Alternative text missing

Wohnhaus neben der Central Bus Station, Tel Aviv

Süd-Tel Aviv – ein Essay

Es ist eng in der Gartenbibliothek. Zwei Etagen unter der Erde sitzen wir in einem stickigen, niedrigen Raum zusammen mit Tugud Omer Adam. Bücher sind kaum zu sehen und die nackten Betonwände erinnern daran, dass dieser Zweckbau nach wie vor als Luftschutzbunker fungiert. „Es war nicht unser Entschluss, nach Süd-Tel Aviv zu kommen. Niemand verteilt in der Wüste Sinai in Ägypten Landkarten, auf denen die Levinsky-Straße eingezeichnet ist. Als wir Geflüchtete die ägyptisch-israelische Grenze passierten, übergaben uns die Grenzsoldaten ein Ticket für die Busfahrt zum zentralen Tel Aviver Busbahnhof. Wir kamen dort an und wurden uns selbst überlassen. Wir kannten uns überhaupt nicht aus, kannten auch niemanden. Also sind wir eben dort, wo uns der Bus abgeladen hatte, einfach geblieben. Diejenigen, die später nach und nach eintrafen, hatten schon einen guten Grund, in der Gegend zu bleiben – die Unterstützung durch die Erstankömmlinge, die in der Umgebung schon heimisch geworden waren.“ In seiner Heimat Sudan war Tugud Omer Adam an der Universität politisch aktiv und wurde deshalb von den dortigen Behörden verfolgt. Wie viele seiner Landsleute entkam er einer Festnahme durch die Flucht ins nördliche Nachbarland Ägypten. Als es auch dort für ihn brenzlig wurde, floh er weiter, wurde von einem grenzübergreifend organisierten Menschenhändlernetz, das sich zwischen Eritrea am Horn von Afrika und der ägyptischen Mittelmeerküste erstreckt, in die berüchtigten Folterlager auf der Sinai-Halbinsel entführt.[1] Sie erpressten seine Familie, und nachdem diese das Lösegeld gezahlt hatte, schmuggelten ihn die Entführer bis zur ägyptisch-israelischen Grenze. Die letzten Meter musste er um sein Leben rennen. Da war Glück im Spiel, betont er. Andere wurden dabei von ägyptischen Grenzsoldaten erschossen.

Alternative text missing
Blick auf die Gartenbibliothek (Garden Library) im Levinskypark, Süd-Tel Aviv, 2012.

Mehrere Tage die Woche, vor allem an den vielen warmen, sonnigen Tagen, holen Tugud und andere Freiwillige aus der Geflüchteten-Community zusammen mit israelischen Aktivist*innen die Kinderbücher aus den Kartons in der Bunkerbibliothek heraus. Sie sind in einem Dutzend Sprachen verfasst und stehen den Kindern des Viertels zur Verfügung. Für einige Stunden beherrschen Dutzende lesebegierige Kinder den Levinsky-Park. Auch zu jeder anderen Uhrzeit ist hier viel los. In dieser kleinen Parkanlage im Süden Tel Avivs treffen sich zu jeder Tages- und Nachtzeit erwachsene und halbwüchsige Geflüchtete und andere nicht-jüdische Migrant*innen. Um ihre Oase tobt der Verkehr, und sie tänzeln um die dort umherliegenden und -sitzenden Drogenabhängigen, während sie lauthals in ihre Handys sprechen. Die drei- bis fünfstöckigen Mietshäuser der Umgebung sind vom Verkehr verrußt, die Balkone notdürftig zugemauert, Satellitenschüsseln, freiliegende Verkabelung, notdürftig angebrachte Klimaanlagen lassen vermuten, man sei nicht mehr in der High-Tech-Stadt Tel Aviv, um deren Startups sie die ganze Welt beneidet. An diese Welt erinnern lediglich die modernen Hochhäuser, deren gläserne Spitzen von hier gerade noch sichtbar sind.

