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Mizrachim in Israel: Zionismus aus der Sicht seiner jüdischen Opfer

Ein alternativer kritischer Diskurs zu Israel und dem Zionismus hat sich bis jetzt in weiten Teilen auf den jüdisch/arabischen Konflikt konzentriert. Dabei wurde Israel als ein konstituierter Staat angesehen, der mit dem Westen gegen den Osten verbündet ist und dessen Gründung auf dem Leugnen des Orients und der legitimen Rechte der Palästinenser*innen[1] beruht. Ich möchte die Themen der Debatte über die früheren Dichotomien (Ost gegen West, Araber*innen gegen Jüdinnen/Juden, Palästinenser*innen gegen Israelis) hinaus ausweiten, um ein Problem aufzugreifen, das bei früheren Formulierungen dieser Gegensätze ausgelassen worden ist, und zwar die Gegenwart einer vermittelnden Einheit, die arabischen oder orientalischen Jüdinnen/Juden, die Mizrachim, die überwiegend aus den arabischen oder muslimischen Ländern kommen. Wie ich zeigen werde, muss eine ausführlichere Analyse die negativen Auswirkungen von Zionismus nicht nur auf die Palästinenser*innen aufzeigen, sondern auch auf die Mizrachim, die mittlerweile die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Israels bilden. Denn Zionismus übernimmt es nicht nur, für Palästina und die Palästinenser*innen zu sprechen – und »blockiert« somit jegliche palästinensische Selbstvertretung sondern er nimmt sich auch heraus, für die orientalischen Jüdinnen und Juden zu sprechen. Das zionistische Leugnen des arabisch-muslimischen und palästinensischen Ostens hat in seiner Konsequenz das Leugnen der jüdischen Mizrachim (die »Orientalen«) zur Folge, die, wie die Palästinenser*innen, aber auf eine sehr viel subtilere Weise und mit weniger offensichtlich brutalen Mechanismen, ebenfalls ihres Rechts auf Selbstvertretung beraubt wurden. Innerhalb Israels, und auf der Weltbühne, ist die hegemoniale Stimme Israels fast unverändert die der europäischen Jüdinnen und Juden, der Aschkenasim, geblieben, während die Stimme der Mizrachim weitgehend gedämpft oder zum Schweigen gebracht wurde.

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Eine Immigrantin aus Bessarabien (heute Moldau, Ukraine) kauf Lebensmittel bei Eliahu Abraham, ehemals ein Schauspieler aus Baghdad. Ma'abara (Flüchtlingslager) in Kiryat Ono, Israel 1951. Foto:GPO

Zionismus erhebt den Anspruch, eine Befreiungsbewegung für alle Jüdinnen und Juden zu sein. Zionistische Ideologen haben bei ihren Anstrengungen, die beiden Begriffe »jüdisch« und »zionistisch« praktisch gleichzusetzen, keine Mühe gescheut. In Wirklichkeit ist der Zionismus aber primär eine Befreiungsbewegung für europäische Jüdinnen/Juden gewesen (und auch das war, wie wir wissen, problematisch), und, genauer noch, für die winzige Minderheit der europäischen Jüdinnen und Juden, die sich tatsächlich in Israel niedergelassen hat. Obwohl Zionismus den Anspruch erhebt, allen Jüdinnen und Juden eine Heimat zu bieten, so wurde diese Heimat nicht allen mit derselben Großzügigkeit angeboten. Mizrachim wurden anfänglich mit bestimmten europäisch-zionistischen Zielen nach Israel gebracht. Kaum waren sie dort, wurden sie von einem Zionismus, der seine Kräfte und seine materiellen Ressourcen unterschiedlich einsetzte, systematisch diskriminiert, und dies konsequent zum Nutzen der europäischen und zum Schaden der orientalischen Jüdinnen/Juden. In diesem Aufsatz möchte ich die Situation der strukturellen Unterdrückung beschreiben, wie sie von den Mizrachim in Israel erfahren wird; dabei werde ich kurz die historischen Ursprünge dieser Unterdrückung nachzeichnen, und eine symptomatische Analyse der historiographischen, soziologischen, politischen und journalistischen Diskurse erstellen, die diese Unterdrückung sublimieren, maskieren und fortsetzen.

Der Ost/West-Problematik wird ein anderes Problemfeld, das verwandt, aber nicht identisch ist, hinzugefügt werden und zwar das der Beziehung zwischen der »Ersten« und der »Dritten« Welt. Auch wenn Israel kein Drittweltland gemäß einfacher oder allgemeiner Definition ist, so hat es doch Affinitäten und strukturelle Analogien zur Dritten Welt, Analogien, die oft nicht erkannt werden, sogar, oder gerade, in Israel selbst. Inwiefern kann Israel folglich, entgegen der Ansichten seiner offiziellen Sprecher, als Teil der »Dritten Welt« gesehen werden? Erstens kann, in rein demographischen Begriffen, die Mehrheit der israelischen Bevölkerung als Dritte Welt angesehen werden oder zumindest als aus der Dritten Welt stammend. Die Palästinenser*innen machen etwa 20% der Bevölkerung aus; die Mizrachim, die erst vor sehr kurzer Zeit aus Ländern wie Marokko, Algerien, Ägypten, Iran, Irak und Indien gekommen sind, Ländern also, die allgemein als zur Dritten Welt gehörig angesehen werden, stellen noch einmal 50% der Bevölkerung. Zusammen ergeben sie mit etwa 70% eine Bevölkerung, die zur Dritten Welt gehört oder aus dieser stammt (Nimmt man die Westbank und Gaza hinzu, ergeben sich fast 90%). Europäische Hegemonie in Israel ist demzufolge das Produkt einer eindeutig numerischen Minorität, eine Minorität, in deren Interesse sowohl das Herunterspielen der »Östlichkeit« Israels als auch seiner Drittwelt-Zugehörigkeit liegt.

Innerhalb Israels bilden die europäischen Jüdinnen und Juden eine Elite, die nicht nur die Palästinenser*innen dominiert, sondern auch die orientalischen Jüdinnen/Juden. Die Mizrachim bilden, als jüdische Angehörige der Dritten Welt, eine halb-kolonialisierte Nation innerhalb einer Nation. Meine vorliegende Analyse ist dem anti-kolonialistischen Diskurs im Allgemeinen (Frantz Fanon, Aimé Cesaire) und besonders Edward Saids unentbehrlichem Beitrag zu diesem Diskurs geschuldet, seiner genealogischen Kritik des Orientalismus als diskursiver Ausgestaltung, durch welche die europäische Kultur in der Zeit nach der Aufklärung fähig war, mit den Orient umzugehen und ihn sogar zu produzieren.[2]

Die orientalistische Haltung behauptet, der Orient sei eine Konstellation bestimmter Wesensmerkmale, wobei verallgemeinerte Werte realen oder imaginären Unterschieden zugeordnet werden, überwiegend zum Vorteil des Westens und zum Nachteil des Ostens, um die Privilegien und Aggressionen des Ersteren zu rechtfertigen. Orientalismus neigt dazu, das, was Said eine »flexible positionelle Überlegenheit« nennt, zu erhalten, welche der Westler in eine ganze Reihe möglicher Beziehungen mit dem Orientalen setzt, aber ohne dass der Westler die relative Oberhand verliert. Mein Essay behandelt den Prozess, durch den der eine Pol des Ost/ West-Gegensatzes als ein rationaler, entwickelter, überlegener und menschlicher produziert und reproduziert wird, während der andere Pol hingegen als anormal, unterentwickelt und minderwertig produziert und reproduziert wird, aber in diesem Fall betrifft das die orientalischen Jüdinnen und Juden.

Die Geschichtsversion des Zionismus

Der Blick auf die Mizrachim als unterdrückte Dritte-Welt-Angehörige wendet sich direkt gegen das Gefüge des vorherrschenden Diskurses innerhalb Israels, wie er auch durch die westlichen Medien außerhalb Israels verbreitet wird. Laut diesem Diskurs hat der europäische Zionismus die Mizrachim aus der harten Herrschaft ihrer arabischen »Eroberer gerettet«. Er hat sie aus den »primitiven Umständen« der Armut und des Aberglaubens herausgeholt und sie sachte in eine moderne westliche Gesellschaft hineingeleitet, die geprägt ist von Toleranz, Demokratie und »menschlichen Werten«, Werte, mit denen sie – wegen der »levantinischen Umgebung«, aus der sie kamen – nur vage und in Ansätzen vertraut waren. Natürlich haben sie dann in Israel an der »Kluft« gelitten, nicht nur an der Kluft zwischen ihrem Lebensstandard und dem der europäischen Jüdinnen/Juden, sondern auch aufgrund des Problems ihrer unvollständigen Integration« in den israelischen Liberalismus und Wohlstand, behindert wie sie doch waren durch die orientalischen, analphabetischen, sexistischen und allgemein vormodernen Strukturen in ihren Herkunftsländern und auch durch ihre Neigung, große Familien zu bilden. Aber zum Glück haben die Wohlfahrtseinrichtungen und das Erziehungssystem alles in ihrer Macht Stehende getan, um »diese Kluft zu mindern«, indem sie die orientalischen Jüdinnen/Juden in den Lebensstil einer zivilisierten modernen Gesellschaft eingeführt haben. Ebenso zum Glück nehmen Mischehen schnell zu, und die Mizrachim haben an Wertschätzung gewonnen wegen ihrer »traditionellen kulturellen Werte«, wegen ihrer Musik, ihrer reichen Küche und ihrer warmherzigen Gastfreundschaft. Dennoch bleibt ein ernst zu nehmendes Problem. Wegen ihrer inadäquaten Erziehung und ihrer »fehlenden Erfahrung mit der Demokratie« neigen die Jüdinnen und Juden aus Afrika und Asien dazu, extrem konservativ, sogar reaktionär, und religiös fanatisch zu sein, ganz im Gegensatz zu den liberalen, säkularen und gebildeten europäischen Jüdinnen/Juden. Antisozialistisch geprägt, unterstützen sie die rechten Parteien. Wegen ihrer »grausamen Erfahrungen in arabischen Ländern«, neigen sie dazu, »Araber-Hasser« zu sein, und so gesehen stellen sie ein »Hindernis auf dem Weg zum Frieden« dar und verhindern die Anstrengungen des »Friedenslagers«, ein »vernünftiges Abkommen« mit den Araber*innen zu erreichen.

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Marokkanische jüdische Einwander*innen kommen im Hafen von Haifa an. Israel 1954. Foto: GPO

Ich werde gleich über die grundlegende Unaufrichtigkeit dieses Diskurses sprechen, aber zuerst möchte ich über seine weite Verbreitung reden, denn dieser Diskurs wird von rechts und von »links« getragen, und er hat frühe und späte Ausprägungen ebenso wie religiöse und säkulare Varianten. Von der israelischen Elite wurde eine Ideologie ausgearbeitet, die den Mizrachim und ihren Drittweltherkunftsländern Vorwürfe macht und Schuld zuweist, was von Politiker*innen, Sozialwissenschaftler*innen, Lehrer*innen, Schriftsteller*innen und den Massenmedien zum Ausdruck gebracht wird. Diese Ideologie stimmt eine zusammenhängende Serie von Diskursen voller Vorurteile an, die klare kolonialistische Unter- und Obertöne enthält. So überrascht es nicht weiter, dass die Mizrachim von den Eliten immer wieder mit anderen »niederen« kolonialisierten Völkern verglichen werden. 1949, während der Massenimmigration aus den arabischen und islamischen Ländern, schrieb der Journalist Arye Gelblum in einem Artikel über die Mizrachim:

»Dies ist die Einwanderung einer Rasse, wie wir sie bisher in diesem Land noch nicht gekannt haben [...] Wir haben es mit Leuten zu tun, deren Primitivität auf einem Höhepunkt ist, deren Kenntnisstand wirklich absolutes Unwissen ist, und, schlimmer noch, die keinerlei Talent für jegliches intellektuelles Verständnis haben. Allgemein ist ihr Niveau kaum besser als das der Araber, Neger und Berber in denselben Regionen. Ohnehin haben sie ein Niveau, das noch geringer ist als das, was wir von den früheren Araber*innen hier in Eretz Israel kennen. [...] Diesen Juden fehlen auch die Wurzen im Judaismus, da sie völlig von wilden und primitiven Instinkten beherrscht sind. [...] Wie bei den Afrikanern findet man Glücksspiel, Trunkenheit und Prostitution. Die meisten von ihnen haben ernste Augen-, Haut- und Geschlechtskrankheiten, von Raub und Diebstählen gar nicht erst zu sprechen. Chronische Faulheit und Ablehnung von Arbeit, nichts ist sicher vor diesem asozialen Element [...] »Alijat HaNoar« (die offizielle Organisation, die mit jungen Eingewanderten betraut ist) weigert sich, junge Marokkaner aufzunehmen, und die Kibbuzim wollen nichts von einer ihrer Aufnahme hören.«[3]

Verständnisvoll den freundschaftlichen Rat eines französischen Diplomaten und Soziologen zitierend, verdeutlicht der Schluss des Artikels die koloniale Parallele in der Haltung der Aschkenasim in Bezug auf die Mizrachim. Basierend auf seinen Kommentaren zur französischen Erfahrung mit den afrikanischen Kolonien, warnt der Diplomat:

»Sie machen in Israel genau denselben fatalen Fehler, den wir Franzosen gemacht haben [...] Sie öffnen ihre Tore den Afrikanern zu weit [...] die Immigration einer bestimmten Art Menschenmaterials wird ihren Wert mindern und einen levantinischen Staat aus ihnen machen, und dann wird ihr Schicksal besiegelt sein. Sie werden verfallen und zugrunde gehen.«[4]

Um nicht zu denken, dass dieser Diskurs das Produkt des Deliriums eines isolierten reaktionären Journalisten ist, braucht man nur den damaligen Premierminister David Ben Gurion zu zitieren, der die Mizrachi-Einwandernde als Leute, denen »die allergrundlegendsten Kenntnisse« fehlen und die »ohne eine Spur jüdischer oder menschlicher Bildung« sind, beschrieben hat.[5] Ben Gurion hat seiner Verachtung für die Kultur der orientalischen Jüdinnen und Juden wiederholt Ausdruck verliehen: »Wir wollen nicht, dass Israelis Araber werden. Wir müssen gegen den Geist der Levante kämpfen, der Individuen und Gesellschaften korrumpiert, und die authentischen jüdischen Werte, wie sie sich in der Diaspora herauskristallisiert haben, bewahren.«[6] Über Jahre hinweg haben israelische Führungspersönlichkeiten diese Vorurteile, die sowohl die Araber*innen als auch die orientalischen Jüdinnen/Juden umfassten, forciert und legitimiert. Für Abba Eban »sollte es das Ziel sein, [den Mizrachim] einen abendländischen Geist einzuflößen, statt dass diesen erlaubt wird, uns in einen widernatürlichen Orientalismus hineinzuziehen.«[7] Oder: »Eine unserer großen Befürchtungen ist [...] die Gefahr, dass bei einer Überhandnahme der Einwanderer orientalischer Herkunft Israel gezwungen wird, sein kulturelles Niveau das seiner angrenzenden Länder anzugleichen.«[8] Golda Meir beschrieb die Mizrachim, in typischer kolonialistischer Manier, als aus einer anderen, weniger entwickelten Zeit kommend, für sie das 16. Jahrhundert (für andere, ein vage definiertes »Mittelalter«): »Werden wir fähig sein«, so fragte sie, »diese Einwanderer auf eine geeignete Zivilisationsstufe zu heben?«[9] Ben Gurion, der die marokkanischen Jüdinnen/Juden in einer Sitzung des Knesset »Wilde« nannte und Mizrachim auf geringschätzende (und aufschlussreiche) Weise mit den Afrikanern verglich, die als Sklaven nach Amerika gebracht wurden, ging zeitweise so weit, die intellektuellen Fähigkeiten und sogar das Jüdisch-Sein der Mizrachim in Frage zu stellen.[10] In einem mit The Glory of Israel (Der Ruhm Israels) betitelten Artikel, der im Regierungsjahrbuch veröffentlicht wurde, klagte der Premierminister, dass »die göttliche Präsenz aus der orientalisch-jüdisch ethnischen Gruppe verschwunden ist«, wohingegen er die europäischen Jüdinnen/Juden dafür pries, »unser Volk sowohl in quantitativen wie qualitativen Begriffen geführt« zu haben.[11] Zionistische Schriften und Reden verfolgen häufig den historiographisch zweifelhaften Ansatz, dass die Jüdinnen und Juden aus dem Orient sich vor ihrer »Einsammlung« nach Israel, irgendwie »außerhalb der Geschichte« befanden. Damit werden ironischerweise Vorstellungen des 19. Jahrhunderts wiedergegeben, wie z.B. von Hegel, dass die Jüdinnen/Juden, wie die Schwarzen, außerhalb der Fortschritts der westlichen Zivilisation gelebt hätten. Europäische Zionisten ähneln in dieser Beziehung Fanons Kolonialherren, der immer »Geschichte macht«, dessen Leben »ein Epos« ist, »eine Odyssee«, während die Eingeborenen einen »fast unorganischen Hintergrund« bilden.

Ferner haben einige der hoch angesehenen Intellektuellen Israels von der Hebräischen Universität in den frühen 1950er Jahren Aufsätze über das ethnische Problem« verfasst. »Wir müssen,« schreibt z.B. Karl Frankenstein, »die primitive Mentalität vieler Einwanderer aus rückständigen Ländern erkennen.« Er behauptet, dass diese Mentalität mit der »primitiven Ausdruckskraft von Kindern, Zurückgebliebenen, oder Geisteskranken« verglichen werden könne. Ein anderer Gelehrter, der Soziologe Yosef Groß, sah die Einwandernden »an einer geistigen Regression und einer mangelhaften Entwicklung des Ego leiden«. Ein ausführliches Symposium zum »Sephardischen (Mizrachi-) Problem« wurde flankiert von einer Diskussion über »das Wesen der Primitivität«. Nur ein starkes Einflößen europäischer kultureller Werte, so schlossen die Gelehrten, würde die arabischen Jüdinnen/Juden aus ihrer »Rückständigkeit« retten.[12] Und 1964 veröffentlichte Kalman Katzelson sein offen rassistisches Werk The Ashkenazi Revolution (Die aschkenasische Revolution), in dem er gegen den gefährlichen Zustrom einer großen Anzahl von orientalischen Jüdinnen und Juden nach Israel protestierte. Er behauptete, es gebe eine grundlegende und irreversible genetische Unterlegenheit der Mizrachim. Er befürchtete, dass die aschkenasische »Rasse« durch Mischehen verdorben werde, und rief die Aschkenasim dazu auf, ihre Interessen angesichts der wachsenden Mizrachi-Mehrheit zu schützen.

