerungsgruppe dar und in jedem palästinensischen Zivilisten schlummert ein potenzieller Terrorist. Das adminis-trative Erpressungssystem des Schin Bet bringt ihn in eine Position, in der er fast wie ein absoluter Herrscher darüber entscheiden kann, ob eine Person als Freund oder Feind gilt. Hinsichtlich der Klassifizierungen, die Grundlage der Profilerstellung sind, verfügen die Mitarbeiter:innen des Schin Bet über einen uneingeschränkten Ermessensspielraum. Das trägt dazu bei, dass sich das Bild von ihnen als allmächtige Agenten, das bei so vielen Palästinenser:innen vorherrscht, noch verstärkt. Auch die Erfahrungsberichte von Palästinenser:innen, die vom Schin Bet verhört wurden, zeichnen ein ähnliches Bild und unterscheiden sich nur im Detail. Sie zeugen von einer sehr gut eingespielten Methode, bei der die administrativen Rahmenbedingungen des Passierschein-Regimes gezielt dafür genutzt werden, Informant:innen aus der Bevölkerung des Westjordanlands anzuwerben und dadurch die Kontrolle über das Privatleben der palästinensischen Einwohner:innen auszuweiten.

Endloses Warten, um den Grund für die Einstufung als Sicherheitsrisiko zu erfahren, die mit dem Warten einhergehende Ungewissheit, die unablässigen Zweifel an der Begründung für die Restriktionen und die damit verbundenen Selbstvorwürfe – all das macht die in den District Coordination Offices untergebrachten Büros des Schin Bet zu Orten der Anspannung und Furcht, der Hoffnung(slosigkeit) und Verzweiflung, zu Orten, wo die Menschen der souveränen Macht direkt gegenüberstehen. Die Menschen, die dort warten müssen, beten und hoffen, dass ihnen keine Zusammenarbeit angeboten wird, die sie in eine ausweglose Situation bringen würde. Denn die Kollaboration mit dem israelischen Geheimdienst zu akzeptieren, bedeutet, seine Community und sein Land zu verraten sowie sich selbst und die eigene Familie in Gefahr zu bringen. Das Angebot auszuschlagen, kann jedoch zum Verlust jeglicher Erwerbsmöglichkeit führen und damit auch aller Hoffnung auf ein wirtschaftliches Überleben. Wenn Palästinenser:innen im Westjordanland den ihnen angebotenen Deal akzeptieren, stellen sie sich abseits ihrer Gemeinschaft, auf die sie im Alltag angewiesen sind, und bleiben trotz ihrer Kollaboration mit dem Schin Bet von der israelischen Gesellschaft ausgeschlossen. Wenn sie den Deal ablehnen, entzieht man ihnen die Bewegungsfreiheit und auch in vieler Hinsicht die Möglichkeit, am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teilzunehmen. Mit jedem neu angeworbenen Kollaborateur wächst die Macht des Schin Bet.

Ein möglicher Ausweg

Das Passierschein-Regime führte dazu, dass israelische Behörden vermehrt biometrische und andere Daten über bestimmte Bevölkerungsgruppen sammeln, es erweiterte zudem die Möglichkeiten der Überwachung und Anwerbung von Informant:innen. Neben traditionellen Instrumenten kolonialer Überwachung wie etwa Registraturen, Geheimdienste, Kontrollpunkte und lokale Informant:innen setzt Israel mittlerweile auch auf eine Fülle neuer Technologien wie Telefon- und Videoüberwachung, Kontrolle des Internets und sozialer Medien, biometrische Datenanalyse, Gesichtserkennung etc. Die zentrale Rolle, die das Profiling im System der Bevölkerungskontrolle spielt, kennzeichnet aber nicht nur das Passierschein-Regime in den besetzten Gebieten. Von seiner Struktur her ähnelt dieses Regime stark dem kolonialen Überwachungssystem der Briten, das zunächst zwischen den beiden Weltkriegen in Indien und später ebenso in anderen Teilen des britischen Empires zur Anwendung kam, darunter auch im britischen Mandatsgebiet Palästina. Das Arsenal bürokratischer Instrumente, das die israelische Regierung heutzutage auf einem ausgewählten Territorium zur Kontrolle von Millionen von Menschen nutzt, ist in seiner Komplexität historisch allerdings beispiellos.

Es war schon immer Wunschdenken, dass die Anwendung dieses Arsenals auf das Westjordanland beschränkt bleiben würde. Tatsächlich hat man die zur Verfügung stehenden Überwachungsmechanismen teilweise bereits wiederholt gegen palästinensische Staatsbürger:innen in Israel eingesetzt. Im Kampf gegen die Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus hat Israels Regierung unter Berufung auf die Notstandsgesetze den Geheimdienst dazu befugt, seine umfassenden Überwachungstechnologien zur Beobachtung israelischer Staatsbürger:innen zu nutzen – ein beispielloser Vorstoß, das für die Kontrolle, Beobachtung und Intervention in das palästinensische Alltagsleben entwickelte Überwachungsnetz auch auf israelische Bürger:innen auszuweiten. Die von Privatunternehmen entwickelten Technologien, die dabei zum Einsatz kommen, werden anschließend an Regierungen auf der ganzen Welt verkauft.