Die Infiltratoren

Seit 2013 ist der Süden Tel Avivs kein Ankunftsort mehr für Geflüchtete. Damals erfüllte Israels Premierminister Benjamin Netanjahu sein Versprechen und baute eine 245 Kilometer lange Mauer entlang der israelisch-ägyptischen Grenze. Das Land gilt seitdem als Vorreiter in der Abschottung vor Geflüchteten und Migranten. So hob der US-amerikanische Präsident Trump diese Mauer als sein Vorbild für seine geplante Mauer zu Mexiko hervor. Und tatsächlich hat sich Israel mit dem Bau dieser Mauer hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt, sodass heute so gut wie keine Geflüchteten mehr das Land erreichen können.

Doch damit nicht genug. Auch die sich schon im Land befindenden Geflüchteten sollen Israel verlassen. 2006 bis 2013 kamen in Israel etwa 65.000 Geflüchtete über die Landgrenze mit Ägypten. Etwa zwei Drittel stammen aus Eritrea, sie flohen vor einem diktatorischen Regime, vor der Einberufung zum teilweise jahrzehntelangen Militärdienst sowie Zwangsarbeit und Sklaverei – darunter die sexuelle Versklavung von Frauen. Ein Viertel sind Überlebende des Völkermordes und des Krieges im Sudan. Über 5.000 von ihnen wurden auf ihrer Flucht gefoltert. Die israelischen Behörden aber erkennen nur etwa ein Prozent von ihnen als Flüchtlinge an, obwohl im Rest der Welt die Anerkennungsquote für eritreische Geflüchtete bei 84 Prozent, für sudanesische bei 64 Prozent liegt.

Um ihre Politik zu rechtfertigen, bezeichnen die Behörden die Geflüchteten offiziell als Infiltratoren. Damit rekurriert die Regierung auf ein Gesetz zur Verhinderung der Infiltration aus den 1950er-Jahren, das dazu diente, gegen jene Palästinenser*innen vorzugehen, die nach ihrer Flucht oder Vertreibung in die Nachbarländer während des Kriegs von 1948 und der Gründung Israels versucht hatten, wieder ins Land zu gelangen, um sich ihr dort zurückgelassenes Eigentum wieder anzueignen oder um in ihre verlassenen Häuser zurückzukehren. Und es diente dazu, gegen das Phänomen der Fedajin vorzugehen: von Ägypten bewaffnete Terroristen, die nach Israel eindrangen, um Anschläge gegen den jungen Staat durchzuführen. Die heutige Verwendung dieses Begriffs brandmarkt die Geflüchteten als gewalttätig und gefährlich, sodass sie nicht mehr als Menschen wahrgenommen werden, die Hilfe und Schutz benötigen. Gleichzeitig werden lediglich Geflüchtete, die über die Landgrenze kommen, sprich Menschen schwarzer Haut aus der Subsahara als Infiltratoren bezeichnet, was sie von der anderen Gruppe von illegal Einreisenden unterscheidet, die über den Luftweg nach Israel gelangen, vornehmlich aus Osteuropa stammen und weiß sind. Und dies, ohne die Benachteiligung aufgrund von Hautfarbe und Herkunft gesetzlich und damit für jedermann sichtbar festschreiben zu müssen.

Da der Staat Geflüchteten aus Afrika in der Regel den Zugang zu einem regulären Asylverfahren verwehrt, sie aber aufgrund der auch von Israel unterzeichneten Genfer Flüchtlingskonvention, die die Deportation in Kriegsgebiete oder Gefahrenzonen verbietet, nicht einfach in ihre Heimat abgeschoben werden können, leben sie mit dem Status einer Duldung. Ihre Duldung müssen sie alle zwei Monate von der Behörde für Bevölkerung, Einwanderung und Grenzübergänge des Innenministeriums verlängern lassen. Diese unterhält nur ein einziges Büro für alle Asylsuchenden in Israel. In dem Büro sind lange Warteschlangen an der Tagesordnung, es gibt keinen Warteraum, die Fragen, die die Menschen bei der Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung über sich ergehen lassen müssen, sind beleidigend und Ausdruck einer verächtlichen Einstellung ihnen gegenüber.

