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Umm-al-Hiran

Kurz vorm Verschwinden: Letzte Bilder aus Umm al-Hiran

Umm al-Ḥiran, eines der 35 Beduinendörfer im Negev, deren Existenz der Staat nicht anerkennt, erlangte am 18. Januar 2017 traurige Berühmtheit: Ein Polizeieinsatz zum Zweck des behördlich angeordneten Abrisses zahlreicher Gebäude entwickelte sich zu einer Tragödie: Zwei Männer – ein Zivilist und ein Polizist – kamen ums Leben. Das Dorf wurde jetzt endgültig geräumt, an seiner Stelle wird das Dorf Chiran errichtet, ausschließlich für jüdische Bewohner*innen.

Nach Jahren der Auseinandersetzungen, der Häuserabrisse, nach Polizeirazzien und einer Zwangsräumung, die Todesopfer forderte, haben die Bewohner*innen des Beduinendorfes Umm al-Ḥiran verloren. Sie hatten keine andere Wahl, als die Räumungsvereinbarung zu unterschreiben. Aufgrund dessen werden sie eine geringe Entschädigung erhalten und auf ihrem Land wird die jüdische Ortschaft Chiran errichtet werden. Hunderte von Beduinenfamilien sind nun dabei, nach Chura zu übersiedeln.

Der Fotoband „Umm al-Hiran – Momente des Abschieds vom Dorf“ dokumentiert in Bildern das Leben in dem nicht anerkannten Dorf im letzten Jahr. Die Fotos haben Beduininnen gemacht, die an dem Projekt „Jusawiruna – Fotografieren für Menschenrechte“ teilnehmen. Das Projekt wurde in den vergangenen vier Jahren in dem Dorf vom Negev-Koexistenz-Forum für gesellschaftliche Gleichberechtigung organisiert.[1] Die Frauen erhielten Kameras für Fotos und Videoaufnahmen, eine professionelle Anleitung zum Fotografieren sowie eine Einführung in Menschenrechtsfragen. Die Frauen treffen sich einmal in der Woche, immer in einem anderen Haus einer Teilnehmerin. Sie machen in ihrem Dorf Fotos, zeigen diese und lernen die Sprache der Fotografie, während sie über ihr Dorf und ihr Leben als Beduininnen in der israelischen Gesellschaft sprechen.

„Ich fürchte mich vor dem Vergessen“, sagt Rimal Abu al-Kijan. „Es ist mir wichtig zu fotografieren, um die Erinnerungen an das Dorf und mein Zuhause festzuhalten.“ Die 35-Jährige wurde in dem Dorf geboren und ist heute Mutter von fünf Kindern. „Ich fürchte mich, weil unsere Zukunft ungewiss ist“, sagt sie. „Wenn ich fotografiere, verschwindet meine Angst. Ich hatte keine Angst zu fotografieren, selbst als sie zu meinem Haus kamen und uns die Zwangsräumungsverfügung gaben. Die Kamera gibt Kraft.“ Sie ist immer noch im Dorf, weil sich das Haus in Chura, in das sie umziehen soll, noch im Bau befindet. Sie sagt: „Ich fühle mich fremd in Chura. Dies hier ist mein Zuhause. Es ist sehr schmerzlich, von hier wegzugehen.“

Politische Fotografie

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Das Foto ist Teil des "Yusawiruna – Photographing for Human Rights" Projektes, fotografiert von den Bewohnerinnen in Umm al-Hiran. Foto: Sahar

In der Einleitung zu dem Buch schreibt der israelische Fotograf und Künstler Miki Kratsman: „Es gibt wohl keine richtigeren oder genaueren fotografischen Aufnahmen oder Projekte als die, in denen sich eine Community selbst dokumentiert. Dies gilt umso mehr, wenn die Dokumentation von Frauen gemacht wird, die wissen, dass sie zur Erinnerung an einen Ort fotografieren, der bald nicht mehr existieren wird. Während sie das Ende von Umm al-Hiran fotografieren, schleicht sich im Hintergrund das Bild der jüdischen Ortschaft hinein. Ein Bagger reißt ab, während ein anderer baut. Dies sind Fotos, die während des Countdowns aufgenommen wurden … Die Fotos der Frauen von Umm al-Hiran spiegeln alle die gleiche Sorge vor dem wider, was kommen wird, vor der bedrohlichen Zukunft.“