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Immigrationslager jeminitischer Einwander*innen, Rosh Ha’ayin, Israel, 1950.Foto: GPO

Solche Haltungen sind nicht verschwunden; sie sind noch immer weit verbreitet und werden von europäischen Jüdinnen/Juden der unterschiedlichsten politischen Richtungen vertreten. Die »liberale« Schulamit Aloni, Kopf der Citizen's Right Party (Ratz) und Abgeordnete in der Knesset, hat 1983 Mizrachim als »barbarische tribale Kräfte« verurteilt, die »wie eine Herde mit Tamtam zusammengetrieben werden« und wie »ein wilder Stamm« grölen.[13] Die implizierte Metapher, die Mizrachim mit den Schwarzen Afrikas vergleicht, ruft ironischerweise eines der Lieblingsthemen des europäischen Antisemitismus in Erinnerung, das der »Schwarzen Juden« (In europäisch-jüdischen Gesprächen bezieht man sich bei Mizrachim manchmal auf »schwartze chajes«, Jiddisch für »schwarze Tiere«). Amnon Dankner, ein Kolumnist der »liberalen« Tageszeitung Haaretz, die von aschkenasischen Intellektuellen geschätzt wird und für ihre hohen journalistischen Standards bekannt ist, diffamiert Lebensformen der Mizrachim, die mit der islamischen Kultur verbunden sind, als der westlichen Kultur, »die wir hier anzunehmen versuchen«, eindeutig unterlegen. Indem er sich selbst als furchtsames Opfer einer angeblich offiziellen »Toleranz« darstellt, beklagt der Journalist sein erzwungenes Miteinander mit den orientalischen Untermenschen: »Dieser Krieg [zwischen den Aschkenasim und den Mizrachim] wird nicht einer zwischen Brüdern sein, nicht, weil es keinen Krieg geben wird, sondern weil er nicht zwischen Brüdern sein wird. Denn wenn ich ein Partner in diesem Krieg sein werde, der mir auferlegt wird, weigere ich mich, die andere Seite meinen ›Bruder‹ zu nennen. Diese sind nicht meine Brüder, diese sind nicht meine Schwestern, lasst mich in Ruhe, ich habe keine Schwester [...] Sie stülpen die klebrige Decke der Liebe Israels über meinen Kopf, und bitten mich, mir der kulturellen Defizite bewusst zu werden, der authentischen Gefühle der Diskriminierung [...] sie stecken mich in denselben Käfig mit einen hysterischen Pavian, und sie sagen mir: ›OK, nun seid Ihr zusammen, also beginne den Dialog‹. Und ich habe keine andere Wahl, der Pavian ist gegen mich, der Wärter ist gegen mich, und die Propheten der Liebe Israels stehen an der Seite und blinzeln mir mit weisem Auge zu und sagen: ›Spreche nett mit ihm. Werfe ihm eine Banane zu. Immerhin seid Ihr Brüder‹ [...]«[14]. Wieder werden wir an Fanons Kolonialherren erinnert, unfähig, über den Kolonialisierten zu sprechen, ohne sich auf das Bestiarium zu verlegen, der Kolonialherr, dessen Begriffe zoologische sind.

Der rassistische Diskurs bezüglich der orientalischen Jüdinnen und Juden ist nicht immer so übertrieben oder extrem; anderswo hat er eine eher »humane« oder »gütige« Ausprägung. Lesen Sie z.B. Dr. Dvora und Rabbi Hacohens One People, The Story of the Eastern Jews, ein »liebevoller« Text, der durchdrungen ist von eurozentrischen Vorurteilen.[15] In seiner Einleitung spricht Abba Eban über die »exotische Qualität« jüdischer Gemeinschaften, an den »äußeren Rändern der jüdischen Welt«. Der Text selbst und auch die Photographien vermitteln eine eindeutige Ideologie. Betont werden »traditionelle Trachten«, »bezaubernde Volksweisen«, »vormodernes Handwerk«, Schuhmacher und Kupferschmiede, Frauen »an primitiven Webstühlen«. Wir erfahren, dass es »in Jemen an Schulbüchern mangelt«, und die Photographien zeigen ausschließlich heilige Schriften wie die Ketubba (jüdischer Ehevertrag) oder Thora-Rollen, niemals säkulare Schriften. Wiederholt werden wir daran erinnert, dass manche nordafrikanischen Jüdinnen und Juden Höhlen bewohnt haben (Intellektuelle wie Albert Memmi und Jacques Derrida sind diesen Lebensbedingungen offensichtlich entkommen), und ein ganzes Kapitel ist diesen »Jüdischen Höhlenbewohnern« gewidmet.

Die aktuellen historischen Dokumente zeigen hingegen, dass die orientalischen Jüdinnen und Juden überwiegend städtisch waren. Natürlich ist es kein Verdienst an sich, städtisch zu sein, oder ein Fehler an sich, in »höhlenartigen Unterkünften« zu leben. Was auf Seiten des Kommentators auffällt, ist eine Art »Sehnsucht nach dem Primitiven«, eine Kläglichkeit, die sich veranlasst fühlt, die Mizrachim frei von jeglicher Technik und Modernität zu zeichnen. Die Bilder »orientalischen« Elends werden dann den glänzenden Gesichtern der »Orientalen« in Israel gegenübergestellt, wie sie lesen lernen und die moderne Technologie der Traktoren und Mähdrescher beherrschen. Das Buch ist Bestandteil einer weiteren nationalen Exportindustrie für Mizrachi-»Folklore«, einer Industrie, die (oftmals enteignete) Güter – Kleider, Schmuck, Liturgiegegenstände, Bücher, Fotos und Filme – unter westlichen jüdischen Institutionen vertreibt, die scharf sind auf jüdische Exotika. So poliert der israelische Aschkenasi das Mysterium der östlichen Jüdinnen und Juden für den Westen auf – ein Muster, wie wir es auch aus akademischen Studien kennen. Ora Gloria Jacob-Arzooni beschreibt beispielsweise in The Israeli Film: Social and Cultural Influences 1912-1973 Israels »exotische« Mizrachi-Community als eine, die von »fast unbekannten Tropenkrankheiten« geplagt ist – die Geographie hier ist etwas abenteuerlich – und die »wirklich mittellos« ist. Die nordafrikanischen Jüdinnen/Juden, so wird uns beigebracht, und das in einer Sprache, die so lange nach dem Ende des Dritten Reichs erstaunt, waren kaum »rassenrein«, und bei ihnen findet man »Hexerei und anderen Aberglauben, der weit entfernt ist vom Jüdischen Recht«.[16] Wir fühlen uns erinnert an Fanons ironische Auflistung der kolonialen Beschreibung der Eingeborenen: »Träge Kreaturen, vom Fieber geschüttelt, besessen von alten Sitten«.

Der Raub von Geschichte

Ein wesentliches Merkmal von Kolonialismus ist die Verzerrung und sogar das Leugnen der Geschichte der Kolonialisierten. Die Projektion, dass die Mizrachim aus rückständigen ländlichen Gemeinschaften kommen, die keinerlei Kontakt mit der technologischen Zivilisation hatten, ist im günstigsten Fall eine vereinfachende Karikatur und im schlimmsten Fall eine komplette Fehlinterpretation. Metropolen wie Alexandria, Bagdad und Istanbul waren zur Zeit der Mizrachi-Immigration kaum trostlose und rückständige Nester ohne Elektrizität oder Automobile, wie es von der offiziellen zionistischen Darstellung impliziert wird, noch waren diese Länder auf wundersame Weise von der universellen Dynamik historischer Prozesse abgeschnitten. Dennoch sind Mizrachim und palästinensische Kinder in israelischen Schulen dazu verdammt, eine Weltgeschichte zu studieren, die nur die Leistungen des Westens hervorhebt, während sie die Zivilisationen des Ostens auslöscht. Die politischen Dynamiken des Nahen Ostens werden hingegen nur in Bezug auf die befruchtenden Einflüsse des Zionismus auf die zuvor vorhandene Wüste dargestellt. Die zionistische Hauptgeschichtsschreibung lässt nur wenig Raum für Palästinenser*innen und Mizrachim. Während aber die Palästinenser*innen eine eindeutige Gegengeschichtsschreibung haben, ist die Geschichte der Mizrachim zersplittert, eingebunden in die Historie beider Gruppen. Zwischen dem »bösen« Osten (dem muslimischen Araber*innen) und dem »guten« Osten (dem jüdischen Araber*innen) unterscheidend, hat Israel es übernommen, die Mizrachim von ihrem Arabischsein zu säubern und sie von ihrer Ursünde, zum Orient zu gehören, zu erlösen. Die israelische Geschichtsschreibung absorbiert die Jüdinnen/Juden Asiens und Afrikas im monolithischen offiziellen Gedächtnis der europäischen Jüdinnen/Juden. Mizrachi-Student*innen lernen wirklich nichts von Wert über ihre eigene Geschichte als Juden im Orient. Viele senegalesische und vietnamesische Kinder haben gelernt, dass ihre »Vorfahren, die Gallier, blaue Augen und blonde Haare« hatten. Mizrachi-Kinder bekommen die historische Erinnerung an »unsere Vorfahren, die Bewohnenden der Schtetl[17] in Polen und Russland« eingeimpft, ebenso wie den Stolz auf die zionistischen Gründungsväter für das Errichten von Pioniersiedlungen und Vorposten in der Wildnis. Jüdische Geschichte ist als eine europäische konzipiert, und das Verschweigen von Mizrachim in historischen Texten ist eine feine Art, die unangenehme Anwesenheit eines orientalischen »Anderen« zu verstecken, und einem europäisch-jüdischen »Wir« unterzuordnen.

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„Operation Fliegender Teppich“, Transport von etwa 49.000 jemenitischen Juden und Jüdinnen nach Israel, 1949. Foto: GPO

Aus der Perspektive des offiziellen Zionismus erscheinen Jüdinnen/Juden aus arabischen und muslimischen Ländern erst und nur dann auf der Weltbühne, wenn sie auf der Karte des hebräischen Staates gesehen werden, ebenso, wie die moderne Geschichte Palästinas offiziell erst mit der zionistischen Erneuerung des biblischen Mandats beginnt. Moderne Mizrachi-Geschichte beginnt, so die Annahme, erst mit der Ankunft der Mizrachim in Israel oder, noch genauer, mit den Operationen »Fliegender Teppich« oder »Ali Baba« (letztere bezieht sich auf den Transfer irakischer Jüdinnen und Juden nach Israel in den Jahren 1950 und 1951, erstere auf den jemenitischer Jüdinnen/Juden 1949-1950). Die Bezeichnungen selbst, Tausendundeiner Nacht entlehnt, rufen orientalistische Haltungen hervor, welche die naive Religiosität und den technologischen Rückstand der Mizrachim in den Vordergrund rücken, für die moderne Flugzeuge »fliegende Teppiche« waren, die sie in das Gelobte Land brachten. So hat der zionistische Glanz auf der Exodus-Allegorie die »ägyptische« Sklaverei (wobei Ägypten hier für alle arabischen Länder steht) und den heilsamen Tod der (Mizrachim) »Wüstengeneration« bemüht. Der europäische Zionismus hat die Rolle des Patriarchen in der jüdischen mündlichen Tradition übernommen, bei der die Väter den Söhnen die Erfahrungen ihres Volkes weitergeben (»we-igad‘ta le-bincha ba-jom ha‘hu...«) [»Und eines Tages wirst Du Deinen Kindern erzählen... «]. Und die Erzählungen des zionistischen Vaters übertönen die Erzählungen des Mizrachi-Vaters, die somit für seine Söhne unerreichbar geworden sind.

Gefiltert durch ein eurozentrisches Raster, stellt der Zionismus Kultur als Monopol des Westens dar und beraubt so die Völker Asiens und Afrikas, einschließlich der jüdischen Völker, ihres kulturellen Ausdrucks. Die reiche Geschichte der Jüdinnen und Juden aus arabischen und muslimischen Ländern wird dementsprechend in israelischen Schulen und akademischen Einrichtungen kaum studiert. (Während Jiddisch gepriesen und gefördert wird, werden Ladino und andere sephardische und Mizrachi-Dialekte missachtet – »diejenigen, die nicht Jiddisch sprechen«, sagte Golda Meir einst, »sind keine Juden«. – Jiddisch, für die Mizrachim eine Sprache des Unterdrückers, wurde so, durch eine ironische Wendung der Geschichte, zu einem Sprachcode, der mit Privilegien verbunden ist.)[18] Während die Werke von Scholem Alejchem, Y.D. Berkowitz, Mendele Moicher Sforim eingehend untersucht werden, werden die Werke von Anwar Shaul, Murad Michael und Salim Darwish ignoriert, und wenn Mizrachi-Figuren diskutiert werden, so wird ihr Arabischsein heruntergespielt. Maimonides, Jehuda ha-Levi und Ibn Gabirol werden als Produkt einer aus dem Zusammenhang gerissenen jüdischen Tradition angesehen oder aber lieber mit Spanien, d.h. Europa, in Verbindung gebracht als mit einer »judeo-islamischen Symbiose«, deren Existenz sogar der Orientalist Bernard Lewis anerkennt. Alles verschwört sich, um den Eindruck zu kultivieren, dass Mizrachi-Kultur vor dem Zionismus statisch und passiv war, und, wie das Brachland Palästina, in Wartestellung verharrte, um vom europäischen Dynamismus befruchtet zu werden. Auch wenn die zionistische Historiographie die Geschichte der Mizrachim auf krankhaft selektive Art als ein Schreiten von Pogrom zu Pogrom (die oft Jahrhunderte auseinander liegen) darstellt, und so ein Bild unablässiger Unterdrückung und Erniedrigung zeichnet, haben die Mizrachim tatsächlich und im Ganzen gesehen ziemlich komfortabel in der arabisch-muslimischen Gesellschaft gelebt. Die Geschichte der Mizrachim kann einfach nicht mit der europäisch-jüdischen Terminologie diskutiert werden, selbst das Wort »Pogrom« hat seinen Ursprung in den europäisch-jüdischen Erfahrungen und spiegelt deren Besonderheiten. Gleichzeitig sollten wir die jüdisch-muslimische Beziehung nicht als idyllisch idealisieren. Zwar stimmt es, dass die zionistische Propaganda die negativen Aspekte der jüdischen Situation in den muslimischen Ländern übertrieben hat und, dass die Lage dieser Jüdinnen und Juden über 15 Jahrhunderte unbestritten besser war als in christlichen Ländern. Doch bleibt es eine Tatsache, dass der Status als dhimmi, der auf beide, Jüdinnen/Juden und Christinnen /Christen, als »tolerierte« und »beschützte« Minderheiten angewandt wurde, an sich eine Ungleichheit bedeutetet. Aber diese Tatsache war, wie Maxime Rodinson aufzeigt, sehr wohl durch die soziologischen und historischen Umstände der Zeit zu erklären, und sie war nicht Produkt eines pathologischen Antisemitismus europäischer Ausprägung.[19] Die Mizrachim waren, während sie gleichzeitig eine starke kollektive Identität aufrechterhielten, allgemein gut integriert und heimisch in ihren Herkunftsländern, und sie waren ein untrennbarer Teil ihres gesellschaftlichen– und kulturellen Lebens. Durch und durch in ihren Traditionen arabisiert, benutzten z.B. die irakischen Jüdinnen/Juden arabisch selbst in ihren Lobgesängen und religiösen Zeremonien. Die liberalen und säkularen Strömungen des 20. Jahrhunderts erzeugten sogar eine stärkere Verbindung zwischen den irakischen Jüdinnen/Juden und der arabischen Kultur, was es Jüdinnen und Juden ermöglichte, eine prominente Stelle im öffentlichen und kulturellen Leben einzunehmen. Jüdische Schriftsteller, Dichter und Gelehrte spielten eine vitale Rolle in der arabischen Kultur, indem sie z.B. Bücher aus anderen Sprachen ins Arabische übersetzten. Jüdinnen und Juden taten sich im irakisch-sprechenden Theater hervor, in der Musik, als Sänger, Komponisten und Interpreten auf traditionellen Instrumenten. In Ägypten, Syrien, Libanon, Irak und Tunesien wurden Jüdinnen/Juden Mitglieder der Legislative, von Stadträten, der Justiz, und sie hielten auch hohe wirtschaftliche Positionen inne; Ishak Sasson war in der 1940ern Finanzminister des Irak, und James Sanua in Ägypten – höhere Positionen ironischerweise als die, die Mizrachim innerhalb des Jüdischen Staates erreicht haben.

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Partygesellschaft einer jüdischen Familie in Baghdad. Um 1950.