Die Geflüchteten verfügen über keine Arbeitserlaubnis. Gleichzeitig haben sie keinen Anspruch auf medizinische Versorgung, auf andere Sozialleistungen, eine Behausung oder rechtlichen Beistand (eine Ausnahme bildet die Einschulung von Kindern von Geflüchteten). Da sie sonst gar keine Einnahmequellen hätten, arbeiten sie dennoch, oftmals in den hinteren Teilen und Küchen der Tel Aviver Gastronomiebetriebe, auf den vielen Baustellen der Stadt oder als billige, über Zeitarbeitsfirmen eingestellte Putzkräfte. Der Staat drückt ein Auge zu und setzt die gesetzlichen Vorschriften gegenüber ihren Arbeitgeber*innen nicht durch, behält aber von ihren Gehältern, die in der Regel dem gesetzlichen Mindestlohn entsprechen oder darunter liegen, 20 Prozent ein. Die Geflüchteten sollen dieses Geld erst bei Wiederausreise aus dem Land erhalten.

Zudem müssen die Geflüchteten jederzeit mit einer Inhaftierung rechnen. 2013 baute der Staat – speziell für sie – das Internierungslager Cholot in der unbewohnten Wüste ganz im Süden des Landes. Zu Spitzenzeiten lebten etwa 3.600 Menschen gleichzeitig im Lager. Die Bedingungen waren die eines „offenen Gefängnisses“ mit einem nächtlichen Ein- und Ausgangsverbot. Die Internierung erfolgte auf Geheiß des Innenministeriums und konnte ohne einen Gerichtbeschluss vollzogen werden. Anfangs galt die Internierung in Cholot auf unbestimmte Zeit, später haben die Gerichte die maximale Inhaftierungsdauer zunächst auf 20 Monate, später auf 12 begrenzt.

Diese Politik der willkürlichen Internierung und Schikane, zusammen mit einem lancierten, aber auch alltäglichem Rassismus, hat dazu geführt, dass bereits mehr als 20.000 Geflüchtete Israel bis 2018 wieder verlassen haben.

Ende 2017 – beflügelt von dem weltweiten Aufstieg populistischer Regierungen, die Menschenrechte und Geflüchtete zu Volksfeinden erklärten – verschärfte auch die israelische Regierung ihre Politik. Sie schloss zwar das Internierungslager Cholot, aber nur um zu erklären, dieses sei jetzt überflüssig, da alle im Land verbliebenen afrikanischen Geflüchteten, etwa 38.000 insgesamt, sprich weniger als ein halbes Prozent der israelischen Bevölkerung, innerhalb weniger Monate in Drittstaaten (Ruanda und Uganda) abgeschoben würden, wenn nötig, mit polizeilicher Gewalt.

Süd-Tel Aviv gegen die Geflüchteten?

Die Regierung begründete dieses Vorgehen hauptsächlich mit der schwierigen Situation der Bevölkerung vor allem im Süden von Tel Aviv, in denen ein Großteil der Asylsuchenden aus Eritrea und dem Sudan wohnt. Diese Politik und die Dämonisierung der Geflüchteten dienten jedoch hauptsächlich anderen Interessen der Regierung. Unter anderem konnte sie damit die öffentliche Debatte von Themen ablenken, die der Regierung in Israel unangenehm waren.

Alternative text missing
Rechte Nationalisten und Anwohner demonstrieren gegen Geflüchtete in Süd-Tel Aviv, 2014. Foto: Activestills.

Tel Aviv ist als „weiße Stadt“ bekannt. In seinem bahnbrechenden Buch „Weiße Stadt – schwarze Stadt“[2] schreibt der israelische Architekt und Theoretiker Sharon Rotbard, dass dies nur die Hälfte der Geschichte darstellt. Vor der Gründung des Staats Israel 1948 war der Süden Tel Avivs eigentlich ein Teil Jaffas, der großen und quirligen alten Metropole. Das noch junge Tel Aviv – eben die „weiße Stadt“ – entstand als europäischer Gegenentwurf zum arabisch-levantinischen Jaffa.

