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„Das Streben nach Gleichberechtigung verbindet uns jenseits der partikulären Identität miteinander“

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Wann hast du die Diskriminierung gegen Mizrachim in Israel zum ersten Mal wahrgenommen?

Schon in der Grundschule bemerkte ich eine Sonderbehandlung der Mizrachi-Mädchen. Damals pflegte man zu sagen, dass es faule und fleißige Schülerinnen gibt und sie wurden dementsprechend irgendwann in zwei Klassen aufgeteilt und natürlich waren alle „faulen“ Schülerinnen Mizrachim – selbst ich, die eigentlich als fleißig galt, wurde in die Klasse mit den „faulen“ Mädchen gesetzt. Man darf nicht vergessen, dass fast alle Lehrerinnen damals Aschkenasim waren. Erst viele Jahre später bei einem Klassentreffen meldeten sich mehrere dieser „faulen“ Schülerinnen zu Wort und berichteten über diese Verletzungen, an denen sie all die Jahre zu tragen hatten. Eine erzählte sogar wie die Schulberaterin ihr empfahl, lieber als Schneiderin zu arbeiten, als die Oberschule zu besuchen. Diese herabwürdigende Stigmatisierung von Mädchen aus Süd-Tel Aviv, die als Mizrachim wahrgenommen wurden, war echt schrecklich.

Süd-Tel Aviv gilt immer noch als der Hinterhof der Stadt.

Der signifikanteste Moment in diesem Zusammenhang war die Eröffnung des neuen Busbahnhofs im Jahr 1993 – dieses größenwahnsinnige Projekt ist eines der schlimmsten stadtökologischen Eingriffe in der Geschichte Israels. Da sich sogar die Stadtverwaltung als nicht verantwortlich für das Wohlergehen der Anwohner*innen im Umfeld des neuen Busbahnhofs erklärte, haben wir damals ein Aktionskomitee gegründet. Wir haben argumentiert, dass es unmöglich wäre, den größten zentralen Busbahnhof der Welt in unserem Viertel bauen zu wollen, ohne Rücksicht auf die Anwohner*innen zu nehmen. Durch diese Kampagne habe ich erkannt, inwieweit wir vom politischen System ignoriert werden, sowohl von der Regierung, als auch von der Stadtverwaltung. Für den angeblichen Fortschritt mussten ausgerechnet wir die Opfer sein, diejenigen die schon vorher die Opfer von Diskriminierung waren. Man kann ähnliche Prozesse in der Mizrachi-Peripherie, in den äthiopischen Wohngegenden oder den arabischen Wohnorten beobachten. In fast allen Bereichen – ob beim Wohnungsbau, in der Wirtschaft, der Bildung oder der Kultur – haben wir es mit einer hegemonialen Minderheit zu tun, die im Wesentlichen aus Aschkenasim besteht, die sich die größten Stücke aus dem Kuchen der Ressourcen herausschneidet, während ausgegrenzte „Communities of Color“, ob jüdisch oder nicht-jüdisch, sich mit den Krümeln begnügen müssen.

Wie kamst du dazu, feministisch zu denken?

Das feministische Modell bekam ich von meiner Großmutter und meiner Mutter übermittelt. Bereits in den 50er Jahren gründete meine Oma zusammen mit Freundinnen aus der iranischen Gemeinde aus Maschhad ein bemerkenswertes Projekt für ältere Frauen – eine Art Altersheim und Frauenzentrum in Süd-Tel Aviv. Ich wurde bereits zu Hause von Frauen inspiriert, die für ihre Gemeinschaft und für die Gesellschaft im Allgemeinen bedeutende Änderungen in die Wege leiten. Später sah ich auch auf dem aktivistischen Gebiet, wie wir von den Mizrachi-Männern marginalisiert und zum Schweigen gebracht wurden. Deshalb haben wir die Bewegung „Achoti“ (Meine Schwester) für Frauen in Israel gegründet. Das war ein enormer Schritt in der Mizrachi-Bewegung. Wenn wir auf deren Geschichte zurückblicken, waren Frauen an allen wichtigen Kämpfen und Momenten beteiligt und dennoch wurden sie immer wieder in den Hintergrund gedrängt.

Was ist Mizrachi-Feminismus in deinen Augen?