Deshalb ist es kaum zu übersehen, dass die Veröffentlichung des Buchs mit tiefer Trauer in der Community einhergeht. Das Dorf inmitten einer malerischen Landschaft ist jetzt voll von Häuserruinen von Dorfbewohner*innen, die gegen die Zwangsräumung gekämpft haben und deren Häuser abgerissen wurden, von verschlossenen Häusern, deren Bewohner*innen bereits nach Chura umgezogen sind, und von Häusern von Familien, die sich mitten im Umzug befinden.

„Unsere Dorfgemeinschaft löst sich auf. Menschen sind verzweifelt“, sagt Aischa Abu al-Kijan, eine 45-jährige Mutter von drei Kindern, deren Fotos in dem Band enthalten sind. „Wir hängen in der Luft, sowohl die, die nach Chura umgezogen sind, als auch die, die noch hier sind.“ Aischa hat einen Dorfbewohner geheiratet, als sie 19 Jahre alt war. „Sie gilt als die Person im Dorf, die über alles informiert ist“, sagt die Fotografin Adi Lavy, die das Projekt begleitet und den Frauen das Filmen von Videoaufnahmen beigebracht hat. „Sie bemerkt alles, wenn jemand ins Dorf kommt, um ein Haus abzureißen, oder wenn eine Zwangsräumung beginnt. Das spiegelt sich auch in ihren Fotos wider; die sind sehr politisch.“

Bisher sind zehn Familien (zirka 100 Menschen) nach Chura umgezogen. Ungefähr 300 Familien befinden sich noch in Umm al-Hiran, die jetzt dabei sind zu übersiedeln. „Wir werden Jakub nicht vergessen“, sagt Aischa mit schmerzlicher Betroffenheit. „Er ist in unserem Bewusstsein lebendig und die Erinnerung an ihn wird nicht erlöschen.“ Die Fotografinnen widmeten den Band, in dem sich auch viele von ihnen gemachte Fotos von den Ereignissen an dem tragischen Tag befinden, Jakub Abu al-Kijan.

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Das Foto ist Teil des "Yusawiruna – Photographing for Human Rights" Projektes, fotografiert von den Bewohnerinnen in Umm al-Hiran. Foto: Aisha

Aischa sagt: „Das Fotografieren gibt mir Mut und Kraft, um die Realität durchzustehen.“ In Bezug auf die Zwangsumsiedlung nach Chura sagt sie: „Das ist ein eklatanter Fall von Rassismus. Sie haben uns Angst gemacht. Jeden Tag kam die Polizei und die Kinder ergriff Panik. Sie drängten uns, die Vereinbarung zu unterschreiben. Das ist Rassismus. Wir hatten keine Wahl, sie haben uns zur Räumung gezwungen.“ Aischa atmet tief durch und sagt: „Für die Kinder ist das besonders schwer. Nachdem sie Häuserabrisse und Polizeirazzien im Dorf miterleben mussten, sind meine Kinder sehr verängstigt. Einen Monat lang haben sie sich nicht getraut, das Zimmer zu verlassen und von einem Zimmer im Haus ins andere zu gehen. Alle Kinder im Dorf fürchten sich vor dem Schlaf in der Nacht.“

Zurzeit baut Aischas Familie ein Haus in Chura. „Ich will nicht entwurzelt werden, aber das liegt nicht in meinen Händen“, sagt sie. „Ich habe mich damit abgefunden. Mein Traum ist es, in einem Haus sicher und in Frieden zu leben, ohne dass jemand kommt und dort eindringt, uns bedroht und Angst macht.“

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Hauszerstörung durch die israelischen Behörden, Umm al-Hiran, 2017. Foto: Activestills