Den Süden der Stadt nennt Rotbard die „schwarze Stadt“. Tatsächlich wurde diese Gegend seit jeher stiefmütterlich behandelt. Während in der „weißen Stadt“ und weiter nördlich in den wohlhabenden Vororten vor allem Ärzte, Beamte und Anwälte, gut ausgebildete jüdische Migranten aus Deutschland oder Polen mit besten Beziehungen zum Staatsapparat heimisch wurden, ließen sich im Süden eher Kleingewerbetreibende, viele Holocaust-Überlebende, Menschen aus der Levante beziehungsweise aus arabischen Ländern nieder – etwa in Neve Schaanan, dort, wo sich heute das Zentrum der Geflüchteten-Community befindet. Der Bezirk wurde in den 1920ern von jüdischen Migrant*innen als Gartenstadt in Form einer Menora gebaut und war stets ein Ort, an dem sich jüdische Menschen unterschiedlicher Herkunft begegneten – im Gegenteil zum sehr europäisch geprägten Zentrum und Norden der Stadt. Von Anfang an unterschied sich der Süden Tel Avivs von den nördlichen Bezirken. Hier herrschte ein sehr lebhaftes Straßenleben, hier wohnte man eher levantinisch, kleinbürgerlich, proletarisch. So waren ganze Straßen einer bestimmten Warengruppe gewidmet. Die Levinsky Straße war – und ist noch heute – die Gewürzstraße, mit einer Vielzahl kleiner Gewürzgeschäfte. In einer nahegelegenen Straße fand man ein Möbelgeschäft neben dem anderen, in einer weiteren reihten sich die Lampengeschäfte aneinander. Doch schon in den 1960er-Jahren führte die staatliche und städtische Vernachlässigung Süd-Tel Avivs dazu, dass diejenigen, die es sich leisten konnten, den Süden gen Norden verließen oder in die Vorstädte zogen. Kleingewerbe, Autowerkstätten und Tischlereien prägten fortan den Süden.

Zum großen Niedergang kam es jedoch mit der Schließung des alten und der Eröffnung des neuen Busbahnhofs 1993. Busse sind in Ermangelung einer funktionierenden Bahninfrastruktur bei Weitem das wichtigste öffentliche Verkehrsmittel in den israelischen Städten ebenso wie für die Verbindung zwischen den Städten. Das Gelände des alten Busbahnhofs wurde damals einfach stillgelegt und liegt bis heute brach. In der Folge schlossen so gut wie alle Geschäfte im Umfeld, da sie keine Laufkundschaft mehr hatten. Die gespenstisch leeren Straßen und der enorme Leerstand lockten zwielichtige Geschäfte an. Innerhalb weniger Jahre wurde die Gegend um den alten Busbahnhof zum einzigen Ort in Israel, wo Prostitution und Drogenhandel völlig offen, sprich auf der Straße, in heruntergekommenen Verschlägen oder Ladengeschäften gedeihen konnten.

Der neue Busbahnhof, ein brutaler, wuchtiger Betonbau, nur wenige Hundert Meter Luftlinie vom alten Busbahnhof entfernt, ist eine echte Missgeburt moderner Architektur und mit 230.000 Quadratmetern, 1.500 Geschäften auf sieben Etagen monströsen Umfangs. Dutzende Rolltreppen laufen kreuz und quer durch das Gebäude, sind aber in der Regel außer Betrieb. Die verwinkelten Ecken verkamen innerhalb weniger Monate zu Pissoirs. Die Mittelschicht mied den neuen Busbahnhof von Anfang an, und so machte ein Geschäft nach dem anderen dicht, bis dort nur Ramschläden übrigblieben. Manche Etagen sind seit Jahren völlig verwaist, sodass der Busbahnhof zu einem wahrlich gespenstischen Ort mutiert ist. Der gesamte Bezirk litt unter dem überdimensionierten Bau: 4.000 Busse fahren hier täglich ab und verursachen erhebliche Luftverschmutzung, die Lärmbelästigung ist enorm. Damit wurden Neve Shaanan und die angrenzenden Viertel endgültig zu Bezirken des Prekariats.