Die Verlockungen des Zions

Die zionistische Geschichtsschreibung stellt die Emigration der arabischen Jüdinnen und Juden als Resultat einer langen Geschichte von Antisemitismus und religiöser Hingabe dar, während zionistische Aktivist*innen aus den arabisch-jüdischen Communities die Bedeutung des zionistisch-ideologischen Engagements als Motiv für den Exodus hervorheben. Beide Versionen missachten grundlegende Elemente: Das zionistische ökonomische Interesse daran, Mizrachim nach Palästina/Israel zu bringen, das finanzielle Interesse mancher arabischer Regime an ihrer Ausreise, historische Entwicklungen im Zuge des arabisch-israelischen Konflikts und die grundlegende Verbindung zwischen dem Schicksal der arabischen Jüdinnen/Juden und den Palästinenser*innen. Arabische Historiker, wie Abbas Shiblack in The Lure of Zion aufzeigt, haben ebenfalls das Ausmaß unterschätzt, in dem die Politik der arabischen Regierungen, die Jüdinnen und Juden zum Gehen zu ermutigen, das Gegenteil bewirkt und ironischerweise der zionistischen Sache gedient und somit beiden, arabischen Jüdinnen/Juden und Palästinenser*innen, geschadet hat.[20] Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass Mizrachim, die über Jahrtausende (oft schon vor der arabischen Eroberung) im Nahen Osten und Nordafrika gelebt hatten, einfach kein Interesse daran hatten, in Palästina zu siedeln. Sie mussten nach Zion »gelockt« werden. Trotz der messianischen Mystik des Landes Zion, die ein integraler Bestandteil der religiösen Kultur der Mizrachim war, haben sie nicht den europäisch-jüdischen Wunsch geteilt, »die Diaspora zu beenden«, indem ein unabhängiger Staat gebildet würde, der von einem neuen Archetypen eines Juden bevölkert würde. Orientalische Jüdinnen/Juden waren stets in Kontakt mit dem «Gelobten Land«, aber dieser Kontakt war ein «natürlicher« Bestandteil eines allgemeinen Umlaufs innerhalb der Länder des Osmanischen Reiches. Bis in die 1930er Jahre hinein war es für Mizrachim nicht unüblich, rein religiöse Pilgerfahrten oder Geschäftsreisen nach Palästina zu unternehmen, manchmal mit Hilfe jüdischer Transportunternehmen. (Auch wenn auf der zionistischen Landkarte die Herkunftsländer der Mizrachim als «fern und abgeschieden« angesehen wurden, so waren sie doch in Wirklichkeit näher an Eretz Israel als Polen, Russland und Deutschland.)

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Jüdische Hochzeit in Aleppo, Syrien 1914.

Vor dem Holocaust und der Gründung Israels, war der Zionismus eine Minderheitenbewegung innerhalb der weltweiten jüdischen Gemeinden. Die Mehrheit der Mizrachim stand dem zionistischen Projekt eher gleichgültig, zeitweise sogar feindselig gegenüber. Die irakisch-jüdische Führerschaft z.B. hat mit der irakischen Regierung zusammengearbeitet, um zionistische Aktivitäten in Irak zu unterbinden; der Oberrabbiner in Irak hat 1929 sogar einen «Offenen Brief« veröffentlicht, in dem er den Zionismus und die Balfour Deklaration verurteilte.[21] In Palästina haben einige lokale Führungspersönlichkeiten der (orientalischen) jüdischen Community formal gegen die zionistischen Pläne protestiert. 1920 haben sie eine antizionistische Petition, die von palästinensischen Araber*innen verfasst worden war, unterzeichnet, und 1923 trafen sich einige palästinensische Jüdinnen und Juden in einer Synagoge, um die aschkenasisch-zionistische Herrschaft anzuprangern. Manche haben sogar dem muslimisch-christlichen Komitee und seinem Führer Mussa Chasam al-Chuseini zugejubelt. Das Nationale Jüdische Komitee konnte jedoch Zeitungsmeldungen über dieses Ereignis verhindern.[22] Zionismus hat in dieser Zeit massive ideologische Dilemmata für alle palästinensischen – jüdische, muslimische und christliche – Communities erzeugt. Die nationale arabische Bewegung in Palästina und Syrien unterschied in den frühen Phasen sorgfältig zwischen zionistischen Einwandernden und den lokal ansässigen jüdischen Einwohner*innen (zum größten Teil Mizrachim), »die friedlich unter den Arabern leben«.[23] Die erste Petition, die gegen Zionismus protestierte, von den Jerusalemer Araber*innen im November 1918 verfasst, forderte: »Wir möchten [...] gleichberechtigt mit unseren israelitischen Brüdern, seit langem ansässig und gebürtig in diesem Land, leben; ihre Rechte sind unsere Rechte, und ihre Pflichten sind unsere Pflichten.«[24] Die Gesamt-Syrische Konvention vom Juli 1919, an der auch ein Repräsentant der Mizrachim teilnahm erhob sogar den Anspruch, alle arabischen Syrer*innen, Muslim*innen, Christ*innen und Jüdinnen/Juden, zu vertreten. Das Manifest der ersten palästinensischen Konvention im Februar 1919 beharrte ebenfalls auf der Unterscheidung »lokal jüdisch/zionistisch«, und sogar im März 1920, während der massiven Demonstrationen gegen die Balfour Deklaration, wendete sich eine Petition aus dem Gebiet um Nazareth nur gegen die zionistische Einwanderung, und nicht gegen die Jüdinnen/Juden allgemein. »Die Juden sind aus unserem Land, sie haben hier vor der Besatzung mit uns gelebt, sie sind unsere Brüder, Leute unseres Landes, und alle Juden der Welt sind unsere Brüder.«[25] Gleichzeitig gab es tiefe widersprüchliche Gefühle und Befürchtungen sowohl bei arabischen Jüdinnen und Juden als auch bei arabischen Muslim*innen und Christ*innen. Während manche muslimischen und christlichen Araber*innen die Unterscheidung »zionistisch/jüdisch« strikt aufrechterhielten, waren andere weniger achtsam. In Nazareth bemühte der anglikanische Priester theologische Argumente gegen »die Juden« im Allgemeinen, und der arabische Mob unterschied weder 1920 noch 1929 zwischen zionistischen Zielen an sich und den traditionellen Gemeinschaften, die nicht im zionistischen Projekt involviert waren.[26] So brachte der Zionismus eine schmerzliche Zweiteilung in die vorher friedlichen Beziehungen zwischen den beiden Communities. Die Mizrachim wurden dazu getrieben, zwischen anti-zionistischem »Arabischsein« und einem pro-zionistischen »Jüdisch-Sein« zu wählen. Zum ersten Mal in der Geschichte der orientalischen Jüdinnen und Juden wurden »Arabischsein« und »Jüdisch-Sein« als Gegensätze verwendet. Die Situation brachte die palästinensischen Araber*innen dazu, alle Jüdinnen und Juden zumindest als potentielle Zionisten zu sehen. Unter dem Druck der Wellen aschkenasisch-zionistischer Einwanderung und dem zunehmenden Einfluss ihrer Institutionen, wurde die Unterscheidung »jüdisch/zionistisch« immer prekärer, vor allem zum Vorteil des europäischen Zionismus. Hätte die arabische Nationalbewegung diese Unterscheidung aufrechterhalten, so hätte es beträchtliche Chancen gegeben, die Unterstützung der Mizrachim für die anti-zionistische Sache zu bekommen – wie sogar der zionistische Historiker Yehoshua Porat erkannt hat. Außerhalb Palästinas war es keine leichte Aufgabe für den Zionismus, die arabisch-jüdischen Communities zu entwurzeln. Im Irak z.B. waren die meisten arabischen Jüdinnen und Juden nicht zionistisch, und sie lehnten es selbst nach der Ausrufung des Staates Israel noch ab auszuwandern, und das trotz der Balfour Erklärung von 1917, trotz der Spannungen, die durch die palästinensisch/zionistischen Zusammenstöße in Palästina erzeugt wurden, trotz zionistischer Propaganda unter Mizrachim in den arabisch-muslimischen Ländern, trotz der historisch atypischen Angriffe auf irakische Jüdinnen/Juden 1941 (Angriffe, die untrennbar mit den geopolitischen Konflikten dieser Zeit verbunden waren). Selbst nach der Staatsgründung richtete die jüdische Community im Irak neue Schulen ein und gründete Unternehmen, ein eindeutiges Zeichen der ernsten Absicht zu bleiben. Als die irakische Regierung 1950 verkündete, dass jeder Jude, der gehen wolle, frei sei, dies zu tun – mit der Auflage, die Staatszugehörigkeit und das Eigentum aufzugeben –, und eine Zeitbegrenzung für die Ausreise setzte, haben nur einige wenige Familien Ausreisegenehmigungen beantragt. Da das Zuckerbrot nicht ausreichte, war die Peitsche nötig. Eine jüdische Untergrundzelle, von Geheimagenten befehligt, die aus Israel gesandt waren, legte Bomben in jüdischen Zentren, um Hysterie unter den irakischen Jüdinnen/Juden zu erzeugen und so die Massenauswanderung nach Israel zu beschleunigen.[27] In einem Fall, am 14. Januar 1951, wurde eine Bombe in den Hof der Mas’uda Schemtov Synagoge in Bagdad geworfen, zu einem Zeitpunkt, als dort Hunderte versammelt waren.[28] Vier Personen, unter ihnen ein zwölfjähriger Junge, wurden getötet, und etwa 20 wurden verwundet. Diese Aktionen scheinen das Produkt einer Absprache zwischen zwei Gruppen gewesen zu sein – israelischen Zionisten (einschließlich einer kleinen Gruppe irakischer Zionisten) und Gruppierungen innerhalb der irakischen Regierung (vor allem um den nach Britannien orientierten Herrscher Nuri Said), die von der internationalen, zionistisch-gelenkten Denunziationskampagne gedrängt wurden und die ein unmittelbar finanzielles Interesse an der Vertreibung der irakischen Jüdinnen und Juden hatten. Eingezwängt in den Schraubstock der irakischen Regierungsarbeit und der zionistischen Zusammenarbeit, geriet die Mizrachi-Community in Panik und war wirklich gezwungen zu gehen. Das, was seine Befürworter selbst »grausamen Zionismus« nannten – die Idee, dass die Zionisten gewalttätige Mittel ergreifen mussten, um die Jüdinnen/Juden vom Exil zu lösen – hatte seine Ziele erreicht.

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Renee Dangoor, Miss Baghdad 1947. Foto aus dem Film "Remember Baghdad".

Der Prozess, der die Palästinenser*innen ihres Eigentums, ihres Landes und ihrer politischen Rechte beraubt hat, war verbunden mit dem Prozess, der die Mizrachim ihres Eigentums, ihres Landes und ihres Verwurzelung in den arabischen Ländern (und, in Israel selbst, ihrer Geschichte und ihrer Kultur) beraubte. Dieser allumfassende Prozess wurde in Israels diplomatischen Verlautbarungen zynischer Weise als eine Art »spontaner Bevölkerungsaustausch« idealisiert und als Rechtfertigung für die Vertreibung der Palästinenser*innen instrumentalisiert. Aber diese Symmetrie ist fiktiv, denn die so genannte »Rückkehr aus dem Exil« der arabischen Jüdinnen und Juden war weit davon entfernt, spontan zu sein, und auf keinen Fall kann sie mit Lage der Palästinenser*innen gleichgesetzt werden, die aus ihrem Heimatland exiliert wurden und die dahin zurückkehren wollen. In Israel selbst erlitten die Mizrachim, als die Palästinenser*innen gezwungen wurden zu gehen, ein zusätzliches Trauma, eine Art Umkehrbild der palästinensischen Erfahrung. Die verwundbaren Neueinwandernden wurden von arroganten Beamten herumkommandiert, die sie »Menschenstaub« nannten; sie wurden zusammengedrängt in Ma’aborot (Übergangslager), die hastig aus Wellblech zusammengebaut wurden. Vielen wurden ihre »unaussprechlichen« arabischen, persischen und türkischen Namen genommen, stattdessen wurden sie von Gott-ähnlichen israelischen Bürokraten mit »jüdischen« Namen ausgestattet. Hier begann dieser Prozess, mit dem jahrtausendalter Stolz und kollektives Selbstvertrauen und Kreativität zerstört wurden. Dies war eine Art von Mizrachi-»Middle Passage«[29], bei der die anscheinend freiwillige »Rückkehr aus dem Exil« eine subtile Serie von Zwängen maskierte. Aber während es den Palästinenser*innen zugestanden wurde, aus der Nostalgie des Exils heraus einen kollektiven Kampfgeist zu pflegen (sei es mit einem israelischen, syrischen, kuwaitischen Pass oder auf der Basis eines Laissez-passer), wurden Mizrachim durch ihre ausweglose Situation gezwungen, ihre gemeinschaftliche Nostalgie zu unterdrücken. Die allgegenwärtige Vorstellung von »einem Volk«, vereint im alten Heimatland, verbietet jegliche positive Erinnerung an ein Leben vor dem Staat Israel.

»Hebräische Arbeit« Mythos und Realität

Das zionistische »Einsammeln aus allen vier Ecken der Erde« war nie das wohltätige Unternehmen, als das es vom offiziellen Diskurs dargestellt wird. Von den frühen Tagen des Zionismus an, wurden Mizrachim als Quelle billiger Arbeit angesehen, die dazu gebracht werden musste, nach Palästina zu emigrieren. Die ökonomische Struktur, die Mizrachim in Israel unterdrückt, wurde schon in den frühen Tagen des Jischuw (der vorstaatlichen zionistischen Ansiedlung in Palästina) etabliert. Zu den wegweisenden Prinzipien des führenden sozialistischen Zionismus gehörten z.B. die Doppelbegriffe Awoda iwrit (hebräische Arbeit) und Awoda atsemit (eigene Arbeit), die bedeuteten, dass eine Person und eine Gemeinschaft von der eigenen und nicht von fremder Arbeit leben sollten, eine Idee, deren Wurzeln auf die Haskala oder die hebräische Aufklärung des 18. Jahrhunderts zurückgeht. Viele jüdische Denker, Schriftsteller und Dichter wie Mapu, Brenner, Borochov, Gordon und Katzenelson betonten die Notwendigkeit, Jüdinnen/Juden durch »produktive Arbeit«, vor allem landwirtschaftliche Arbeit, umzuwandeln. Derartige Denker forderten Awoda iwrit als eine notwendige Voraussetzung für jüdische Genesung. Die Politik und Praxis der Awoda iwrit hat das historisch positive Selbstbild der hebräischen Pioniere und später der Israelis als nichtkoloniales Unternehmen, das, anders als das koloniale Europa, nicht die »Eingeborenen« ausgebeutet hat und das deshalb als in seinen Ansprüchen moralisch höher stehend angesehen wurde, stark beeinflusst.

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Jüdische Demonstrant*innen fordern die Einstelllung jüdischer Arbeiter*innen. Orangenplantage in Kfar Saba, 1927. Foto: GPO

In seiner aktuellen historischen Umsetzung hatte Awoda iwrit allerdings tragische Auswirkungen und erzeugte politische Spannungen nicht nur zwischen Araber*innen und Jüdinnen/Juden, sondern auch zwischen Mizrachim und Aschkenasim und auch zwischen Mizrachim und Palästinenser*innen. Zuerst versuchten die europäisch-jüdischen Siedler*innen, mit Araber*innen um Arbeit bei schon vorher ansässigen jüdischen Arbeitgebern zu konkurrieren; »hebräische Arbeit« bedeutete somit in der Realität den Boykott arabischer Arbeit. Die Forderungen der Einwandernden nach relativ hohen Löhnen schloss dann dennoch ihre Beschäftigung aus und führte folglich zu einer Auswanderung in hohen Ausmaß. Zu einer Zeit, als sich selbst die ärmsten russischen Jüdinnen und Juden auf den Weg nach Nord- wie Südamerika machten, war es schwer, europäische Jüdinnen/Juden zu überzeugen, nach Palästina zu kommen. Erst nach dem Scheitern der aschkenasischen Immigration beschlossen zionistische Einrichtungen, Mizrachim ins Land zu bringen. Ya’akov Tehon vom Eretz Israel Büro schrieb 1908 über dieses Problem »hebräischer Arbeiter«. Nach einer eingehenden Schilderung der ökonomischen und psychologischen Hindernisse bezüglich des Zieles Awoda iwrit und der Gefahren, die in der massenhaften Beschäftigung von Araber*innen liegen, schlägt er, zusammen mit anderen offiziellen Zionisten, die Einfuhr von Mizrachim vor, um die arabischen Arbeiter*innen in der Landwirtschaft zu ersetzen«. Da »es zweifelhaft ist, ob die aschkenasischen Jüdinnen/Juden für eine andere Arbeit als die in der Stadt geeignet sind«, so argumentiert er, »gibt es einen Platz für die Juden des Orients, besonders für die Jemeniten und Perser, im Bereich der Landwirtschaft«. »Wie die Araber«, so fährt Tehon fort, sind »sie mit Wenigem zufrieden«, und »in diesem Sinne können sie mit diesen konkurrieren«.[30] Ähnlich argumentiert Shmuel Yavne in seinem 1910 im HaPo‘el HaTsa‘ir (Der junge Arbeiter, das offizielle Organ der Zionistischen Arbeiterpartei in Eretz Israel, später Teil der Arbeiterpartei) veröffentlichten zweiteiligen Artikel mit dem Titel »Die Wiedergeburt der Arbeit und die Juden des Orients«, in dem er für eine orientalische jüdische Lösung für das »Problem« der arabischen Arbeiter*innen plädiert. Die Zeitung HaTswi gab dieser zunehmend verbreiteten Haltung wie folgt Ausdruck: »Dies ist der einfache, natürliche Arbeiter, der fähig ist, jegliche Art von Arbeit zu verrichten, ohne Schamgefühl, ohne Philosophie und auch ohne Poesie. Und Herr Marx ist natürlich weder in seiner Tasche noch in seinen Gedanken. Ich behaupte nicht, dass das jemenitische Element in seinem aktuellen Zustand verharren soll, in seinem barbarischen, wilden gegenwärtigen Zustand [...] der Jemenite von heute befindet sich auf demselben rückständigen Niveau wie die Fellachen [...] sie können den Platz der Araber einnehmen.«[31]

Zionistische Historiker*innen haben diese kolonialistischen Mythen wiederverwendet und sowohl auf die Araber*innen als auch auf die arabischen Jüdinnen und Juden angewandt, um die Klasse zu rechtfertigen, der die Mizrachim zugewiesen wurden. Jemenitische Arbeiter*innen wurden als »lediglich Arbeiter« dargestellt, als sozial »urzeitliche Materie«, aschkenasische Arbeiter*innen hingegen als »kreativ« und »idealistisch, dazu fähig, sich einem Ideal hinzugeben, neue Formen und neuen Lebensinhalt zu schaffen«.[32]

Von den europäischen Zionisten als fähig angesehen, mit den Araber*innen zu konkurrieren, aber renitent gegenüber höheren sozialistischen und nationalistischen Idealen, schienen die Mizrachim ideale importierte Arbeitskräfte zu sein. So kam es, dass das Konzept »geborener Arbeiter mit minimalen Bedürfnissen«, von Gestalten wie Ben Gurion und Arthur Rupin benutzt, eine wichtige ideologische Rolle gespielt hat, ein Konzept, das unterschwellig mit der Hautfarbe verknüpft war; um Rupin zu zitieren: »In ihnen [jemenitischen Juden] ist der Hauch arabischen Blutes erkennbar, und sie haben eine sehr dunkle Farbe.«[33] Die Mizrachim boten zudem den zusätzlichen Vorteil, im Allgemeinen osmanische Untertanen zu sein, und sie konnten somit, anders als die meisten Aschkenasim, ohne legale Schwierigkeiten ins Land einreisen, was teilweise der jüdischen (Mizrachi) Repräsentation im osmanischen Parlament geschuldet war.[34] Verleitet von der Idee, »Juden in der Gestalt von Arabern« zu rekrutieren, einigten sich zionistische Strategen auf die »Mizrachi-Option«. Das blanke ökonomisch-politische Interesse, das hinter diesem selektiven »Einsammeln« stand, ist deutlich erkennbar im Brief des Gesandten Yavn’eli, den er aus dem Jemen schrieb und in welchem er seine Absicht darlegt, nur die »jungen und gesunden Leute« für die Immigration auszuwählen.[35] Seine Berichte über potentielle jemenitische Arbeiter*innen gehen detailliert auf die körperlichen Charakteristika der verschiedenen jemenitischen regionalen Gruppen ein, in dem er z.B. die Jüdinnen und Juden von Dal’a als »gesund« mit »kräftigen Beinen« beschreibt, im Gegensatz zu den Jüdinnen und Juden von Ka‘taba mit ihren »eingefallenen Gesichtern und faltigen Händen«.[36] Diese Politik einer quasi-eugenischen Selektion wurde in den 1950ern in Marokko wiederholt, wo junge Männer auf der Basis körperlicher und gymnastischer Test für die Alija[37] ausgewählt wurden.