Fotografie zur Dokumentation der eigenen Geschichte

Die 28-jährige Hala Abu Friech, die Kulturwissenschaften am Sapir Academic College studiert hat, begleitet die Beduininnen in dem Projekt und leitet sie im Fotografieren an. Sie wurde in einem nicht anerkannten Dorf im Süden Israels geboren und ist von dort mit ihrer Familie nach Rahat gezogen. Die Arbeit mit den Frauen, sagt sie, hat in ihr eine Flut an Kindheitserinnerungen wachgerufen: „Über sie [die Frauen] erinnere ich mich an meine Herkunft, das macht für mich meine Vergangenheit lebendig. Ich sehe mit eigenen Augen eine Bevölkerung, die keine andere Wahl hat und vom Staat gezwungen wird, [ihre Häuser] zu räumen und in eine Stadt zu ziehen. Das hat meine Familie auch durchgemacht, und deshalb kann ich verstehen, wie viel wir an Kultur und natürlichem Lebensstil verloren haben.“

Sachar (nicht ihr wirklicher Name), eine 27-jährige Mutter von fünf Kindern, sagt: „Wir sehen, wie vor unseren Augen Chiran an die Infrastrukturen angebunden wird, während wir über viele Jahre hinweg um die Anbindung gebeten haben, die uns aber nie gewährt wurde.“ Sie zog mit 19 Jahren nach Umm al-Ḥīrān, nachdem sie einen Mann im Dorf geheiratet hatte. „Ich liebe es, die Umgebung des Hauses zu fotografieren“, sagt sie, „ich fotografiere meine kleinen Kinder, die Ziegen, die Pflanzen, die Landschaft und wie wir im Winter Fladenbrot im Tabun [Ofen aus Ton] backen. In meinen Fotos zeige ich gerne die Verbundenheit mit dem Ort und dass Umm al-Ḥīrān ein schönes Dorf ist. Fotografieren gibt mir ein Gefühl der Ruhe, der Entspannung. Wenn ich fotografiere, habe ich das Gefühl zu atmen.“

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Das Foto ist Teil des "Yusawiruna – Photographing for Human Rights" Projektes, fotografiert von den Bewohnerinnen in Umm al-Hiran. Foto: Rida

Die an dem Fotodokumentationsprojekt beteiligten Frauen tragen Hidschab (Kopftuch) und vermeiden es aus Gründen der Tradition, ihre Gesichter zu fotografieren. „Sie können ihre Gesichter nicht offen fotografieren“, sagt Lavy, „aber aus dieser Begrenzung heraus finden sie kreativ ihre künstlerische Freiheit.“

Sachar erzählt, die Frauen treibe die Furcht um, dass der Umzug nach Chura ihre Freiheit noch weiter verringern und die Beschränkungen noch verschärfen wird. „In Umm al-Ḥīrān gehören wir alle zum selben Stamm, alles ist klein, familiär, vertraut, und die Bauweise ist ganz anders als in Chura“, sagt sie, „manchmal können wir ohne Hidschab aus dem Haus gehen, uns einander laut miteinander zu unterhalten und uns frei im Dorf bewegen. Wir unterliegen keiner strengen Aufsicht oder drastischen Beschränkung. In Chura ist das anders – es ist ein größerer Ort, in dem Menschen verschiedener Beduinenstämme wohnen. Wir werden nur in Begleitung von einem Ort zum andern gehen können. Unsere gesamte Lebensweise wird sich verändern.“

In dem Fotoband schreibt Sachar: „Ich träume von einem geregelten Leben, davon, dass unser Zuhause sicher ist und die Kinder ohne Angst leben, dass ich in meinem Haus Dinge reparieren kann, ohne befürchten zu müssen, dass es abgerissen wird.“

Eine erste Version dieses Beitrags erschien in der Tageszeitung Haaretz am 12. April 2019.

Aus dem Hebräischen: Ursula Wokoeck Wollin

Vered Lee ist Journalistin der Tageszeitung Haaretz. Sie schreibt über sozialpolitische Themen wie Prostitution, Sex-Industrie, Geflüchtete, Obdachlosigkeit und weibliche Gefangene. 2018 erhielt sie von der Vereinigung für Bürgerrechte in Israel den Emil-Grünzweig-Menschenrechtspreis. Sie lebt in Jaffa.

Links

Anmerkungen

[1] Das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt seit mehreren Jahren dieses Projekt.

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