Eben in diesen Jahren öffnete sich Israel nicht-jüdischer Migration. Diese sollte Israels Abhängigkeit von palästinensischen Arbeiter*innen vermindern, etwa im Baugewerbe und in den schlecht bezahlten Berufen des Dienstleistungssektors. Ab den 1990er-Jahren kamen Tausende legale und illegale nicht-jüdische Migrant*innen nach Israel. Hinzu kam eine nicht geringe Zahl palästinensischer Kollaborateure aus den besetzten Palästinensergebieten und dem südlichen Libanon, die mit den israelischen Sicherheitsbehörden zusammengearbeitet hatten, dann enttarnt worden waren und daraufhin ihre Heimatgemeinden verlassen mussten. Auch viele von ihnen ließen sich im Süden von Tel Aviv nieder. Es entstanden Communities von Latinos, Russ*innen, Ukrainer*innen und Philippinos. Läden, wie sie weltweit von Migrant*innen geführt werden, entstanden überall und boten landestypische Nahrungsmittel, etwa Schweinefleisch oder asiatische Gewürze, Prepaid Handys und alternativen transnationalen Geldverkehr für bankkontolose Überweisungen an die in der Heimat verbliebenen Familienangehörigen. An vielen Orten entstanden kleine Hinterhofkirchen. Die Neueinwanderer*innen machten Tel Aviv und damit ganz Israel zu einem offeneren, multikulturelleren Ort. Gleichzeitig mieden die meisten Israelis die Gegend und für die alteingesessene Bevölkerung bedeuteten diese Entwicklungen eine weitere Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen. So haben etwa gewiefte Wohnungsbesitzer*innen eine neue Methode zur Bereicherung gefunden: Sie teilten alte Wohnungen in immer kleinere Einheiten und verlangten für jedes neu entstandene Apartment – oft waren es wenige Quadratmeter, notdürftig mit Gipswänden von der nächsten Einheit getrennt, das Bad wurde von mehreren Parteien geteilt – horrende Mieten. Die Migrant*innen wurden anderswo nicht gern gesehen und waren deshalb auf solche Deals angewiesen. Als Folge verkamen die Wohnhäuser immer mehr. Stadt und Staat aber ignorierten solche Missstände, die woanders schnell geahndet worden wären, beharrlich, weil es sich ja nur um die „schwarze Stadt“ handelte.

Diese Entwicklungen hängen stark mit zwei Fragen der nationalen Politik zusammen. Im deutschsprachigen Diskurs ist Israel vor allem der Ort, an dem europäische Jüdinnen und Juden aus Europa Zuflucht gefunden haben. In der Tat wurde Israel von Europäer*innen und für Europäer*innen aufgebaut, europäische Eliten prägten das Land und sind noch heute in allen wichtigen Machtzentren überrepräsentiert. Doch seit vielen Jahrzehnten stammt die Mehrheit der israelischen Bevölkerung nicht mehr aus Europa. Neben der palästinensischen Minderheit im Land, 20 Prozent aller israelischen Staatsbürger*innen, die schon vor der Staatsgründung hier lebten, wanderten Hunderttausende Jüdinnen und Juden aus Asien und Afrika, Mizrachim genannt, ins Land ein und machen heute etwa die Hälfte der jüdischen Bevölkerung aus. Ihre Benachteiligung durch die europäisch geprägte Arbeitspartei, die die israelische Politik in den ersten 30 Jahren nachhaltig beherrschte, wirkt bis heute fort.

Bei den Wahlen 1977 revoltierten eben diese Mizrachim und verhalfen dem rechtsgerichteten Likud an die Macht. Zwar stellt der Likud seit 1977, also seit bald 40 Jahren, fast durchgehend den Regierungschef, doch seinen Anspruch, den Mizrachim den sozialen Aufstieg zu ermöglichen, hat er nur teilweise erfüllt. Die Partei hält nämlich wenig von einem starken Sozialstaat, der Ungleichheiten intervenierend ausgleicht. Folglich wurde der Markt sich selbst überlassen, und so wurden die Wohlhabenden und Starken stärker und wohlhabender, die Armen und Schwachen schwächer und ärmer. Geografisch lässt sich das an der wachsenden Kluft zwischen dem prosperierenden, europäisch geprägten Norden und dem abgehängten orientalisch geprägten Süden Tel Avivs mustergültig beobachten.