Indem sie die Mizrachim häufig über die »Realitäten im Land wo Milch und Honig fließen« täuschten, haben zionistische Emissionäre vor dem Ersten Weltkrieg die Einwanderung von über 10.000 Mizrachim (überwiegend Jemeniten) bewerkstelligt. Sie wurden hauptsächlich als landwirtschaftliche Tagelöhner unter extrem harten Bedingungen eingesetzt, an die sie, trotz zionistischer Mythologie, eindeutig nicht gewohnt waren. Jemenitische Familien wurden in Ställen, auf Weiden, in fensterlosen Kellern – für die sie zu zahlen hatten – zusammengepfercht, oder sie mussten einfach auf den Feldern leben. Unhygienische Bedingungen und Mangelernährung verursachten weit verbreitete Krankheiten und Todesfälle, vor allem unter den Kindern. Die Arbeitgeber der Zionist Association (Zionistischen Vereinigung) und die aschkenasischen Grundbesitzer und ihre Aufseher behandelten die jemenitischen Jüdinnen/Juden brutal, manchmal missbrauchten sie auch die Frauen und die Kinder, die täglich 10 Stunden und mehr arbeiteten.[38] Die ethnische Teilung der Arbeit hatte in diesem frühen Stadium des Zionismus, auch eine geschlechtliche Teilung der Arbeit zur Folge. Tehon schrieb 1907 über die Vorteile, die es hat, wenn jemenitische Familien permanent in den Siedlungen leben: «...dann (können wir) auch Frauen und Mädchen anstelle der arabischen Frauen, die nun für hohe Löhne als Bedienstete in fast jeder Siedlerfamilie arbeiten, in den Haushalten arbeiten lassen.«[39] Tatsächlich konnten die Frauen und Mädchen, die »Glück hatten«, als Dienstmädchen arbeiten, die anderen blieben auf den Feldern. Wirtschaftliche und politische Ausbeutung gingen Hand in Hand mit dem üblichen europäischen Gefühl von Überlegenheit. Jegliche Behandlung der Mizrachim wurde als legitim angesehen, da sie, so die Annahme, bar jeglicher Kultur, Geschichte oder materieller Leistungen waren. Mizrachim wurden auch von den sozialen Wohltätigkeiten ausgenommen, die die europäischen Arbeiter*innen erhielten.[40] Der Arbeiter-Zionismus verhinderte, über die Histadrut, dass die Jemeniten Land besitzen oder sich Kooperativen anschließen konnten, und beschränkte sie somit darauf, Lohnempfänger zu sein. Wie am Beispiel der arabischen Arbeiter*innen deutlich wird, beinhaltete die dominierende sozialistische« Ideologie innerhalb des Zionismus keine Garantie gegen Eurozentrismus. Wie Palästina als leeres Land dargestellt wurde, das durch Jüdische Arbeit umgewandelt werden müsse, so stellten die Gründungsväter die Mizrachim als passive Gefäße dar, die durch den Prometheischen Zionismus geformt werden müssten.

Gleichzeitig waren die europäischen Zionisten ganz und gar nicht von der Vorstellung begeistert, dass die Siedlungen in Palästina durch eine Gabe von Mizrachim »beschmutzt« werden würden. Gerade diese Idee wurde auf dem ersten Zionistenkongress abgelehnt.[41] In ihren Texten und auf ihren Kongressen haben die europäischen Zionisten ihre Bemerkungen durchgängig an die aschkenasischen Jüdinnen/Juden gerichtet und an die Kolonialmächte, die möglicherweise Unterstützung für die nationale Heimstätte geben würden; die visionären Träume eines zionistischen jüdischen Staates waren nicht für die Mizrachim gedacht. Aber die tatsächliche Realisierung des zionistischen Projekts in Palästina mit seiner begleitenden aggressiven Haltung gegen all die dort ansässigen Völker, brachte die Möglichkeit der Ausbeutung der Mizrachim als Teil einer ökonomischen und politischen Grundlage mit sich. Die Strategie, eine jüdische Mehrheit in Palästina zu fördern, um eine jüdische nationale Heimstätte zu schaffen, brachte zuerst den Erwerb und später die Enteignung arabischen Landes mit sich. Diese Politik, de facto eine jüdische Okkupation des arabischen Landes zu vollziehen, war eines der grundlegenden Elemente des zionistischen Anspruchs in Palästina und wurde besonders von dem Zionut Ma’asit (»Praktischen Zionismus«) bevorzugt. Einige Zionist*innen fürchteten, dass arabische Arbeiter*innen auf jüdischem Land eines Tages erklären könnten, dass »das Land denen gehört, die es bearbeiten – daher der Bedarf an jüdischen Arbeiter*innen. Diese verzerrte Version von Awoda iwrit erzeugte eine langfristige Konkurrenz zwischen arabischen Arbeiter*innen und der Hauptgruppe der jüdischen Arbeiter*innen (Mizrachim), die nun auf den Status eine Subproletariats reduziert wurde.

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Arbeitslose Arbeiter*innen aus Dimona, einer "Entwicklungsstadt" im Negev demonstrieren vor der Knesset. (auf dem Schild steht: "Sind wir Bügrer dritter Klasse?")1988

Erst nach dem Scheitern einer europäischen Einwanderung – selbst in der Nach-Holocaust-Ära zogen die meisten europäischen Jüdinnen und Juden es vor, in andere Länder auszuwandern – beschloss das zionistische Establishment, Mizrachi-Einwandernden in großer Zahl ins Land zu bringen. Die europäisch-zionistischen Rettungsphantasien bezüglich der Jüdinnen/Juden des Orient bedeuteten in der Summe, die Notwendigkeit, sich selbst vor einem möglichen ökonomischen und politischen Kollaps zu retten. Ebenso zeigten die zionistischen Offiziellen in den 1950ern weiterhin eine Ambivalenz gegenüber des »Massenimports« von Mizrachim. Aber erneut übten die demographischen und ökonomischen Notwendigkeiten – das Land mit Jüdinnen/Juden zu besiedeln, die Grenzen zu sichern, Arbeiter*innen zum Arbeiten und Soldaten zum Kämpfen zu haben – Druck auf die europäischen Zionisten aus. Vor diesem Hintergrund ist es aufschlussreich, die bereinigten Versionen zu lesen, die von denen herausgegeben wurden, die selbst direkt an der Ausbeutung der Mizrachi-Arbeit beteiligt waren. Yavne’elis berühmte Schlichut (zionistische Gesandtschaft, die für die Alija warb) in den Jemen ist z.B. in zionistischen Texten immer idealisiert worden. Die Kluft zwischen dem internen und dem eher öffentlichen Diskurs ist besonders auffallend im Falle von Yavne’eli selbst, dessen Briefe an die zionistischen Institutionen stets die Suche nach billiger Arbeitskraft betonen, der aber in seinen Erinnerungen seine Tätigkeiten in einer quasi-religiösen Sprache darstellt, als ein Überbringen »der Kunde vom Lande Israel, der guten Kunde von Wiedergeburt, vom Land und von Arbeit zu unseren Brüder Bnei-Israel (Söhne Israels), weit weg im Lande Jemen«.[42]

Die Dialektik der Abhängigkeit

Diese Probleme, die es schon in embryonaler Form in der Vor-Staat-Ära gab, kamen nach der Errichtung Israels zu ihrer bitteren »Erfüllung«, doch nun wurden sie mit einem klügeren Paket von Rationalität und Idealisierung erklärt. Israels schnelle ökonomische Entwicklung in den 1950ern und 1960ern wurde auf der Basis einer systematisch ungleichen Verteilung von Vorteilen erlangt. Die sozioökonomische Struktur wurde im Widerspruch zu den egalitären Mythen, die Israels Selbstdarstellung bis zum letzten Jahrzehnt charakterisierten, aufgebaut. Die diskriminierenden Entscheidungen der offiziellen israelischen Stellen bezüglich der Mizrachim begannen schon vor deren Ankunft in Israel, und sie wurden ganz bewusst gefällt, aufgrund der Annahme, dass die Aschkenasim, als das selbsterklärte »Salz der Erde«, bessere Konditionen und besondere Privilegien« verdienten.[43]

Anders als aschkenasische Immigrant*innen, wurden die Mizrachim schon in den Lagern, die von den Zionisten in ihren Herkunftsländern errichtet wurden, und auch während des Transits unmenschlich behandelt. Ein Bericht der Jewish Agency über ein Lager in Algier spricht von einer Situation, in der »mehr als 50 Personen in einem Raum von vier oder fünf Quadratmetern lebten« [sic!].[44] Ein Arzt, der in Marseille in einem Transitlager für nordafrikanische jüdische Immigrant*innen arbeitete, notierte, dass, als Folge schlechter Behausung und eines kürzlichen Nahrungsmittelrückgangs, Kinder gestorben sind, und er fügte hinzu: »Ich (kann) nicht verstehen ... warum in allen europäischen Ländern die Einwandernde mit Kleidung versorgt werden, während die nordafrikanischen Einwandernde mit nichts versorgt werden.«[45] Als Informationen über die gegen die Mizrachim gerichtete Diskriminierung in Israel nach Nordafrika zurückflossen, nahm die Zahl der Einwanderungen ab. Manche verließen die Transitlager, um nach Marokko zurückzukehren, andere hingegen mussten, um einen Gesandten der Jewish Agency zu zitieren, »mit Gewalt aufs Schiff gebracht werden«.[46] Im Jemen endete die durch die Wüste führende Reise, die durch die unmenschlichen Verhältnisse in den zionistischen Transitlager noch verschlimmert wurde, in Hunger, Krankheiten und für viele im Tod, was letztlich einer brutalen Art von «natürlicher Selektion« gleichkam. Besorgt wegen der Last, sich um kranke Jemenit*innen kümmern zu müssen, wurde den Jewish-Agency-Mitarbeitern von ihrem Kollegen Jitzchak Rafa‘el (Nationalreligiöse Partei) versichert, dass »kein Anlass zu der Sorge besteht, dass eine große Anzahl chronisch Kranker ankommen werde, da diese etwa zwei Wochen zu Fuß laufen müssen. Die ernsthaft Kranken werden nicht gehen können.«[47]

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Krankenschwestern und jeminitische Mütter mit ihren Kindern im Ma'abara Rosh Ha'ayin 1949. Foto: GPO

Die europäisch-jüdische Verachtung für die östlich-jüdischen Leben und Empfindungen – zeitweise wurde den Mizrachim von aschkenasischen »Experten« unterstellt, dass der Tod für Mizrachim »etwas Alltägliches und Natürliches« sei – war ebenso offensichtlich wie die berüchtigten Fälle der »entführten Kinder des Jemen«.[48] Traumatisiert durch die Lebensrealität in Israel wurden einige Mizrachim, die meisten von ihnen Jemeniten, Beute eines Ringes skrupelloser Ärzte, Schwestern und Sozialarbeiter*innen, die etwa 600 jemenitische Babys zur Adoption für kinderlose aschkenasische Paare (manche von ihnen lebten außerhalb Israels) freigaben und den leiblichen Eltern erzählten, dass die Kinder gestorben seien. Die Verschwörung reichte so weit, dass für die adoptierten Kinder systematisch gefälschte Todesscheine ausgestellt wurden, und es wurde sichergestellt, dass über einige Jahrzehnte hinweg die Forderungen der Mizrachim nach Nachforschungen zum Schweigen gebracht und von Regierungsstellen manipuliert wurden.[49] Am 30. Juni 1986 organisierte das Public Committee for the Discovering of the Missing Yemenite Children eine große Protestdemonstration. Die Demonstration wurde, wie viele andere Proteste und Demonstrationen der Mizrachim, von den Medien nahezu komplett ignoriert. Einige Monate später produzierte das israelische Fernsehen einen Dokumentarfilm über das Thema, der das bürokratische Chaos dieser Phase für unglückliche »Gerüchte« verantwortlich machte und den Mythos aufrechterhielt, dass Mizrachi-Eltern schlecht sorgende Erzieher seien, mit wenig Verantwortungsgefühl ihren eigenen Kindern gegenüber.

Ethnische Diskriminierung gegenüber Mizrachim begann unmittelbar mit ihrer Ansiedlung. Von Beginn ihrer Ankunft in Israel an wurden die verschiedenen Mizrachi-Communities, trotz ihres ausdrücklichen Willens zusammenzubleiben, über das ganze Land verstreut. Familien wurden getrennt, alte Communities auseinandergerissen, und traditionelle Führer wurden aus ihrer Position gerissen. Orientalische Jüdinnen/Juden wurden zum größten Teil in ma’abarot (Übergangslager) angesiedelt, in entlegenen Dörfern, landwirtschaftlichen Siedlungen und in Stadtvierteln, von denen manche erst vor kurzem von Palästinenser*innen geräumt worden waren. Als diese Absorptionsunterkünfte erschöpft waren, schufen die Siedlungsbehörden »Ajarot Pituach« (»Entwicklungsstädte«), überwiegend in ländlichen Gegenden und Grenzgebieten, die dann, wie vorherzusehen, Ziele arabischer Angriffe wurden. Es war erklärte Politik, die »Grenzen zu stärken« nicht nur gegen arabische Militärangriffe, sondern auch gegen jegliche Versuche palästinensischer Flüchtlinge, in ihr Heimatland zurückzukehren. Obwohl die israelische Propaganda die besser geschützten aschkenasischen Kibbuzim für ihren Mut pries, an den Grenzen zu leben, waren sie faktisch aufgrund ihrer geringen Anzahl (ca. drei Prozent der jüdischen Bevölkerung, und gerade die Hälfte davon, wenn man nur die Grenzsiedlungen betrachtet) kaum geeignet, lange Grenzen zu sichern, während hingegen die Siedlungen der bei weitem zahlreicheren Mizrachim an den Grenzen eine gewisse Sicherheit gewährleisteten. Den Mizrachi-Grenzsiedlungen fehlte jedoch die starke Infrastruktur eines militärischen Schutzes, wie er den aschkenasischen Siedlungen zur Verfügung gestellt wurde, und Mizrachim bezahlten dies mitunter mit ihrem Leben. Die ethnische Segregation, die die israelischen Wohnverhältnisse charakterisiert, datiert ebenso aus dieser Zeit. Während Aschkenasim dazu neigen, in den wohlhabenderen nördlichen Zonen zu leben, sind Mizrachim in den weniger wohlhabenden südlichen Gegenden konzentriert. Trotz dieser Quasi-Segregation sind die beiden Communities grundsätzlich in einem Abhängigkeitsverhältnis miteinander verbunden, wobei die armen Wohnviertel den privilegierten Gegenden dienen – ein Verhältnis, das jenes zwischen den »sozialistischen« Kibbuzim und den benachbarten Entwicklungsstädten widerspiegelt.

In den Fällen, in denen Mizrachim in bereits bestehende Behausungen zogen – und in Israel bedeuten »bestehende Behausungen« »palästinensische Behausungen« -, endete dies für die Mizrachim oft in chaotischen Wohnverhältnissen, da die israelischen Behörden es in ihrer orientalistischen Haltung für normal hielten, viele Mizrachi-Familien zusammengedrängt im selben Haus unterzubringen, in der Annahme, sie seien an solche Verhältnisse »gewöhnt«. Diese armen Mizrachi-Wohnviertel wurden zudem systematisch benachteiligt, was infrastrukturelle Anforderungen, bildungspolitische und kulturelle Vorteile und politische Selbstrepräsentation betraf. Später, als manche dieser Wohnviertel einer städtischen Gentrifizierung (Prozess, bei dem in einem Wohngebiet eine statusniedrige Bevölkerung durch eine statushöhere Bevölkerung ausgetauscht wird, d. Übers.) im Wege standen, wurden die Mizrachim gegen ihren Willen und trotz gewalttätiger Proteste gezwungen, in andere – »moderne« – arme Wohnviertel zu ziehen. In Jaffa z.B. renovierten die Behörden nach dem Wegzug der Mizrachim die Häuser, die für ihre Mizrachi-Bewohner*innen zu renovieren sie sich geweigert hatten, und ermöglichten so die Umwandlung von Teilen des orientalischem Jaffa in ein touristisches »Künstlerviertel« mit Kunstgalerien. In jüngster Zeit hat die Mizrachi-Stadtviertel Musrara in Jerusalem eine ähnliche Entwicklung durchgemacht. Jetzt, wo das Viertel nicht mehr an die Grenze von vor dem Krieg von 1967 anschließt, haben die Behörden versucht, die Mizrachi-Einwohner*innen zu räumen und in Siedlungen in der Westbank anzusiedeln, erneut unter dem Vorwand, ihre materiellen Verhältnisse zu verbessern. Das Muster ist klar und systematisch. Die Gebiete, aus denen die Mizrachim vertrieben wurden, wurden bald das Ziel größerer Investitionen, die wiederum zu einem Zuzug von Aschkenasim führten. Seitdem erfreut die Elite sich daran, in einem »mediterranen« Ambiente zu leben, aber ohne die Unannehmlichkeiten einer Präsenz von Palästinenser*innen oder Mizrachim. Die neuen Mizrachi-Stadtviertel hingegen wurden zu verarmten Slums.