Die Situation der ärmsten Frauen auf die Tagesordnung der Frauenbewegung zu setzen – der Frauen, die am Boden liegen und ums Überleben ringen, die nicht einmal über die gläserne Decke über ihren Köpfen phantasieren können. Wir verbinden unseren feministischen Kampf mit der Identitätspolitik der Hautfarbe, der Nationalität und der Ethnizität. Zudem fördern wir den feministischen Kampf in den Mizrachi-Bewegungen. Damit stellen wir unsere Vision eines multinationalen und multiethnischen Feminismus der gesamten Öffentlichkeit vor. Deshalb arbeiten wir auch mit Palästinenser*innen, Äthiopier*innen, Russischsprachigen und Asylsuchenden zusammen. Der Mizrachi-Feminismus ist jedoch eine Weltanschauung, die nicht biologisch determiniert und daher findet man auch Aschkenasi-Frauen oder sogar Männer, die eng mit uns zusammenarbeiten, weil sie sich mit unserem Kampf identifizieren und verstehen, dass uns das feministische Streben nach Gleichberechtigung jenseits der partikulären Identität miteinander verbindet.

Während der Sozialproteste im Jahr 2011 übernahmst du eine führende Rolle beim Organisieren der Proteste, obwohl du sie auch scharf kritisiert hast.

In der Tat. Als die junge Studentin Daphni Leaf ein Zeltlager am Rothschild Boulevard initiierte, um gegen die hohen Mieten in der Weißen Stadt zu protestieren (Anm. d. Übers.: Damit sind das Zentrum und der Norden von Tel Aviv gemeint.), bekam sie eine Umarmung von den lokalen Behörden und den Medien und es wurde, fälschlicherweise, so präsentiert, als sei dieses Zeltlager der erste ernsthafte Sozialprotest in der Geschichte Israels. Das ließ ich nicht unwidersprochen. Gemeinsam mit anderen Aktivistinnen organisierten wir ein Protestlager im Süden der Stadt, im Levinsky Park, einem der schwierigsten Orte im Land, eine Art Niemandsland. Dort wollten wir unsere Stimme erheben, die Stimme eines jahrzehntelangen Kampfes für den öffentlichen Wohnungsbau und gegen die Vertreibung und Verdrängung von Mizrachi-Familien. Aber als wir unsere Zelte in den Park brachten, wurden wir nicht wie in Rotschild Boulevard willkommen geheißen, sondern von den Ordnungsbeamten jede Nacht mit brutaler Gewalt geräumt. Wir gaben nicht auf und kurz danach folgten uns Tausende, deren Stimme bei den Protesten am Rothschild-Boulevard nicht repräsentiert wurde. Unser Zeltlager wurde ein Zuhause für Mizrachim, Beduinen, Asylsuchende, Opfer von Frauenhandel und Obdachlose – es war nicht immer einfach, aber es war wunderbar! Kurz danach folgten Dutzende weitere Zeltlager an der sozialen Peripherie und sogar in den palästinensischen Wohnorten.

Auch in der aktuellen Bewegung gegen die Abschiebung von afrikanischen Geflüchteten, die vor allem im Süden der Stadt leben, stehst du an vorderster Front.

Als jemand, die im Süd-Tel Aviv geboren wurde, betrachte ich die Ghettoisierung unserer Wohngegend und den Versuch alle Arbeitsmigrant*innen und Asylsuchenden bei uns unterzubringen, als ein Grundelement der städtischen und staatlichen Politik. Für die aschkenasische Linke, die den Geflüchteten Hilfe leistet, ist es ganz natürlich, dass diese Menschen ausschließlich in unserer Gegend wohnen und in ihren Augen sind die alteingesessenen Anwohner*innen von Süd-Tel Aviv, die vor allem Mizrachim sind, völlig unsichtbar. Aber wir kritisieren diese Einstellung. Unsere Aktivitäten richten sich gegen diese Politik des „Teile und Herrsche“, egal ob es von den Linken oder von den Rechten kommt. Als Aktivist*innen für Menschen- und Frauenrechte bestehen wir darauf, alle Betroffenen wahrzunehmen. Im Laufe der Zeit und als Reaktion auf die Unterstützung der Geflüchteten in unserer Gegend durch die weiße Linke, kamen die Rechten und warfen den Linken vor, die Not der alten Anwohner*innen zu ignorieren. Die Rechten behaupteten unsere Not ernst zu nehmen und haben diese Not instrumentalisiert, um zu sagen, dass die Abschiebung der Geflüchteten eine stabilisierende Sanierung der Nachbarschaft fördern würde. Selbst Netanjahu erklärte, er deportiere die Eindringlinge im Namen der Anwohner von Süd-Tel Aviv. Das können ich und viele andere Anwohner*innen des Südens nicht akzeptieren!