In diesen Hinterhof der „weißen Stadt“ lenkten die Behörden eben auch die Geflüchteten, indem sie entsprechende Bustickets ausgaben. Sie halfen den Geflüchteten nicht bei ihrer Ankunft und weigerten sich, die Möglichkeit einer landesweiten Verteilung auch nur in Betracht zu ziehen. Gleichzeitig unternahmen sie keine Anstalten, für angemessene Infrastruktur und entsprechende Dienste zu sorgen. Der Zuzug Zehntausender mitunter traumatisierter, der Landessprache nicht mächtigen Neuankömmlinge überforderte die marode Infrastruktur vor Ort, die in manchen Straßenzügen erfolgte Verdoppelung und Verdreifachung der Einwohnerzahl überforderte die Alteingesessenen.

Statt in Zusammenarbeit mit den Bewohner*innen konkrete Lösungen anzubieten, griffen Minister*innen und politische Entscheidungsträger*innen tief in das Reservoir der Ressentiments und machten die Geflüchteten für alle Missstände verantwortlich. Die Knesset-Abgeordnete Miri Regev, heute Ministerin für Kultur und Sport, bezeichnete Sudanes*innen in Israel als „ein Krebsgeschwür in unserem [Volks-]Körper“. Innenminister Eli Jischai drohte, er werde „ihnen das Leben vergällen“. Auch Premierminister Benjamin Netanjahu selbst schaltete sich ein. Mit lokalen Aktivist*innen spazierte er durch die Straßen Süd-Tel Avivs, nannte die Geflüchteten ein Sicherheits- und ein demografisches Problem, das die jüdische Mehrheit im Land gefährde. Die in Israel hegemonialen rechtspopulistischen Medien berichteten täglich über die angeblich kriminellen Geflüchteten und über das Leid, das ihre Anwesenheit der lokalen jüdischen Bevölkerung zufügt. Die vielen Menschen, die sich für die Geflüchteten engagierten, stempelten sie ab als überhebliche Linke und Liberale, denen das jüdische Volk egal sei und die sich lieber mit nicht-jüdischen Eindringlingen einließen als mit ihren armen Volksgenossen.

Das Wunder von Süd-Tel Aviv

Für eine Weile schien der Plan der Regierung, die Alteingesessenen gegen die Geflüchteten aufzuhetzen, aufzugehen. Doch dann geschah etwas, was in der aufgeheizten politischen Atmosphäre Israels der letzten Jahre an ein Wunder grenzt.

Konkreter und symbolischer Ort diese Erscheinung war ein kleines heruntergekommenes Büro, dessen einzige Zierde Poster von orientalisch anmutenden, selbstbewusst in die Kamera schauenden Frauen ist, in der Matalon Straße 70 in Neve Shaanan. Dies ist der Sitz von Achoti, einer feministischen Mizrachim-Organisation, ein Ort, an dem Frauen unterschiedlicher ethnischer und nationaler Herkunft zusammenkommen. Shula Keshet, aus der nordost-iranischen Metropole Maschhad stammend, ist die Seele dieser Organisation, mit ihrer tiefen Stimme, ihren Hunden und massivem Schmuck eine schillernde Figur, vor allem aber eine kluge Analystin und extrem erfahrene Aktivistin.

Alternative text missing
Gemeinsamer Protest von Anwohnern und Geflüchteten gegen die geplanten Abschiebungen. Auf den Schildern steht: "Süd-Tel Aviv gegen Abschiebung", 2014. Foto: Activestills.

Keshet hat nach und nach im Süden Tel Avivs eine ungewöhnliche Koalition aufgebaut. Sie besteht aus Alteingesessenen, vor allem aus Mizrachim und Organisationen, die vor Ort mit Kindern oder Geflüchteten arbeiten, sowie aus Aktivist*innen der Geflüchteten-Communities. Ihr Motto: „Süd-Tel Aviv gegen die Vertreibung“. Der Clou dabei ist, dass sich dies nicht allein auf die Regierungspläne zur Abschiebung von Geflüchteten bezieht, sondern auch einen Aufruf darstellt, sich gegen die Verelendung Süd-Tel Avivs, die zur Zerstörung der lokalen Sozialstrukturen führt, zu wehren.