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Bahausungen in Jerucham, Negev Israel 1968. Foto: GPO

Als billige, mobile und manipulierbare Arbeitskräfte waren die Mizrachim unentbehrlich für die ökonomische Entwicklung des Staats Israel. Angesichts der Notwendigkeit, in den 1950ern massenhaft Wohnmöglichkeiten zu errichten, wurden die Mizrachim schlecht bezahlte Bauarbeiter. Die hohen Profite, die durch die billige Arbeitskraft erwirtschaftet wurden, führten zu einer rapiden Zunahme von Baufirmen, die von Aschkenasim geführt wurden oder ihnen gehörten. Beschäftigt vor allem im ungelernten Sektor der landwirtschaftlichen Produktion innerhalb großer staatlicher Projekte, stellten Mizrachim so einen Großteil der Arbeitskraft, um das Land zu besiedeln. Im Falle landwirtschaftlicher Siedlungen erhielten sie weniger und schlechteres Land als aschkenasische Siedlungen wie die Kibbuzim und weit weniger adäquate Produktionsmittel, was zu einer geringeren Produktion, geringerem Einkommen und allmählich zu einem ökonomischen Kollaps vieler Mizrachi-Siedlungen führte.[50] Nachdem die landwirtschaftliche Entwicklung und die Bauwirtschaft in den späten 1950ern und 1960ern einen Sättigungspunkt erreicht hatten, handelte die Regierung auf eine Industrialisierung des Landes hin, und Mizrachi-Arbeiter wurden erneut wichtig für Israels rapide Entwicklung. Ein Großteil der Mizrachim wurde in dieser Zeit zu einem industriellen Proletariat. (In den letzten Jahren bewegte sich der Monatslohn für Fließbandarbeiter*innen in Textilfabriken zwischen 150 und 200 US-Dollar und entsprach damit in etwa dem vieler Dritte-Welt-Arbeiter.)[51] Tatsächlich basierten Israels Bemühungen um ausländische (vor allem jüdische) Investitionen zum Teil auf der »Attraktivität« billiger lokaler Arbeit. Die niedrigen Löhne der Arbeiter*innen führten zu einer sich weitenden Kluft zwischen den höheren und geringeren Lohnklassen in der Industrie. Entwicklungsstädte, wichtig für die industrielle Produktion, wurden so faktisch zu »Unternehmensstädten«, in denen eine einzige Fabrik der größte einzelne Beschäftigungsgeber für eine ganze Stadt wurde, deren Zukunft folglich untrennbar mit der Zukunft dieses Unternehmens verbunden war.[52]

Während das System die Mizrachim an das zukunftslose, untere Ende der Skala verbannte, kletterten die Aschkenasim an die Spitze der sozialen Skala, indem sie sich gute Positionen in Management, Marketing, Bankwesen und technischen Berufen verschafften. Vor kurzem veröffentlichte Dokumente enthüllen, in welchem Ausmaß die Diskriminierung kalkulierte Politik war, die bewusst die europäischen Eingewanderte bevorzugte und dabei manchmal sogar die paradoxe Situationen schuf, dass gebildete Mizrachim ungelernte Arbeiter*innen wurden und weit weniger ausgebildete Aschkenasim hohe Verwaltungsposten erhielten.[53] Entgegen dem klassischen Grundsatz, dass Einwanderung mit dem Wunsch nach individueller, familiärer und gemeinschaftlicher Verbesserung verknüpft ist, stellte sich dieser Prozess für Mizrachim in Israel in weiten Teilen umgekehrt dar. Was für die aschkenasischen Eingewanderten aus Russland oder Polen eine soziale Alija (wörtlich »Aufstieg«) bedeutete, war für die Eingewanderten aus Irak oder Ägypten eine Jerida (ein »Abstieg«). Was für verfolgte aschkenasische Minderheiten eine gewisse Lösung und quasi die Rettung der Kultur war, bedeutete für die Mizrachim das komplette Leugnen ihres kulturellen Erbes, ein Identitätsverlust und eine soziale und ökonomische Degradierung.

Die Fassade des Egalitarismus

Diese diskriminierende Politik fand unter der Ägide der Arbeitspartei und ihrer Verbündeten statt, deren Herrschaft ein Geflecht von Institutionen umfasste, zu deren wichtigsten die Allgemeine Arbeitergewerkschaft Histadrut gehörte. Die Histadrut kontrolliert den landwirtschaftlichen Sektor, die Kibbuzim, und die größten industriellen Gewerkschaften. Mit ihren eigenen Industriebetrieben, Vermarktungskooperativen, Transportgesellschaften, Finanzeinrichtungen und ihrem Netzwerk im Sozialbereich übt sie eine immense Macht aus. (Z.B. könnte Solel Boneh, eine Histadrut-Baufirma, leicht private Bauherren von der Partei Likud ausbooten.) Als eine Karikatur von Handelsunion übt die Histadrut, trotz ihrer erklärten sozialistischen Ideologie, eine gewaltige Macht zugunsten der Elite aus, indem sie permanent Aschkenasim bei der Besetzung höherer Managementpositionen begünstigt und Mizrachim nur un- und angelernte Arbeiterjobs zubilligt. Letztere werden somit in einer unabgesicherten Position gehalten und befinden sich in ständiger Sorge um ihren Arbeitsplatz. Dieselben Verhältnisse in der Unterdrückungsstruktur herrschen, wo regionale Fabriken (sogar staatseigene regionale Fabriken) von den überwiegend aschkenasischen Kibbuzim geleitet werden, während die Arbeiter*innen selbst überwiegend Mizrachim und Palästinenser*innen sind. Die dominierenden Institutionen – oder treffender, die »sozialistisch«-zionistische Elite – haben auf diese Weise die Mizrachim wirklich in die Unterentwicklung gedrängt, und dies steht im Gegensatz zur aschkenasischen Leugnung derartiger Prozesse wie auch zu den Behauptungen, dass diese Prozesse unbewusst und ungeplant waren.

Der dominante sozialistisch-humanistische Diskurs in Israel versteckt diese negative Dialektik von Reichtum und Armut hinter einer mystifizierenden Fassade von Egalitarismus. Die Histadrut und die Arbeitspartei, die die Arbeiter*innen zu repräsentieren beanspruchen, monopolisieren die sozialistische Sprache. Ihre 1. Mai-Feiern, das Flattern der roten Fahnen neben der blau-weißen und ihre Reden im Namen der »Arbeiterklasse« maskieren die Tatsache, dass das Arbeitspartei-Netzwerk wirklich nur die Interessen der aschkenasische Elite vertritt, deren Mitglieder sich nichtsdestotrotz noch nostalgisch als Eretz Israel HaOwedet (Arbeitendes Land Israel) bezeichnen. Die Mizrachim und die Palästinenser*innen, die Mehrheit der Arbeiter*innen in Israel, werden von speziellen Histadrut-Abteilungen vertreten, die bezeichnenderweise »Orientalische Abteilung« bzw. die »Minderheiten-Abteilung« heißen (Die Histadrut beschäftigt sich selbstverständlich nicht mit der Ausbeutung der Arbeiter*innen der Westbank und des Gazastreifens). Die Manipulation syndikalistischer Sprache und die Verwendung sozialistischer Slogans hat so nur als Vorwand für Unterdrückung gedient. Als Konsequenz mussten sich militante Mizrachim mit einer Art tief sitzender Aversion gegen den Begriff »sozialistisch« auseinandersetzen, da die Mizrachim der Unterklasse den Begriff »sozialistisch« eher mit Unterdrückung als mit Befreiung assoziierten.

Obwohl der offizielle melioristische weltverbessernde Diskurs eine graduelle Verringerung der Kluft zwischen Mizrachim und Aschkenasim suggeriert, sind die Unterschiede heute eklatanter, als sie es noch vor zwei Generationen waren.[54] Das System reproduziert sich weiterhin, z.B. bei der unterschiedlichen Behandlung heutiger europäischer Immigranten im Vergleich zu alteingesessenen orientalischen Siedlern. Während der Lebensstandard von Mizrachim der zweiten Generation in armen Wohngegenden stagniert, werden neu angekommene russische Immigrant*innen (ausgenommen Mizrachim aus Georgien) von der Regierung in komfortablen Unterkünften in zentralen Gebieten untergebracht. (Ich untersuche hier nicht die Diskriminierung der äthiopischen Jüdinnen/Juden, die heute dieselbe Unterdrückung erfahren wie die Mizrachim in den 1950ern, ergänzt durch die zusätzliche Demütigung durch religiöse Schikanen.) Tatsächlich wurden die ethnischen Loyalitäten des Establishment hinsichtlich der Einwanderungspolitik besonders deutlich. Während es vorgab, eine allgemeine Alija und das Ende der Diaspora zu fördern, forcierte das Establishment – wegen seiner (unbenannten) Furcht vor einem demographischen Überhang der Mizrachim – energisch die Einwanderung sowjetischer Jüdinnen/Juden – von denen eine Mehrheit es vorziehen würde, in ein anderes Land zu gehen. Im Falle der äthiopischen Jüdinnen/Juden, die verzweifelt gehen wollten und deren Leben in Gefahr war, ließ es hingegen die Sache schleifen.

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" Nine Out of Four Hundred (The West and the Rest)" Titel der Aktion vom Künstler Meir Gal. Neun von Vierhundert Seiten im offiziellen Geschichtsbuch für Schulen behandeln die Geschichte der Mizrachim, 1997.

Das Großteils getrennte und ungleiche Bildungssystem in Israel reproduziert ebenfalls die ethnische Teilung der Arbeit durch ein System, welches die aschkenasischen Schüler*innen durchgehend auf prestigeträchtige Verwaltungstätigkeiten vorbereitet, die eine strikte akademische Ausbildung erfordern, während hingegen die Mizrachi-Schüler*innen auf Arbeiter-Jobs mit geringem Status ausgerichtet werden. Aschkenasim sind doppelt so oft in Verwaltungspositionen vertreten. Die Schulen in aschkenasischen Wohnvierteln haben bessere Ausstattungen, bessere Lehrkräfte und einen höheren Status. Aschkenasim haben im Schnitt eine um drei Jahre längere Schulbildung als Mizrachim. Sie besuchen 2,4 mal häufiger Oberschulen als Mizrachim, und ihr Anteil an den Universitäten ist fünfmal so hoch.[55] Außerdem besuchen die meisten Mizrachi-Kinder Schuleinrichtungen, die vom Bildungsministerium als Schulen für die »te‘unej tipu‘ach« (wörtlich: »die Bildung oder Erziehung benötigen« oder »die kulturell verarmt sind«) geschaffen wurden, eine Zielsetzung, die impliziert, dass kulturelle Unterschiede mit Minderwertigkeit gleichgesetzt wird. Das Erziehungssystem funktioniert, so Shlomo Swirski, als »ein riesiger Abstempelmechanismus, der unter anderem bewirkt, dass die Leistungen und die Erwartungen orientalischer Kinder und ihrer Eltern gesenkt werden«.[56]

Auf welchem Gebiet auch immer – Einwanderungspolitik, städtische Entwicklung, Arbeitspolitik, Regierungssubventionen – wir finden immer wieder dieselben Muster der Diskriminierung, die selbst die geringsten Details des täglichen Lebens berühren. Z.B. subventioniert die Regierung bestimmte Hauptgrundnahrungsmittel, unter anderem Brot europäischer Art. Pita, als Nahrungsmittel von Mizrachim und Palästinenser*innen bevorzugt, wird hingegen nicht subventioniert. Diese diskriminierenden Praktiken, die in den frühesten Perioden des Zionismus ausgebildet wurden, werden jeden Tag auf allen Gebieten reproduziert, und sie reichen in die letzten Fugen des israelischen Sozialsystems. Als Folge davon sind die Mizrachim, trotz ihres Mehrheitsstatus, in den nationalen Zentren der Macht unterrepräsentiert: in der Regierung, in der Knesset, in den höheren Rängen des Militärs, im diplomatischen Corps, in den Medien, im akademischen Leben. Und sie sind überrepräsentiert an den Rändern der Gesellschaft und in den stigmatisierten Regionen des Berufs– und Gesellschaftslebens.

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"6 von 511 ein Tribute zu Meir Gal". Ortal Ben Dayan hält die sechs Seiten die Mizrachi Künstler im Kunstkatalog "100 Jahre israelische Kunst" von Igal Zalmona repräsentieren. 2011.

Die dominierenden soziologischen Abhandlungen über Israels »ethnisches Problem« weisen den minderen Status der orientalischen Jüdinnen und Juden nicht der Klassennatur der israelischen Gesellschaft zu, sondern eher ihrer Herkunft aus »vormodernen«, »kulturell rückwärtsgewandten« Gesellschaften. In starker Anlehnung an das intellektuelle Arsenal amerikanischer »funktionalistischer« Studien zu Entwicklung und Modernisierung haben Shumuel Eisenstadt und seine vielen sozialwissenschaftlichen Schüler*innen der ideologischen Täuschung die Aura wissenschaftlicher Rationalität verliehen. Die einflussreiche Rolle dieser »Modernisierungs«-Theorie beruht darauf, dass sie perfekt zu den Bedürfnissen des Establishments passt. Eisenstadt leiht vom amerikanischen »Strukturellen Funktionalismus« (Parsons) seine teleologischen Sicht eines »Fortschritts«, der uns von der »traditionellen« Gesellschaft mit ihren weniger komplexen sozialen Strukturen zu »Modernisierung« und »Entwicklung« bringt. Da das israelische Sozialgefüge als etwas angesehen wurde, das kollektiv vor der Staatsgründung im Jischuw geschaffen wurde, wurde von den Einwandernden angenommen, dass sie sich von selbst in die bereits bestehende Dynamik einer modernen Gesellschaft, die auf dem westlichen Modell beruht, integrieren. Die zugrunde liegende Prämisse des Zionismus, das »Einsammeln der Exilierten«, wurde so in den soziologischen Jargon des Strukturellen Funktionalismus übersetzt. Die »Absorption« (Klita) der Mizrachi-Eingewanderten in die israelische Gesellschaft war verbunden mit der Akzeptanz des bereits vorhandenen Konsens der »Gastgeber«-Gesellschaft und der Aufgabe »vor-moderner« Traditionen. Während europäische Eingewanderten lediglich »absorbiert« werden mussten, war es für die Eingewanderten aus Afrika und Asien »notwendig«, sich einem Prozess der »Absorption durch Modernisierung« zu unterziehen. Der Eisenstadt-Tradition folgend, mussten die orientalischen Jüdinnen/Juden zuerst einen Prozess der »Desozialisierung« durchlaufen – das heißt, der Auslöschung ihres kulturellen Erbes – und dann der »Resozialisierung« – das heißt, der Assimilation an den aschkenasischen Lebensstil. So wurde kultureller Unterschied zur Ursache für soziales Ungleichgewicht erklärt (Diese Theorie hätte Schwierigkeiten zu erklären, warum andere Mizrachim, die aus denselben »vor-moderne« Ländern kamen, manchmal sogar aus denselben Familien, in solch »post-modernen« Metropolen wie Paris, London, New York oder Montreal keinem besonderen sozialen Ungleichgewicht ausgesetzt waren). Manchmal wird das Opfer sogar angeklagt, dass es das unterdrückende System anprangert. Der Soziologe Yosef Ben David hierzu: »In derartigen Fällen werden ethnische Schwierigkeiten die Einwandererkrise noch verschlimmern [...] Der Einwanderer wird dazu neigen, das Scheitern zu rationalisieren, und die Schuld offen oder implizit auf ethnische Diskriminierung schieben.«[57]

Die Aschkenasim haben sich jedoch hinter dem nivellierenden Begriff israelische Gesellschaft« versteckt, eine Einheit, die vorgibt, die Werte der Modernität, Industrie, Wissenschaften und Demokratie zu verkörpern. Wie Swirski ausführt, täuscht dieser Prozess über den aktuellen historischen Prozess hinweg, indem er eine Anzahl von Fakten verdeckt: erstens, dass die Aschkenasim, genau wie die Mizrachim, aus Ländern an der Peripherie der kapitalistischen Welt gekommen sind, Ländern, die fast gleichzeitig mit den Herkunftsländern der Mizrachim in den Prozess der Industrialisierung und der technologisch-wissenschaftlichen Entwicklung eingetreten sind. Zweitens, dass die periphere Jischuw Gesellschaft ebenfalls keinen Entwicklungsstand erreicht hatte, der dem von Gesellschaften im »Zentrum« vergleichbar gewesen wäre. Und Drittens, dass die aschkenasische »Moderne« nur dank der Arbeitskraft, die durch die massenhafte orientalische Einwanderung zur Verfügung gestellt wurde, ermöglicht wurde.[58] Die ethnische Basis dieses Prozesses wird oft selbst von marxistischen Analytikern unterschlagen, die verallgemeinernd von jüdischen Arbeitern« sprechen, eine ebenso grobe Vereinfachung, als wenn man von der Ausbeutung »amerikanischer« Arbeiter*innen auf den Baumwollplantagen der Südstaaten sprechen würde.