Menschenrechtsorganisationen haben sich bereits darum bemüht, das Passierschein-Regime mithilfe von Gerichtsverfahren, Petitionen und anderen Mitteln zu reformieren. In meiner Tätigkeit als Anwältin, die Palästinenser:innen bei ihren Klagen gerichtlich vertreten hat, habe ich mich selbst an diesem Kampf beteiligt. Nach Jahren gerichtlicher Auseinandersetzungen, Petitionen und Korrespondenzen mit der Zivilverwaltung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass jeder juristische Kampf gegen das Passierschein-Regime aussichtslos ist. Denn selbst die seltenen erfolgreichen Fälle bedeuteten eine Niederlage: Mit jedem Fall wurden neue Richtlinien erlassen, die Zivilverwaltung wurde immer ausgefeilter in ihrer Argumentation und dem Geheimdienst ist es gelungen, sämtliche rechtliche Grauzonen und Schlupflöcher für sich auszunutzen. Es mit einem beliebigen Teil des Passierschein-Regimes aufzunehmen und eine Petition dagegen einzureichen, bedeutete, Ad-hoc-Maßnahmen den Status einer legitimen Rechtsinstitution zu verleihen und eine einschlägige Jurisprudenz zu erschaffen; es bedeutete, dass die unmöglichsten, absurdesten und inakzeptabelsten Situationen zur Normalität erklärt und sie ins Repertoire der sicherheitspolitischen Begründungen aufgenommen wurden, die zur Ausweitung des Passierschein-Regimes führten.

Der permanente Ausnahmezustand des Passierschein-Regimes, der die Grundlage von Israels kolonialer Bürokratie in den besetzten Gebieten bildet, hat etliche Organisationspraktiken hervorgebracht, die die rassistischen Hierarchien widerspiegeln und als solche auch die bürokratischen Routinen prägten. Dies schuf eine weitere Rechtfertigung für Rassismus, was wiederum den Einsatz ebenjener Bürokratie als zentraler Waffe der Bevölkerungskontrolle legitimierte. Die einzig wirksame Strategie, daran etwas zu ändern, ist nicht die Reform des Passierschein-Regimes, sondern seine Abschaffung. Es reicht nicht, sich der einen oder anderen politischen Maßnahme zu widersetzen, sondern es gilt, das Passierschein-Regime als Ganzes zu kritisieren und zurückzuweisen. Ebenso wurde mir klar, dass es unmöglich ist, diesen Kampf im Rahmen der Militärgerichtsbarkeit auszutragen, und dass der Kampf nur dann einen Sinn hat, wenn das Ziel auch darin besteht, das Militärgerichtssystem zu überwinden.

Während ich Menschen dabei half, ihre Einstufung als Sicherheitsgefahr anzufechten, begriff ich, dass das System, dem ich als Anwältin selbst angehörte, erst die Sicherheitsrisiken produziert, die es zu bekämpfen vorgibt: und zwar durch die anhaltende prozedurale Gewalt, die Millionen von Zivilist:innen angetan wird. Dabei begegnete ich aber auch Menschen, die mir Hoffnung gaben, dass wir als Gleichberechtigte zusammenleben können. Gesetze haben ihre Bedeutung ebenso wie Rechte, doch ich verstand auch, dass der Weg zu einem Wandel nicht darin besteht, ein System herauszufordern, das durch Kritik nur stärker wird und das Dinge voneinander trennt und unterteilt, die untrennbar sind. Die Begegnung mit Menschen, die dagegen ankämpfen, als Sicherheitsgefahr klassifiziert zu werden, zerstörte zwar meinen Glauben an das israelische Rechtssystem, nicht aber meine Überzeugung, dass es möglich ist, Israels politisches Regime zu ändern sowie Staatsbürgerstatus und Gleichberechtigung für alle Bewohner:innen des Landes zwischen Jordan und südöstlicher Küste des Mittelmeers zu fordern. Es gibt Wege zur Verwirklichung von Frieden, Gleichberechtigung und Demokratie in Israel/Palästina. Einer davon ist die Initiative »A Land for All« (Eretz Lekulam – Balad Liljamia), die ich persönlich unterstütze. Zu einem Zeitpunkt, an dem die israelische Regierung erklärt hat, dass sie versuchen wird, die »schleichenden De-facto-Annexion« in eine De-jure-Annexion zu überführen, ist es äußerst wichtig zu begreifen, welche Rolle bürokratische Kriegswaffen dabei spielen, einen palästinensischen Staat und eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts zu verhindern, indem sie die Mobilität der Palästinenser:innen und den Zugang zu ihrem Land beschränken.

Übersetzung aus dem Englischen von Gegensatz Translation Collective

Anmerkung

1. Tagebuch von Zvi Inbar aus dem Jahr 1963, veröffentlicht 2001.

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