Dahinter stand auch die Erkenntnis, dass die Stadtoberen in Tel Aviv den Süden inzwischen wiederentdeckt haben. Das mit etwa 50 Quadratkilometern geografisch recht überschaubare Tel Aviv kann nämlich nicht mehr wachsen, da es von allen Seiten von anderen Städten umringt ist. Zudem steigt die Bedeutung der Stadt als Wirtschaftsmetropole, schließlich sind Immobilien hier mittlerweile teurer als in München am Englischen Garten. In Süd-Tel Aviv ganz in der Nähe des Stadtzentrums schlummert also enormes Potenzial für das Immobilienkapital. Die Pläne für das Gebiet werden ohne die lokale Bevölkerung gemacht, ihre Interessen scheinen kaum ins Gewicht zu fallen. Das Schicksal anderer Bezirke, etwa Neve Tzedek – Ende des 19. Jahrhunderts von Mizrachim gegründet, heute bevorzugte Wohngegend für Diplomaten und Oligarchen –, lassen erahnen, dass es zu einem weitgehenden Bevölkerungstausch kommen könnte, im Verlauf dessen die Alteingesessenen in die Vororte verdrängt werden und ihre gerade für ärmere Schichten so wichtigen sozialen Netzwerke verlieren.

Die Verbindung beider Kämpfe war ein durchschlagender Erfolg. Hunderte von Plakaten gegen Abschiebungen schmückten die Balkone im Süden Tel Avivs, Flyer wurden gedruckt, Versammlungen abgehalten. Schließlich kamen Zehntausende auf den engen Straßen Süd-Tel Avivs zusammen, um ihre Solidarität zu bekunden, Tugud Omer Adams Flucht-Odyssee zu lauschen und Shula Keshet tosenden Applaus zu spenden. Es war eine beeindruckende Schau von Solidarität. Die Kampagne verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Überall in Israel schlossen sich ihr Menschen an: Es meldeten sich betagte Holocaust-Überlebende, die Geflüchtete verstecken wollten, Schüler*innen und Schuldirektoren oder Schriftsteller*innen, die Brandbriefe verfassten. Weltweit formierten sich Demonstrant*innen vor den Botschaften Ruandas, um gegen die Komplizenschaft mit den Abschiebeplänen zu protestieren. Der öffentliche Diskurs drehte sich ein wenig und Umfragen belegten, dass große Teile der alteingesessenen Bevölkerung Süd-Tel Avivs gegen die geplanten Abschiebungen waren. Die Regierung Ruandas zog ihre Zusage zurück, die aus anderen schwarzafrikanischen Ländern stammenden Geflüchteten aufzunehmen. Die israelische Regierung musste sich für ihre Politik der Angst neue Zielgruppen suchen.

Alternative text missing
Blick auf die Levinsky-Straße unter der Zufahrt zum Busbahnhof, Neve Shaanan, Süd-Tel Aviv, 2011 . Foto: Wikicommons

Schlussbemerkungen

Der Erfolg der Koalition gegen die Abschiebungen war lediglich ein Etappensieg. Denn weder ist die Gentrifizierungsgefahr angesichts einer Parteienlandschaft, die von „Marktliberalen“ beherrscht wird, gebannt, noch die Zukunft der Geflüchteten geregelt. Ob diese sich in Israel je werden integrieren können und dürfen, hängt davon ab, ob und wie Israel die jüdische Identität der Bevölkerungsmehrheit mit einem modernen Staatsbürgerschaftsverständnis austariert.