Die harten Proben der Zivilität[59]

Für die europäische Hegemonie in Israel stellen die orientalischen Jüdinnen/Juden ganz eindeutig eine problematische Gemeinschaft dar. Obwohl der Zionismus die Mizrachim und die Aschkenasim in der einzigen Kategorie »ein Volk« zusammenfasst, bedroht zur selben Zeit das orientalische »Anderssein« des Mizrachi das europäische Ideal-Ich, das Israel als Verlängerung von Europa im Nahen Osten, aber nicht als des Nahen Ostens phantasiert. Ben Gurion, erinnern wir uns daran, formulierte seine visionäre Utopie von Israel als das einer «Schweiz im Nahen Osten«, wohingegen Herzl nach einem westlichen kapitalistisch-demokratischen Miniaturstaat rief, der durch die Gnade imperialer Schutzmächte wie England oder sogar Deutschland ermöglicht werden sollte. Das Leitmotiv zionistischer Texte ist der Schrei, eine »normale zivilisierte Nation« zu schaffen, ohne die unzähligen »Beeinträchtigungen« und Formen von Paria-Seins, wie sie für die Diaspora typisch sind. (Zionistische Abscheu gegenüber Schtetl-»Abnormitäten« erinnert, wie manche Kommentatoren ausgeführt haben, oft auf seltsame Weise an den eigentlichen Antisemitismus, den sie doch, so die Annahme, verabscheut.) Die Ostjüdinnen/juden, über Jahrhunderte hinweg von Europa marginalisiert, verwirklichten ihren Wunsch, zu Europa zu gehören, ironischerweise im Nahen Osten, dieses Mal auf dem Rücken ihrer eigenen »Ostjuden«, den orientalischen Jüdinnen und Juden. Nachdem sie ihr »Martyrium der Zivilität« als »Schwarze« Europas durchschritten hatten, zwangen sie nun wiederum ihren eigenen Schwarzen einen Zivilisationstest auf.[60]

Das Paradox des säkularen Zionismus ist, eine Diaspora beenden zu wollen, unter der die Jüdinnen/Juden im Westen stark gelitten haben, und während der sie ihr Herz vorgeblich im Osten hatten – ein Gefühl, das sich in der fast täglich rezitierten Phrase »nächstes Jahr in Jerusalem« ausdrückt – um dann einen Staat zu gründen, dessen ideologische und geopolitische Ausrichtung fast ausschließlich am Westen orientiert ist. Im selben Kontext müssen wir verstehen, dass die Mizrachim nicht nur als Leute aus dem Nahen Osten unterdrückt werden, sondern auch als Verkörperung dessen, was, in der Sabra[61]-zionistischen Auffassung, fälschlicherweise als Erinnerung an ein »minderwertiges« Schtetl-Jüdisch-Sein angesehen wurde. (Diese Auffassung wurde zeitweise auch gegenüber aschkenasischen Neuankömmlingen geäußert.) Die Eingewanderten aus der Dritten Welt, und vor allem aus den arabisch-muslimischen Ländern, riefen »anti-jüdische« Gefühle in der säkular orientierten Sabra-Kultur hervor, sowohl wegen der implizit bedrohlichen Idee der Heterogenität jüdischer Kultur als auch wegen des unbequemen Amalgams von Jüdisch-Sein und angeblicher »Rückständigkeit«. Diese Kombination wurde als Übel angesehen, das ausradiert werden musste: Ein ideologischer Drang, der sich in verschiedenen Maßnahmen, die Mizrachim ihres kulturellen Erbes zu entledigen, äußerte: Religiösen Jemeniten wurden ihre Schläfenlocken rasiert, Kinder wurden praktisch in europäisch-zionistische Schulen gezwungen und so weiter. Die Offenheit gegenüber der westlichen Kultur muss hier innerhalb der Kontextes einer bedrohlichen Heteroglossie[62] verstanden werden, als eine gegen die Spuren der Schtetl-Kultur gerichtete Reaktion wie auch gegen eine projizierte Durchdringung durch die »fremden« orientalischen Jüdinnen/Juden. Die kulturelle Verschiedenheit der Mizrachim störte vor allem einen säkularen Zionismus, der für sich beanspruchte, ein einziges jüdisches Volk zu repräsentieren, das nicht nur auf einem gemeinsamen religiösen Hintergrund, sondern auch einer gemeinsamen Nationalität basiert. Die starken kulturellen und historischen Verbindungen, die die Mizrachim mit der arabischen/muslimischen Welt teilten und die in mancher Hinsicht stärker waren als jene, die sie mit den Aschkenasim teilten, bedrohten das Konzept einer homogenen Nation, das auf dem der europäischen nationalistischen Bewegungen beruhte.

Jene Mizrachim, die indessen unter die Kontrolle aschkenasischer religiöser Autoritäten gerieten, wurden verpflichtet, ihre Kinder in aschkenasische religiöse Schulen zu schicken, wo sie lernten, ihr Judentum in den »korrekten« aschkenasischen Formen zu praktizieren – mit jiddischem Akzent zu beten, die Normen der Liturgie einzuhalten, ebenso wie die Kleidungscodes, die die dunklen Farben eines längst vergangenen Polens bevorzugten. Dabei wurden einige orientalischen Jüdinnen/Juden in die orthodoxe Form gepresst. Das karikaturenhafte Porträtieren von Mizrachim als religiöse Fanatiker*innen – wenn auch nicht als Produkt eines falschen Glaubens – ist verbunden mit der eurozentrischen Verwirrung bezüglich der Begriffe Religiosität und Orthodoxie. Aber tatsächlich war dieser schmerzliche Riss zwischen der säkularen und orthodoxen Ausrichtung, die so charakteristisch für die europäisch-jüdische Erfahrung war, historisch gesehen ziemlich fremd für die Mizrachi-Kultur. Unter Mizrachim wurde das Jüdisch-Sein generell in einer Atmosphäre von Flexibilität und Toleranz gelebt und abstrakte Gesetze und eine rabbinische Hierarchie für wenig bedeutungsvoll erachtet. Bei Mizrachim ist es nicht unüblich, innerhalb einer Familie das Nebeneinander verschiedener Arten von Jüdisch-Sein zu finden, ohne dass diese Vielfalt Konflikte verursacht. In Israel trennt der Zusammenprall zwischen säkularen und orthodoxen Jüdinnen/Juden vor allem die Aschkenasim und weniger die Mizrachim, von denen sich die Mehrheit, seien sie religiös oder säkular, eher von der Rigidität beider Lager abgestoßen fühlt, genauso wie sie sehr wohl berücksichtigen, dass beide Lager sie unterdrückt haben, wenn auch auf unterschiedliche Art.

Als integraler Teil der Landschaft, Sprache, Kultur und Geschichte des Nahen Ostens waren die Mizrachim zwangsläufig denen nahe, die als allgemeiner Feind aller Jüdinnen und Juden angesehen wurden – den Araber*innen. Da es eine Umklammerung des Westens durch den Osten befürchtete, unterdrückte das Establishment die Nahöstlichkeit der Mizrachim als Teil eines Versuchs, die beiden Gruppen zu trennen und Feindschaft zwischen ihnen zu säen. Arabisch-Sein und Orientalisch-Sein waren logischerweise als Übel stigmatisiert, das ausgerissen werden musste. Für die arabischen Jüdinnen und Juden bedeutete die Existenz unter dem Zionismus eine tief greifende Schizophrenie, die störrischen Selbststolz mit einer aufgezwungenen Selbstverachtung vermischt, typische Produkte einer Situation kolonialer Zerrissenheit. Die ideologischen Dilemmata der Mizrachim rühren von diesen Widersprüchen her, die einer Situation innewohnen, in der sie gezwungen waren, Judaismus und Zionismus als Synonyme zu betrachten und Jüdisch-Sein und Arabischsein als Gegensätze (und dies zum ersten Mal in ihrer Geschichte), obwohl sie doch tatsächlich beides sind, arabisch und jüdisch, und historisch, materiell und emotional weniger in die zionistische Ideologie investiert haben als die Aschkenasim.

Auf diese Weise wurden Mizrachim in Israel dahin gebracht, sich für ihre dunkle olivfarbene Haut zu schämen, für ihre gutturale Sprache, für die sich windenden Vierteltöne ihrer Musik und selbst für die Traditionen ihrer Gastfreundschaft. Kinder, die verzweifelt versuchten, sich an die »Sabra«-Normen anzupassen, wurden dazu gebracht, sich ihrer Eltern und ihrer arabischen Herkunftsländer zu schämen. Manchmal führte die semitische Physiognomie der Mizrachim zu Situationen, in denen sie fälschlicherweise für Palästinenser*innen gehalten und deswegen verhaftet oder geschlagen wurden. Da Arabischsein nur zu Ablehnung führte, verinnerlichten viele Mizrachim die westliche Perspektive und wurden zu sich selbst hassenden Mizrachim. So gelang es dem Westen« nicht nur, den »Osten« zu repräsentieren, sondern, der Osten begann – in einem klassischen Spiel von kolonialer Spiegelung -, sich selbst durch den Zerrspiegel des Westens zu sehen. Wenn es stimmt, was Malcolm X gesagt hat, dass das schlimmste Verbrechen des Weißen Mannes die Tatsache sei, dass der Schwarze Mann sich selbst hasst, kann das israelische Establishment dazu Einiges sagen. Tatsächlich ist es so, dass Araber*innen-Hass, wenn er bei den orientalischen Jüdinnen/Juden auftritt, fast immer eine maskierte Art des Selbsthasses ist. Wie Untersuchungen von 1978 ergaben, nimmt der Respekt der Mizrachim für Araber*innen mit der eigenen Wertschätzung zu.[63] Die Feindseligkeit der Mizrachim gegenüber Araber*innen ist, soweit sie existiert, zu weiten Teilen »made in Israel«.[64]

Orientalischen Jüdinnen/Juden musste beigebracht werden, die Araber*innen und sich selbst als Andere zu sehen. Die Art des Selbsthasses, die manchmal die aschkenasischen Communities nach der Aufklärung charakterisierte, ist niemals Teil der Mizrachi-Existenz in der muslimischen Welt gewesen. Die Mizrachim mussten Selbsthass (in Bezug auf sich als Orientalen) erst von den Aschkenasim «lernen«, die wiederum Selbsthass mit den Maßstäben der Europäer »gelernt« haben. Auch hier sind wir wieder mit problematischen Gegensätzen konfrontiert, in diesem Fall mit den gegensätzlichen Begriffen Zionismus« und »Antisemitismus«. (Aber dieses Thema verdient eine eigene Behandlung.)

Die Dämonisierung der Mizrachim

Das Prinzip des »Teile-und-Herrsche« wurde, wie wir gesehen haben, erfolgreich auf die Beziehungen zwischen Mizrachim und Palästinenser*innen angewandt, indem die Mizrachim zu dem am besten erreichbaren Ziel für arabische Angriffe gemacht und das Ideal «hebräische Arbeit« deformiert wurde. Aber der tägliche Machtmechanismus in der israelischen Gesellschaft förderte auch konkreten ökonomischen Druck, der Spannungen zwischen den beiden Communities hervorrief. Diejenigen Mizrachim, die weiterhin die Mehrheit der jüdischen Arbeiter*innen stellen, stehen in einem ständigen Wettbewerb mit den Palästinenser*innen um Jobs und Löhne, eine Situation, die es der Elite erlaubt, beide Gruppen mehr oder weniger beliebig auszubeuten. Die beträchtlichen Regierungsausgaben für die Siedlungen in der Westbank veranlassen auch manche Mizrachim – mehr aus ökonomischen Gründen denn aus ideologischen Beweggründen, wie dies bei vielen Aschkenasim der Fall ist – in die Siedlungen zu ziehen und so Palästinenser*innen zu provozieren. Und schließlich tendieren Mizrachim und Palästinenser*innen in Israel wegen der Segregation zwischen beiden Gruppen dazu, Informationen übereinander nur über die aschkenasisch-dominierten Medien zu beziehen und kaum direkten Kontakt zu pflegen. So lernen die Mizrachim, Palästinenser*innen als Terroristen« zu sehen, während die Palästinenser*innen lernen, in den Mizrachim »Kahane-Fanatiker« zu sehen, eine Situation, die kaum gegenseitiges Verständnis und gegenseitige Anerkennung erleichtert.

Obwohl der liberale linke Diskurs in Israel in den letzten Jahren kleinere Schritte unternommen hat, die »palästinensische Entität« als solche anzuerkennen, klammert er das Mizrachi-Problem weiterhin als »internes soziales Problem«, das zu lösen ist, nachdem Frieden erreicht ist, völlig aus. So wie dieser Diskurs die historischen Ursprünge des palästinensischen Kampfes ausblendet und nostalgisch auf eine imaginäre »Vorsündenfall«-Vergangenheit eines »wunderschönen Israel« verweist, so blendet er auch die historischen Ursprünge der Verbitterung der Mizrachim aus und konstruiert dergestalt den Mythos von »Reaktionären«. Das eine Problem wird unter »politisch« und «ausländisch/fremd«, das andere unter »sozial« und »intern« eingeordnet. Die gegenseitigen Auswirkungen der beiden Probleme und ihr gemeinsames Verhältnis zu aschkenasischer Dominanz werden ignoriert. Tatsächlich stellt die Bewegung der Mizrachim als abstraktes Symbol für die stets aufgeschobene künftige Lösung der palästinensischen Frage eine unmittelbarere Bedrohung für die aschkenasischen Privilegien und ihren Status dar. Während das »palästinensische Problem« immer noch als unvermeidbarer Zusammenprall zweier Nationen angesehen werden kann, würde die Anerkennung der Ausbeutung und der Dekulturalisierung der Mizrachim in einem vermeintlich egalitären jüdischen Staat implizieren, das israelische System selbst zu beschuldigen, gegenüber allen Völkern des Orients ausgemacht repressiv zu sein.

Peace-Now-Führer wie General Mordechai Bar On führen den mangelnden Enthusiasmus der Mizrachim für Peace Now auf »starke rechte Tendenzen« und »emotionale Loyalität gegenüber der persönlichen Führerschaft von Menachem Begin« zurück, die symptomatisch sei für ihre »natürliche und traditionelle Neigung [...] einem charismatischen Führer zu folgen«, all das verbunden mit einem »tiefverwurzelten Misstrauen gegenüber den Arabern«.[65]

Der Mizrachi-Andere wird als unkritisch, instinktiv und, im Gleichklang mit den orientalisch-despotischen Traditionen, als leicht von patriarchalischen Despoten manipulierbar porträtiert. Die Mizrachim treten, wenn sie nicht gänzlich von der israelischen Linken ignoriert werden, nur als Sündenböcke für alles, was an Israel falsch ist, in Erscheinung: »Sie« haben das wunderschöne Israel zerstört; »Sie« haben Israel in einen rechtsgerichteten anti-demokratischen Staat umgewandelt; »Sie« unterstützen die Besatzung; »Sie« sind ein Hindernis auf dem Weg zum Frieden. Diese Vorurteile werden von israelischen »Linken« auf internationalen Konferenzen, Vorträgen und in Veröffentlichungen verbreitet. Diese verzerrte Darstellung von Mizrachim ist ein Weg, vor einer internationalen öffentlichen Meinung das Selbstbild des »Wir-mit-dem-liberalen-westlichen-Image« zu zelebrieren, und dies zu einer Zeit, da Israel unleugbar seine »progressive« Faszination und seinen in der Vergangenheit nicht hinterfragten Status verloren hat, während man in Israel selbst weiterhin die bequeme Position genießt, sich als integraler Teil des Establishments zu fühlen. Dieses oberflächliche Abstempeln der Mizrachim zum Sündenbock für eine Situation, die von den aschkenasischen Zionisten verursacht wurde, leugnet das Vorhandensein signifikanter pro-palästinensischer Aktivitäten von Mizrachim ebenso wie das Fehlen eines Zugangs zu den Medien für Mizrachim und die daraus folgende Unmöglichkeit, derartigen Anschuldigungen entgegenzuwirken. Diese werden jedoch von den Palästinenser*innen und der öffentlichen Meinung rund um die Welt ernstgenommen.

Die Dämonisierung der Mizrachim hat noch den weiteren Vorteil, dass die Protestierer der Elite in die narzisstische Pose der immer währenden Friedenssucher*innen gesetzt werden, die die Feindseligkeit der Regierung, des rechten Flügels, der Mizrachim und der aufsässigen Palästinenser*innen ertragen müssen. Das Märtyrertum dieser »Schießen-und-Weinen« [»shooting and crying«]-Vorzeige-Linken bringt fast nichts für den Frieden, aber es schafft die optische Illusion einer lebensfähigen oppositionellen Friedenskraft. Selbst die progressiven Kräfte im Friedenslager, die einen palästinensischen Staat an der Seite Israels unterstützen, geben selten die Idee eines jüdischen westlichen Staates auf, dessen Subtext unausweichlich die ethnische und klassenmäßige Unterdrückung der Mizrachim bedeutet. Innerhalb eines solchen Kontextes überrascht es kaum, dass die Mitglieder von Peace Now fast ausschließlich Aschkenasim sind und sich fast keine Mizrachim oder, wenn wir schon dabei sind, Palästinenser*innen beteiligen.

Die Feindseligkeit der Mizrachim gegenüber Peace Now wird, statt sie in Klassen- und ethnischen Begriffen zu diskutieren, von aschkenasischen Liberalen gerne so umdefiniert, dass sie den Mizrachim eine allgemeine Animosität gegenüber Araber*innen unterstellen. Diese Darstellung lässt eine Anzahl wichtiger Punkte außer Acht. Erstens ist Anti-Arabismus ein integraler Bestandteil der zionistischen Praxis und Ideologie; Mizrachim sollten nicht für etwas herhalten, was das aschkenasische Establishment selbst befördert hat. Zweitens stellen Aschkenasim die Führerschaft der rechtsgerichteten Parteien, und viele Aschkenasim stimmen für diese Parteien. (Umfragen während der Wahlen von 1981 haben ergeben, dass 36 Prozent der im Ausland geborenen Aschkenasim und 45 Prozent der in Israel geborenen Aschkenasim für den Likud gestimmt haben.[66] Mizrachim ihrerseits haben auch für die Arbeitspartei und andere liberale Parteien einschließlich der Kommunistischen Partei gestimmt.) Tatsächlich hat aber der relativ hohe Stimmenanteil der Mizrachim für den Likud fast nichts mit deren Politik gegenüber den Araber*innen zu tun. Es ist vielmehr ein minimaler und sogar falsch gewählter Ausdruck einer Mizrachi-Revolte gegen die jahrzehntelange Unterdrückung durch die Arbeitspartei. Da sich die Mizrachim nicht wirklich selbst innerhalb des israelischen politischen Systems repräsentieren können, wird die Stimmabgabe für die Opposition innerhalb der herrschenden Klasse zu einem Weg, um, wie einige militante Mizrachim es darstellen, »die Hyäne zu stärken, um den Bären zu schwächen«. Manche unabhängige linke Mizrachim sahen den Likud z.B. als »einen Unterschlupf für die Nacht«, in dem orientalische Jüdinnen/Juden eine temporäre Zuflucht finden könnten, während sie beginnen, eine schlagkräftige Mizrachi-Revolte zu formen. Der Unterschied zwischen Likud und Arbeitspartei in Bezug auf die Palästinenser*innen war auf jeden Fall keiner in der Praxis, sondern lediglich im Diskurs, der eine war aggressiv-nationalistisch, der andere humanistisch-liberal. Ähnlich ist der Unterschied zwischen den beiden Parteien in Bezug auf die Mizrachim weniger einer der Politik als ein Kontrast zwischen populistischen Appellen (Likud) und elitärer Herablassung (Arbeitspartei).