Was habt ihr dagegen unternommen?

Als die Abschiebungspläne bekannt gegeben wurden, haben wir sofort eine Kampagne auf den Weg gebracht – „Süd-Tel Aviv gegen die Deportation“ mit riesigen Demonstrationen und Aktionen im ganzen Land. Unsere Botschaft war aber weitaus komplexer. Zuerst stellten wir uns gegen die Abschiebung und forderten eine legale Migrationspolitik, die die Bearbeitung von Asylanträgen ermöglicht und ein landesweites Aufnahmeprogramm, auch in wohlhabenderen Wohnorten, bereitstellt. Es ist ungerecht, unsere Wohngegend zu solchen gedrängten Ghettos und zum Zentrum von Drogen- und Frauenhandel zu machen und die alleinige Schuld den afrikanischen Geflüchteten zu geben, die verfolgt und verhaftet werden. Wir wollen die Lüge entlarven, die hinter diesem ganzen Prozess steckt. Die Sanierung unserer Nachbarschaften entsteht nicht durch die Deportation, weil etwas Gutes nie durch ein Unrecht entsteht. Wir thematisieren zudem die Vertreibung von Mizrachi-Familien durch Gentrifizierung – diese sogenannte Stadterneuerung, die uns verdrängt. Die Grundstücke werden an die Superreichen zum Bau von Luxustürmen verkauft und die Mizrachi-Familien, die dort seit Jahrzehnten leben, werden als Eindringlinge bezeichnet und rausgeworfen. So haben wir die unterschiedlichen Kämpfe miteinander verbunden und zeigen, wie die Verfilzung von Politik und Kapital die schwarze Stadt zur weißen Stadt machen will – natürlich für den Immobilienmarkt. Unsere Kampagne zeigt tatsächlich Wirkung – die Formulierung, die behauptet, „wenn du für Süd-Tel Aviv bist, dann musst du auch für die Abschiebung sein und wenn du dagegen bist, bist du auch gegen Süd-Tel Aviv“, wurde von uns zerschlagen. Wir stellen eine weitere Option dar – eine demokratische Gesellschaft, die Menschen als Menschen sieht.

Wie siehst du die großen Feierlichkeiten zu 70 Jahre Israel?

Ich frage mich, wo da die Selbstreflexion bleibt: bezüglich dessen, was wir in den letzten siebzig Jahren wirklich erreicht haben und zu der weiten Kluft zwischen einer superreichen und hegemonialen Minderheit und der Mehrheit, den vielen armen Schichten, denen es an gesellschaftlicher, geographischer oder akademischer Mobilität mangelt. Ich schlage vor, die Zeit jetzt zur Selbstbetrachtung zu nutzen, anstatt so viel Geld darauf zu verschwenden, unsere Erfolge zu feiern. Lieber sollten wir nachdenken, was wir noch zu erreichen haben, was verändert werden muss – der traditionelle Begriff „Tikkun Olam“ (Anm. d. Übers.: ein Begriff aus der frühen Periode des rabbinischen Judentums, der in direkter Übersetzung „Reparatur der Welt“ bedeutet und mit „Weltverbesserung“ gleichgesetzt werden könnte.) ist mir sehr wichtig.

Was machst du am Unabhängigkeitstag?

Ich respektiere zwar die Menschen, die es tun, aber ich selbst gehe nicht an den Strand, um die Düsenflieger oder das Feuerwerk zu bestaunen. Ich bin ohnehin kein Party-Mensch. Und trotzdem: der Staat Israel und meine Nachbarschaft Neve Sha' anan sind mein Zuhause und ich kann mir keinen anderen Ort vorstellen, an dem ich gerne leben möchte – sogar nicht in Maschhad in Iran, woher meine Familie stammt. Das wäre sowieso unmöglich.

Was wünschst du dem Staat Israel zu seinem Geburtstag?

Ich möchte den Tag erleben, an dem wir alle gemeinsam feiern können, wenn wir alle in Gleichheit leben, ungeachtet von Religion, Rasse oder Geschlecht. So wie sich Israel bereits darstellt, ohne dies in jedoch in die Praxis umzusetzen.

Das Interview führte Yossi Bartal

Weiterführende Links:

- Partnertext Achoti: /artikel/partner/achoti/.

- Zvi Ben-Dor Benite: Zwischen Ost und West – Die Mizrachim

- Protest gegen Massenabschiebung afrikanischer Geflüchteter

- DOSSIER: 50 Jahre Besatzung

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Gegen den Strom – was bewegt israelische Aktivistinnen anno 2018?

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