In Frankreich etwa sind alle Staatsbürger*innen Franzosen und damit Teil des jeweiligen Staatsvolks. Israel wurde als jüdischer Staat gegründet. Es ist ein Staat, der allen Jüdinnen und Juden offensteht, die das Land als Geflüchtete oder Migrant*innen erreichen. Sie werden dann automatisch zu Staatsbürger*innen. Indem aber nicht die israelische, sondern die jüdische Nation als Israels Staatsvolk postuliert wird, wird eine Wertehierarchie zwischen den beiden Kategorien von Zugehörigkeit – Juden und Israelis – geschaffen. Die Juden – theoretisch auch diejenigen, die im Ausland leben und (noch) keine israelischen Staatsbürger*innen sind – stellen den Souverän dar, das Staatsvolk im Staat Israel. Nicht die Israelis! Deshalb ist es in Israel nicht vorgesehen, Nicht-Juden die Staatsbürgerschaft zu erteilen.[3] Nicht-jüdische Einwanderung ist damit so gut wie ausgeschlossen, mit der Ausnahme von einigen wenigen Gruppen wie Kindern von jüdischen Vätern (im Judentum gilt die matrilineare Abstammung) oder Ehepartnern von Juden. Da es aber diese Migration gibt, werden nicht-jüdische Migrant*innen als „Gastarbeiter*innen“ definiert, die das Land zu verlassen haben, sobald sie ihre wirtschaftliche Funktion erfüllt haben. Sie sollen folglich davon abgehalten werden, im Land Wurzeln zu schlagen. Deshalb erhalten die etwa 100.000 nicht-jüdischen Migrant*innen in Israel stets nur begrenzte Aufenthaltsgenehmigungen, deshalb werden Arbeitsmigrant*innen des Landes verwiesen, wenn sie ernsthaft krank werden oder eine Familie gründen wollen.

Gleiches gilt für die Geflüchteten aus Eritrea und dem Sudan: Da sie keine Juden sind, kann ihr Aufenthaltsstatus stets nur ein zeitweiliger sein. Ihre Fremdheit kann also sozusagen aus Gründen der Staatsräson nie aufgehoben werden.

Süd-Tel Aviv ist ein Mikrokosmos der Kämpfe, die über Israels Zukunft entscheiden werden. Der jüngste Zuzug junger Menschen in die südlichen Bezirke und die überaus große Resonanz zugunsten der Geflüchteten zeugen davon, dass es gerade in Tel Aviv eine Offenheit gibt für eine Gesellschaft, die – um Rotbard zu paraphrasieren – weder schwarz noch weiß ist. Es gibt viele, die in einer inklusiveren Gesellschaft leben möchten und hierfür auch bereit sind, sich zu engagieren. Ob das Tel Aviv, das sich erfolgreich gegen Abschiebungen wehrte, auch in der Lage sein wird, die umfassendere Frage zu beantworten, wie man israelische Identität durchdekliniert auf eine Weise, die inklusiv und durchlässig ist, bleibt abzuwarten. Demgegenüber steht nämlich eine gut geölte Maschinerie der hegemonial gewordenen Rechtsnationalist*innen, die auch künftig versuchen werden, die jüdische Mehrheitsgesellschaft durch die Anrufung jüdischer Stammesidentität und die Zusicherung von Privilegien auf Kosten nicht-jüdischer Migrant*innen an sich zu binden.

Dieser Essay ist zuerst in „All About Tel Aviv-Jaffa / Die Erfindung einer Stadt“, herausgegeben von Hanno Loewy und Hannes Sulzenbacher, Bucher Verlag, 2019, erschienen, das anlässlich der gleichnamigen Ausstellung des Jüdischen Museums Hohenems (Vorarlberg, Österreich) herausgegeben wurde. Die Ausstellung wurde von Hannes Sulzenbacher kuratiert - in Zusammenarbeit mit den Ko-Kurator*innen Ada Rinderer und Hanno Loewy - und ist vom 7. April bis 6. Oktober 2019 zu sehen: https://www.jm-hohenems.at/.

Tsafrir Cohen leitet das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Einat Podjrany ist Projektmanagerin im Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

Weiterführende Literatur

Sharon Rotbard, White City Black City: Architecture and War in Tel Aviv and Jaffa, MIT Press, Cambridge MA., USA, 2015.

Weiterführende Links

Anmerkungen

[1] Mehr hierzu: Michael Obert, „Im Reich des Todes“, in: SZ-Magazin 23/2013, 22. Juli 2013: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/gesellschaft-leben/im-reich-des-todes-79816 (16.1.2019).

[2] Sharon Rotbard, White City Black City: Architecture and War in Tel Aviv and Jaffa, MIT Press, Cambridge MA., USA, 2015.

[3] Es sei denn, sie konvertieren oder aber heiraten eine Jüdin oder einen Juden.

Download PDF

Autor:innen

Tsafrir Cohen leitete das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv zwischen 2015-2020.