Von Kahane bis zu den Kommunisten, die Ideologien der israelischen Parteien – von der nicht-zionistischen religiösen Orthodoxie, die zurückdatiert auf die osteuropäisch antizionistische Opposition, über den religiösen Nationalismus, der die »Heiligkeit des Landes« in den Vordergrund stellt (eine religiöse Variante eines gängigen Themas europäischen Nationalismus) bis hin zu dem dominierenden säkular-humanistischen Zionismus, der auf Idealen der europäischen Aufklärung beruht – »übersetzen« die verschiedenen jüdisch-europäischen Dilemmas in ein politisches Register. Gegründet, geführt und kontrolliert von Aschkenasim, sind die Parteien der Kampfplatz, an dem verschiedene aschkenasische Gruppen um Machtanteile ringen. Innerhalb dieser Struktur gibt es wenig Raum für Mizrachim. Mit anderen Worten, die jüdisch-orientalische Mehrheit ist in einem jüdischen Staat, der zudem wieder und wieder irrtümlicherweise als die »einzige Demokratie im Nahen Osten« bezeichnet wird, marginalisiert worden. Die historischen Gründe für diese Marginalisierung sind komplex, und sie können hier kaum im Detail beschrieben werden, aber sie umfassen die folgenden: das historische Vermächtnis der aschkenasischen Dominanz der institutionalisierten Parteiapparate, die bereits vor der Massenankunft der Mizrachim errichtet wurde; die Trägheit einer hierarchischen Struktur, die wenig Raum lässt für größere Richtungsänderungen; die Delegitimierung der traditionellen Mizrachi-Führerschaft; objektiv harte Bedingungen in den 1950ern und 1960ern, die kaum Zeit und Kraft für politische und kommunale Reorganisierung ließen, sowie die Repression und das Auftreten von Mizrachi-Revolten.

Die politische Manipulation der Mizrachi-Immigrant*innen begann praktisch bei ihrer Ankunft und manchmal sogar schon davor, wenn nämlich israelische Parteirekruten bereits in den orientalischen Herkunftsländern um die Loyalität der Mizrachim konkurrierten. In Israel trafen die Einwandernden an den Flughäfen nicht nur auf Beamte, die für die Einreiseprozeduren verantwortlich waren, sondern auch auf Vertreter*innen der verschiedenen Parteien, die die Mizrachim gemäß dem bestehenden politischen Spektrum aussortierten. In den ma’abarot, und ebenso in palästinensischen Dörfern, kontrollierte die Regierung das Volk durch zwischengeschaltete »Notabeln«, die autorisiert waren, Gefallen und Vergünstigungen gegen Wahlstimmen zu vergeben. Zur Zeit der Staatsgründung gab es einige Diskussionen, ob es einen Alibi-Mizrachi unter den ersten zwölf Kabinettsmitgliedern geben solle, und es wurde beträchtliche Energie aufgewandt, um einen ausreichend bedeutungslosen Posten zu finden (»Der sephardische [Mizrachi] Minister«, so David Remez von der Arbeitspartei, »kann keine großartigen Ansprüche haben«).[67] Gleichzeitig hat der aschkenasische institutionelle Apparat immer behauptet, die Interessen aller jüdischen Personen, einschließlich der Mizrachim, zu vertreten, wie durch die Ausweitung der »orientalischen Dezernate« demonstriert wurde. Im Gegensatz zu den Palästinenser*innen wurde den Mizrachim nie der offizielle Zugang zu israelischen Institutionen verwehrt, und ihnen wurde gestattet, ja, sie wurden darin bestärkt, Unterschlupf in bereits bestehenden Institutionen zu suchen. Klassenressentiments konnten so durch »sozialistische« Organisationen vertrieben werden, während traditionelle jüdische Aktivitäten durch religiöse Einrichtungen abgedeckt wurden.

Zeichen einer Mizrachi-Rebellion

Trotz dieser Hindernisse gab es eine konstante Mizrachi-Revolte und einen breiten Widerstand. Bereits in den Übergangslagern wurden »Brot-und-Arbeit«-Demonstrationen durchgeführt. David Horowitz, damals Direktor des Finanzministeriums, beschrieb während einer politischen Besprechung mit Ben Gurion die Mizrachim Bevölkerung in den Lagern als »rebellisch« und die Situation als »entflammbar« und »explosiv«.[68] Eine andere größere Revolte gegen das Elend und die Diskriminierung begann 1959 in Haifa in der Umgebung des Wadi Salib. Israelische Behörden unterdrückten die Rebellion mit Militär und Polizeiterror. Darüber hinaus versuchte die Arbeitspartei (Mapai), die politischen Organisationen, die aus diesen Unruhen entstanden, zu schwächen, indem sie Slumbewohner*innen nötigte, in die Partei einzutreten, wenn sie auf einen Job hoffen wollten. Eine andere große Rebellion brach in den 1970ern aus, als die israelischen Schwarzen Panther zur Zerstörung des Regimes aufriefen und für die legitimen Rechte aller Unterdrückten, ungeachtet der Religion, Herkunft oder Nationalität eintraten. Dies alarmierte das Establishment, und die Führer der Bewegung wurden in Sicherheitsverwahrung genommen. Zu diesem Zeitpunkt hielten die Schwarzen Panther Demonstrationen ab, die das ganze Land erschütterten. In einer Demonstration, die damals sehr berühmt wurde (Mai 1971), gingen Zehntausende als Reaktion auf die Repression der Polizei auf die Straße und warfen Molotowcocktails gegen Polizei- und Regierungsziele. Noch am selben Abend wurden 170 Aktivist*innen verhaftet, 35 wurden ins Krankenhaus eingewiesen, und über 70 Polizisten und Sicherheitskräfte wurden verwundet. Die Schwarzen Panther, die ihren Namen der amerikanischen Bewegung entlehnt hatten, wurden von Kindern der Eingewanderten angeführt, viele von ihnen waren Delinquenten, die Rehabilitationseinrichtungen oder Gefängnisse durchlaufen hatten. Nachdem ihnen allmählich die politische Natur ihrer »Minderwertigkeit« bewusst geworden war, sabotierten sie den Mythos des »Schmelztiegels« und zeigten, dass das jüdische Israel nicht aus einem, sondern aus zwei Völker bestand. Oft verwendeten sie den Begriff d‘fukim we-sch‘chorim (gefickt und schwarz), um die ethnische und klassenmäßige Positionierung der Mizrachim aufzuzeigen, und sie nutzten die amerikanische Revolte der Schwarzen als Quelle der Inspiration. (Die Bezeichnung »Schwarze Panther« verdreht auch ironisch die aschkenasische Bezeichnung der Mizrachim als »schwarze Tiere«.) In jüngerer Zeit, im Dezember 1982, brachen Unruhen als Reaktion auf die Ermordung eines Mizrachi-Slumbewohners durch die Polizei aus, dessen einziges Vergehen darin bestand, sein überfülltes Hauses illegal ausgebaut zu haben.

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Demonstration gegen Diskriminierung, Schwarze Panther Israel, 1973.

Währenddessen hat das Establishment konsequent versucht, alle Manifestationen der Mizrachi-Revolte wegzuerklären. Die »Brot-und-Arbeit«-Demonstrationen in den Übergangslagern wurden als das Resultat von Agitationen linker irakischer Eingewanderten abgetan; die Demonstrationen von Wadi Salib und die Schwarzen Panther waren Ausdruck von »zu Gewalt neigenden Marokkanern«; individuelle Widerstandshandlungen waren Ausdruck von »Neurosen und »mangelhafter Anpassung«. Golda Meir, Premierministerin während der Schwarze-Panther-Revolte, beklagte sich maternalistisch, dass »das keine netten Kinder« seien. Die Demonstranten wurden in den Medien als lumpenproletarische Abweichler dargestellt, die Bewegung wurde als »ethnisch organisiert« bezeichnet und letztlich als ein Versuch angesehen, »die Nation zu spalten«. Klassen- und ethnische Gegensätze wurden häufig im Namen einer vermeintlich bevorstehenden Katastrophe der »nationalen Sicherheit« unterdrückt. Auf jeden Fall wurden alle Anstrengungen der Mizrachim, unabhängige politische Aktivitäten zu entwickeln, mit Zuckerbrot-und-Peitsche-Maßnahmen des Establishments beantwortet: Die Maßnahmen reichten von symbolischen Gesten, die in Richtung eines vermeintlichen, über das Wohlfahrtssystem kanalisierten Wechsels« deuteten, über eine systematische Einbeziehung von Mizrachi-Aktivist*innen (Jobs und Privilegien anzubieten, ist in einem kleinen zentralisierten Land eine wesentliche Machtquelle) bis hin zu Belästigungen, Rufmord, Inhaftierungen, Folter, und manchmal dem Druck, das Land zu verlassen.

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Protest gegen die Räumung von Givat Amal, Stadtbezirk von Tel Aviv. Die Bewohner wurden dort in den Fünfzigerjahren angesiedelt und sollten nun Investoren weichen.Die Regierung verkaufte das Land mitsamt seinen Bewohnern. 2015. Foto: Activestills

Die aufeinander abgestimmten Attacken gegen die unabhängigen politischen Aktivitäten der Mizrachim – auch durch die »Linken« – wurden angesichts der arabischen Bedrohung im Namen der »nationalen Einheit« ausgeführt. Die durchgehende Annahme war, dass die dominierenden Parteien nicht »ethnisch« seien – gerade dieses Wort reflektiert, hier wie so oft, eine marginalisierende Strategie, die einen impliziten Gegensatz zwischen »Norm« und »Anderen« voraussetzt – wo doch tatsächlich die israelischen Institutionen bereits ethnisch, also nach Herkunftsländern organisiert waren. Diese Realität wurde durch eine linguistische Fassade maskiert, die die Aschkenasim zu »Israelis« und die Mizrachim zu »Bnei Edot HaMizrach« oder »Söhnen der orientalischen ethnischen Communities« machte. Der hier benutzte Plural »überdeckte« die Tatsache der zahlenmäßigen Überlegenheit der Mizrachim, indem er die Pluralität der Herkunft betonte, und diese in Gegensatz zu einer angenommenen vorher existierenden (aschkenasischen) israelischen Einheit setzte. Dies verbarg die Tatsache, dass die Mizrachim, gleich aus welchem Herkunftsland, nach Israel gekommen sind, um eine kollektive Einheit zu bilden, die sowohl auf kulturellen Ähnlichkeiten wie auf der gemeinsamen Erfahrung der Unterdrückung beruhte. Wie viele andere dominierende Gruppen, die ihre Überlegenheit ethnisch begründen, haben die israelischen Aschkenasim eine Art Scheu, sich als solche zu bezeichnen. Sie sehen sich selbst nicht als ethnische Gruppe, (teilweise auch, weil der Begriff »Aschkenasi« die »wenig schmeichelhafte« Erinnerung an Schtetl-Jüdinnen/Juden hervorruft). Wie auch immer, die Mizrachim teilen diese Scheu nicht. Mizrachim, gleich welcher politischen Zugehörigkeit, beziehen sich oft auf den »aschkenasischen Staat« und »die aschkenasischen Zeitungen«, »das aschkenasische Fernsehen«, »die aschkenasischen Parteien«, »das aschkenasische Gericht« und manchmal sogar »die aschkenasische Armee«. Die überwältigende Mehrheit der Deserteure ist in der Mizrachi-Community zu finden, vor allem in den untersten Schichten. Der Grund für ihr Verhalten ist die Weigerung, »dem aschkenasischen Staat alles zu geben«, und dies in einer Gesellschaft, deren Struktur selbst bereits die unterschwellige Aufforderung beinhaltet: »Bekämpft die Araber, und dann akzeptieren wir Euch.« Ein in jüngerer Zeit erschienener Leitartikel in einer Mizrachi-Stadtviertel-Zeitung, überschrieben mit »Vierzig Jahre aschkenasischer Staat«, fasste die Gefühle der Mizrachim nach vier Jahrzehnten Staatlichkeit wie folgt zusammen:

»Dies ist der 40. Jahrestag der Unabhängigkeit für den aschkenasischen Staat, der Israel heißt. Aber wer wird ihn feiern? Unsere Mizrachi-Brüder, die im Gefängnis sitzen? Unsere Schwestern aus Tel Baruch, die sich prostituieren? Unsere Söhne in den Schulen, werden sie den Niedergang des Bildungsniveaus feiern? Werden wir das aschkenasische Theater von Sallach[69] feiern? Oder den wachsenden Fanatismus in unserer Gesellschaft? Die Flucht vor Frieden? Die Tatsache, dass Mizrachi-Musik nur in den Ghettos der Medien gespielt wird? Die Arbeitslosigkeit in den Entwicklungsstädten? Es scheint so, dass die Mizrachim keinen Grund haben zu feiern. Die Freude und das Licht ist nur für die Aschkenasim und zum Ruhme des aschkenasischen Staats.«[70]

Obwohl er durch den israelisch/arabischen Konflikt ständig verschleiert oder überschattet wird, und trotz offizieller Bedrohungen, ist der Mizrachi-Widerstand ständig präsent, er durchläuft Wandlungen, und er verändert seine organisatorischen Formen. Trotz der Versuche, Feindseligkeit zwischen Mizrachim und Palästinenser*innen zu erzeugen, hat es immer Aktivitäten von Mizrachim zugunsten der palästinensischen Sache gegeben. Viele Mitglieder der älteren Mizrachi-Generationen sowohl innerhalb als auch außerhalb Israels wollten als eine Friedensbrücke zwischen den Araber*innen und den Palästinenser*innen dienen, aber ihre Anstrengungen wurden konsequent vom Establishment abgelehnt oder unterbunden.[71] Die Schwarzen Panther, die sich selbst als »natürliche Brücke« zum Frieden sahen, riefen in den 1970ern zu einem »wahren Dialog« mit den Palästinenser*innen auf, die ein »integraler Teil der politischen Landschaft im Nahen Osten« sind, und deren »Vertretern erlaubt werden muss, an allen Treffen und Diskussionen teilzunehmen, die nach einer Lösung im Konflikt suchen«.[72] Die Panther gehörten auch zu den ersten israelischen Gruppen, die sich mit der PLO getroffen haben. In den 1980ern haben Bewegungen wie East for Peace, The Mizrahi Front in Israel und Perspectives Judeo-Arabes in Frankreich – bereits die Namen weisen auf eine Abkehr von Selbst-Scham und die Utopie einer Integration in den politischen und kulturellen Nahen Osten hin – einen unabhängigen palästinensischen Staat unter Führung der PLO gefordert. The Mizrahi Front betonte, dass die Mizrachim nicht Zionisten im herkömmlichen Sinne seien, sondern eher »in der biblischen Bedeutung von Zion« als eines jüdischen Lebens im »Geburtsort des jüdischen Volkes«. Sie unterstrich auch die »Schuld, Respekt gegenüber den arabischen Länder zu haben, die [uns] über Jahrhunderte hinweg Schutz geboten haben«, und die starke »Liebe und den Respekt für die arabische Kultur« vonseiten der Mizrachim, da es »keine Entfremdung zwischen der arabischen Existenz und der Mizrachi (jüdischen) Existenz gibt«.[73]

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Teilnehmer*innen der "irakischen Delegation" die nach Toledo reiste. (V.l.n.r Sami Michael, David Semah, Ella Shohat, Shimon Ballas, und Yosef Shiloach)

Epilog

In vielerlei Hinsicht hat der europäische Zionismus Betrug an den Mizrachim begangen, ein kulturelles Massaker großen Ausmaßes, ein teilweise erfolgreicher Versuch, binnen einer oder zweier Generationen die Jahrtausende alte orientalische Zivilisation, die selbst in ihrer Verschiedenheit vereint war, auszulöschen. Meine Erörterung hier ist, und ich beeile mich, dies zu verdeutlichen, nicht grundsätzlicher Natur. Ich postuliere hier keinen neuen Gegensatz einer ewigen Feindschaft zwischen Aschkenasim und Mizrachim. In vielen Ländern und Situationen haben diese beiden Gruppen, trotz kultureller und religiöser Differenzen, in relativem Frieden miteinander gelebt; nur in Israel leben sie in einem Verhältnis von Abhängigkeiten und Unterdrückung (Ohnehin leben nur 10 Prozent der aschkenasischen Juden in Israel). Die aschkenasischen Jüdinnen/Juden waren ganz offenkundig die primären Opfer der gewalttätigsten Formen des europäischen Antisemitismus«, eine Tatsache, die es nicht nur viel schwieriger macht, einen pro-palästinensischen Standpunkt einzunehmen, sondern auch einen pro-Mizrachi Standpunkt. Es wird erwartet, dass die Mizrachim ihre Kritik angesichts der bedrohten »Einheit des jüdischen Volkes« in der Post-Holocaust-Ära unterdrücken (so als ob es nicht innerhalb aller Einheiten, und besonders den in jüngerer Zeit entstandenen, auch Differenzen und Dissonanzen gäbe). Meine Argumentation ist keine moralisierende oder polarisierende (characterological), die ein manichäisches Schema anwendet, das guten Mizrachim böse Aschkenasi-Unterdrücker gegenüberstellt. Meine Argumentation ist strukturell, ein Versuch, die »Struktur des Empfindens«, die aktuelle tiefe Wut gegen das israelische Establishment, welche die meisten Mizrachim unabhängig von ihrer erklärten Parteizugehörigkeit eint, theoretisch zu erklären. Meine Argumentation ist situationsbezogen und analytisch; sie beinhaltet, dass die israelische sozio-politische Formation kontinuierlich die Unterentwicklung der orientalischen Jüdinnen/Juden erzeugt.

Ein Gespenst sucht den europäischen Zionismus heim: die Angst, dass all seine Opfer – Palästinenser*innen, Mizrachim (wie auch kritische Aschkenasim innerhalb und außerhalb Israels, die als »selbsthassende Unzufriedene« stigmatisiert werden) – die Analogien ihrer Unterdrückungen erkennen würden. Um dieses Gespenst heraufzubeschwören, hat das zionistische Establishment in Israel alles in seiner Macht stehende getan: das Schüren von Krieg und den Kult der »nationale Sicherheit«, das simplifizierende Porträtieren des palästinensischen Widerstands als »Terrorismus«, das Fördern von Situationen, die Spannungen zwischen Mizrachim und Palästinenser*innen steigern; das Karikieren von Mizrachim als »Araber-Hasser« und »religiöse Fanatiker«; die Verbreitung von »Araber-Hass« und Mizrachi-Selbstablehnung durch das Bildungssystem und die Medien; die Unterdrückung oder Einbeziehung all derer, die eine Mizrachi-palästinensische Allianz fördern könnten. In keinster Weise möchte ich die Leiden der Palästinenser*innen und der Mizrachim gleichsetzen – ganz offensichtlich sind die Palästinenser*innen von den Zionisten am schlimmsten behandelt worden – oder die lange Liste der gegen sie begangenen Verbrechen vergleichen. Der Punkt ist eher der einer Affinität und Analogie als eine perfekte Identität von Interessen oder Erfahrungen. Ich bitte die Palästinenser*innen nicht, dass sie Mitleid mit den Mizrachi-Soldaten haben sollen, die unter denen sein mögen, die auf sie schießen. Es sind offensichtlich nicht Mizrachim, die immer wieder in den Straßen von Gaza oder in den Flüchtlingslagern des Libanon getötet werden. Was zur Diskussion steht, ist in jedem Fall nicht ein Konkurrieren um Sympathie, sondern die Suche nach Alternativen. Bis heute waren beide, Palästinenser*innen und Mizrachim, die Objekte und nicht die Subjekte zionistischer Ideologie und Politik, und bis heute werden sie gegeneinander ausgespielt. Aber es waren nicht die Mizrachim, die die Hauptentscheidungen getroffen haben, die zu der brutalen Vertreibung und Unterdrückung der Palästinenser*innen geführt haben – auch wenn die Mizrachim als Kanonenfutter benutzt wurden -, so wie es nicht die Palästinenser*innen waren, die die Mizrachim entwurzelt, ausgebeutet und gedemütigt haben. Die gegenwärtige Regierung in Israel hat von Europa eine starke Aversion geerbt, was die Respektierung des Rechts auf Selbstbestimmung der nicht-europäischen Völker betrifft. Daher rührt die seltsam spurenhafte und mangelnde Qualität ihres Diskurses, die atavistischen Reden von »zivilisierten Nationen« und »der zivilisierten Welt«. So wenig, wie es denkbar ist, sich Frieden zwischen Israel und den Araber*innen vorzustellen, ohne die historischen Rechte der Palästinenser*innen anzuerkennen und zu bestätigen, so sehr darf ein richtiger Frieden auch nicht die kollektiven Rechte der Mizrachim übersehen. Es wäre kurzsichtig, nur mit den Machthabern oder ihrem unmittelbaren Umfeld zu verhandeln und die Abhängigkeit der Jüdinnen/Juden von den arabischen und muslimischen Ländern als »internes« arabisches Problem abzutun. Ich möchte natürlich nicht suggerieren, dass alle Mizrachim meine Analyse unterschreiben würden, auch wenn die meisten mich darin in weiten Teilen unterstützen würden. Ich möchte vielmehr behaupten, dass nur eine derartige Analyse die Komplexität der aktuellen Situation, die Tiefe und das Ausmaß der Wut der Mizrachim erklären kann. Meine Analyse hofft letztendlich, eine langfristige Perspektive zu öffnen, die im Weiteren helfen mag, die jetzige untolerierbare Sackgasse zu überwinden.

Übersetzt vonThea Geinitz und Anja Zuckermantel

Dieser Artikel ist im Original auf Englisch erschienen: „Sephardim in Israel: Zionism from the Standpoint of Its Jewish Victims“, in der Zeitschrift ‚Social Text‘ Nr. 19/20 (Herbst 1988), S. 1-35, Duke University Press.

Für die Erlaubnis der Zweitveröffentlichung danken wir dem Unrast Verlag herzlich. Hier ist der Artikel 2003 erstmalig auf Deutsch erschienen, in dem von Irit Neidhardt herausgegebenen Sammelband: Mit dem Konflikt leben!? Berichte und Analysen von Linken aus Israel und Palästina.

Bei der Übersetzung sind geringfügige Änderungen in der Schreibweise vorgenommen worden.

Ella Habiba Shohat wurde 1959 in Israel geboren. Sie definiert sich selbst als "arabische Jüdin" jüdisch-irakischer Abstammung, die die Vereinigten Staaten zu ihrer Wahlheimat gemacht hat. Dort ist sie Professorin für Kulturwissenschaften an der New York University. Als Akademikerin und Aktivistin beschäftigt sie sich mit den Themen Postkolonialismus und Repräsentationsfragen im Nahen Osten, multikultureller Feminismus, Mizrachi-Identität, Zionistischer Diskurs, die enge Verbindung von jüdischer und muslimischer Geschichte und Kultur und die Debatten über Beschneidung, Islamophobie und Antisemitismus. Ihr 1989 erschienenes Buch Israelisches Kino: Ost / West und die Politik der Repräsentation macht die Konstruktion des Okzidents und des Orients im zionistischen Diskurs sichtbar, ein kritisches Projekt, das sie auch in ihrem Buch Tabuisierte Erinnerungen, Diaspora-Stimmen verfolgt. In Büchern wie Sprechende Visionen, Eurozentrismus auflösen: Multikulturalität und die Medien (mit Robert Stam, 1994) und Race in Translation: Kulturkämpfe rings um den postkolonialen Atlantik (Unrast-Verlag 2015, mit Robert Stam) stellt sie die Grenzen zwischen dem Westen und dem ‚Rest‘ infrage und interpretiert diese neu.

Weiterführende Links

Weiterführende Literatur

Von Ella Shohat:

Deutsch:

- Race in Translation: Kulturkämpfe rings um den postkolonialen Atlantik, Unrast-Verlag 2015 (mit Robert Stam)

Englisch:

- On the Arab-Jew, Palestine, and Other Displacements: Selected Writings of Ella Shohat, Pluto Press 2017

- Israeli Cinema: East/West and the Politics of Representation, I.B. Tauris 2010

- Unthinking Eurocentrism: Multiculturalism and the Media (mit Robert Stam), Routledge 2014

- Taboo Memories, Diasporic Voices, Duke University Press 2006

- “The narrative of the nation and the discourse of modernization: The case of the Mizrahim", in: Critique: Critical Middle Eastern Studies, Volume 6, 1997 - Issue 10

- Edward Said, Orientalismus, Frankfurt am Main 1981 (Erstveröffentlichung auf Englisch 1978)

Anmerkungen

[1] Aus Gründen der Lesbarkeit werden in dieser Übersetzung teilweise nur die männlichen Formen verwendet. Insbesondere bei dem Fremdwort Mizrachi, wurde in diesem Artikel durchgehend Mizrachim (statt Mizrachim/Mirachijot) verwendet. (Anm. d. Übers.)

[2] Edward Said, »Orientalism« (New York: Vintage, 1978), S.31, deutsch »Orientalismus« (Frankfurt/Main, 1979), S. 31 f

[3] Arye Gelblum, HaAretz, April 22, 1949

[4] Ebd.

[5] David Ben Gurion, »Eternal Israel« (Tel Aviv: Ayanot, 1964), S.34

[6] Zitiert bei Sammy Smooha, »Israel: Pluralism and Conflict«, (Berkeley, University of California Press 1978), S.88

[7] Abba Eban, »Voice of Israel« (New York, 1957), S. 76, zitiert bei Smooha

[8] Smooha, S. 44

[9] Ebd., S. 88f

[10] Zitiert in Tom Segev, »1949, The First Israelis« (New York, The Free Press, 1986), S. 156f

[11] Zitiert in Tom Segev, »1949, The First Israelis« (Jerusalem, The Domino Press, 1984), S. 156 (Hebräisch)

[12] Zitate aus Segev, S. 156 (Hebräisch)

[13] Zitiert in David. K. Shipler, »Arab and Jew« , (New York, Times Books, 1986), S. 241

[14] Amnon Danker, »I Have No Sister, HaAretz«, 18. Februar 1983

[15] Dr Devora und Rabbi Menachem Hacohen, »One People: The Story of the Eastern Jews« (New York, Adama Books, 1986)

[16] Ora Gloria Jacob Arzooni, »The Israeli Film: Social and Cultural Influences 1912-1973« (New York: Garlend Press,1983) S. 22, 23, 25

[17] Die jiddische Bezeichnung für eine kleine Stadt mit überwiegend jüdischer Bevölkerung. Da die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in Mittel- und Ost-Europa in solchen „kleinen Städten“ lebten, hatte dies einen prägenden Einfluss auf die dortige jüdische Kultur.

[18] Zu den verschiedenen Formen der Förderung des Jiddischen in Israel siehe Itzhak Koren (vom World Council for Yiddish and Jewish Culture). »Letter to the Editor«, Ma’ariv, 4. Dezember 1987.

[19] Siehe Maxime Rodinson: »A Few Simple Thoughts on Anti-Semitism«, in Cult, Ghetto, and State, (London: Al Saqi Books, 1983)

[20] Siehe Abbas Shiblack, »The Lure of Zion« (London: Al Saqi, 1986)

[21] Yosef Meir, »Beyond the Desert«, (Israel, Verteidigungsministerium, 1973), S. 19 f (Hebräisch)

[22] Yehoshua Porath, »The Emergence of the Palestinian-Arab National Movement, 1919-1929« (Tel Aviv: Am Oved, 1976), S. 49 (Hebräisch)

[23] Ebd., S. 48

[24] Ebd.

[25] Ebd., S. 48f.

[26] Ebd., S. 49

[27] Siehe HaOIem HaZe, 20. April 1966 (Hebräisch); The Black Panther Magazine, 9. November 1972 (Hebräisch); Wilbur Crane Eveland, »Ropes of Sands: America’s Failure in the Middle East« (New York: Norton, 1980), S. 48f; Abbas Shiblak, »The Lure of Zion«; Uri Avneri, »My Friend, The Enemy« (Westport, Connecticut: Lawrence Hill & Company, Publishers, 1986) S. 133-140.

[28] Segev, S. 167

[29] Zur Zeit des Sklavenhandels 1600-1800 wurde die berüchtigte zweite Etappe der Schiffstransporte von Europa nach Amerika »Middle Passage« genannt. Auf der ersten Etappe fuhren die Schiffe Waren von Europa nach Afrika, an der so genannten Sklavenküste wurde die Fracht gegen Afrikanerlnnen ausgewechselt. Mit dieser menschlichen Fracht fuhren die Schiffe nach Amerika, wo sie ihre Ladung mit Gütern austauschten, die dann wieder nach Europa transportiert wurden.

[30] Zitiert nach Yosef Meir, »The Zionist Movement and the Jews of Yemen« (Tel Aviv, Afikim Library Publishers, 1983), S. 43 (Hebräisch)

[31] Zitiert nach Meir, S. 48

[32] Siehe Yaakov Zerubavel, »Alei-Khaim« (Tel Aviv: Y.L.Peretz Library Publication, 1960), S. 326 f (Hebräisch)

[33] Arthur Rupin, »Chapters of My Life« (Tel Aviv, am Oved, 1968), Teil 2, S. 27 (Hebräisch)

[34] Yaakoz Rabinowitz, HaPoel HaTzair, 6. Juli 1910

[35] Shmuel Yavne’eli, »Journey to Yemen« (Tel Aviv: Ayanot, 1963), S. 106 (Hebräisch)

[36] Ebd., S. 83-90

[37] Alija bezeichnet im ursprünglichen wörtlichen Sinne: Aufstieg/Aufsteigen; bezeichnet die jüdische Einwanderung nach Palästina/Israel und in diesem Zusammenhang auch die verschiedenen größeren Einwanderungswellen

[38] Meir,S. 97f

[39] Zitiert nach Meir, S. 44

[40] Siehe Meir, v.a. S. 113-121. Vgl. Niza Droyan, »And Not With a Magic Carpet« (Jerusalem: BenTzvi Institute for Research into the Communities of Israel in the East, 1982), S. 134-148 (Hebräisch)

[41] Meir, S.58

[42] Meir, S.65

[43] Segev, S. 171-174 (Hebräisch)

[44] Zitiert nach Segev, S. 160 (englische Ausgabe)

[45] Zitiert nach Segev, S. 166 (Hebräisch)

[46] Segev, S. 167 und S. 328 (Hebräisch)

[47] ebd., S.330 (Hebräisch)

[48] ebd., S.178 (Hebräisch)

[49] Siehe Dov Levitan, »The Aliya of the »Magic Carpet« as a Historical Continuation of the Earlier Yemenite Aliyas«. Magisterarbeit, geschrieben am Politikwissenschaftlichen Institut der Bar Ilan Universität (Israel), 1983 (Hebräisch); Segev, S. 185-187, 331 (Hebräisch)

[50] Segev, S. 172 f.

[51] Shlomo Swirski und Menachem Shoushan, »Development Towns in Israel«, (Haifa; Breirot Publishers, 1986), S. 7

[52] Siehe Swirski und Shoushan

[53] Einige Zitate aus diesen Dokumenten sind bei Segev aufgeführt, besonders »Part II: Between Veterans and Newcomers«, S. 93-104

[54] Ya’akov Nahon: »Patterns of Education, Expansion ans the Structure of Occupation Opportunities: the Ethnie Dimension.«(Jerusalem: The Jerusalem Institute for the Research of Israel, 1987)

[55] Smooha, S. 178 f.

[56] Shlomo Swirski, »The Oriental Jews in Israel «, Dissertt, vol. 31, no. 1, (Winter 1984), S. 84

[57] Yosef Ben David, »Integration and Development«, in S.N. Eisenstadt, Rivkah Ben Yosef, Chaim Adler, eds. »Integration and Development in Israel« (Jerusalem, Israel Universities Press, 1970).

[58] Shlomo Swirski, »Orientais and Ashkenazim in Israel« , (Haifa, Mahbarot LeMehkar UleBikoret, 1981), S. 53 f (Hebräisch)

[59] »Zivilität – das kultivierte und gesittete Verhalten in der Gesellschaft. Darunter konnten im achtzehnten Jahrhundert sowohl äußere Höflichkeit als auch die (innere) Bildung des Charakters verstanden werden. In einer individualisierten Gesellschaft spricht der Begriff solche Formen gelingenden Lebens an, die sich intersubjektiv und gesellschaftlich vertreten lassen. Zivilität bezeichnet überdies die sittliche Ordnung, in der sich Menschen in einer Gesellschaft von Bürgern begegnen (wollen)...« Wolf-Rainer Wendt, Bürgergesellschaft und zivile Gesellschaft. Ihr Herkommen und ihre Perspektiven, in: ders. (Hg.), Zivilgesellschaft und soziales Handeln. Bürgerschaftliches Engagement in eigenen und gemeinschaftlichen Belangen, Freiburg i. Br. 1996, 15

[60] Zu einer Diskussion über die Schwierigkeiten säkularer europäischer Juden in einer protestantisch dominierten Kultur, siehe John Murray Cuddihy, »The Ordeal of Civility« (Boston: Beacon Press, 1974)

[61] Ist die Bezeichnung einer Kaktuspflanze (und insbesondere deren Früchte). Die Kaktusart kam Mitte des 19. Jahrhunderts aus Mittelamerika nach Palästina und wurde recht schnell zu einer beliebten Zaunpflanze, die durch ihre großen scharfen Stacheln sicherstellt, dass niemand dort durchgehen kann. Durch ihre weite Verbreitung wurde sie einem charakteristischen Element der Landschaft in Palästina. Seit den 1930er Jahren wird der Begriff im hebräischen Diskurs zur Bezeichnung von in Palästina geborenen Kindern von aus Europa eingewanderten jüdischen Eltern bezeichnet. Angeblich spiegelt er den Charakter dieser neuen „bodenständigen“ Generation wieder: wie die Kaktusfrucht, außen hart und stachlig, innen weich und süß.

[62] Nach Michail M. Bakhtin werden in heteroglotten Texten Positionen erwähnt und nebeneinander stehen gelassen (Talkshows). Zentrales Merkmal vieler Mediengenres, v.a. des Fernsehens.

[63] Siehe Hashem Mahameed und Yosef Gottman, »Autostereotypes and Heterostereotypes of Jews and Arabs Under Various Conditions of Contact«. Israeli Journal of Psychology and Counseling in Education, (Jerusalem, ed. Ministerium für Bildung und Kultur), no. 16 (1983)

[64] Siehe die kürzliche erschienene Studie The Sephardic Community in Israel and the Peace Process, (New York: Institute for Middle East Peace and development, CUNY, 1986), ed. Harriet Arnone und Ammiel Alcalay

[65] Mordechai Bar On, »Peace Now: The Portrait of a Movement« (Tel Aviv: HaKibbutz HaMeuchad, 1985), S. 89 f. (Hebräisch)

[66] Swirsky, »Oriental Jews in Israel«, S. 89 f.

[67] Segev, S. 174

[68] Segev, S. 161

[69] Die deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel: Sallah Shabati oder Tausche Tochter gegen Wohnung

[70] Beni Zada, »40 Years for the State of the Ashkenazim«, Pa’amon – no. 16 (Dezember 1987)

[71] Abba Eban z.B. hat sich dagegen ausgesprochen, »unsere Einwanderer aus orientalischen Ländern, als eine Brücke in Richtung unserer Integration in die arabisch-sprechende Welt zu sehen«. (Smooha, S. 88)

[72] Zitiert nach einer Pressekonferenz der Schwarzen Panther in Paris, März 1975

[73] Die Zitate sind aus verschiedenen Reden der Mizrachi Front, gehalten bei ihrem Treffen mit der PLO in Wien am 16. Juli 1986.

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