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Luxemburg in Nepal lesen - Eine Buchrezension von "Brennende Zeitfragen", ausgewählte Texte von Rosa Luxemburg auf Hebräisch

Eine Auswahl von Texten Rosa Luxemburgs unter dem Titel "Brennende Zeitfragen" in Nepal zu lesen, einem Staat, wo die maoistische Bewegung immer noch als eine der treibenden Kräfte agiert – diese Konstellation flößt Luxemburgs zentraler These, dass die Revolution "die einzige Form des Krieges" sei, neues Leben ein. Ohne die Mobilisierung der Massen "wiegen alle ‚unabhängigen‘ Konventikel mitsamt ihren Resolutionen, Konferenzen und Denkschriften so viel wie die Spreu im Winde". Diese Einschätzung zieht sich wie ein roter Faden durch Luxemburgs Schriften.

Luxemburg in Nepal lesen, wo man sich seit sieben Jahren in fruchtlosen Debatten über eine immer noch nicht zustande gekommene Verfassung verzettelt, bedeutet für mich, die Revolutionärin in einem anderen, vielleicht auch tieferen Sinne zu verstehen, wenn sie erklärt: "Diejenigen, die sich bei der Bildung oppositioneller Minderheitsgruppen und -parteien beruhigen und damit die Ehre des internationalen Sozialismus gerettet wähnen, vergessen immer, dass die wirklichen Schicksale des Sozialismus nicht [...] in parlamentarischen Schwatzbuden, sondern nur in großen Aktionen der Volksmassen entschieden werden können."

Luxemburg in Nepal lesen – das bedeutet auch, mit zwei einheimischen Bekannten zusammenzusitzen, einem Maoisten und einem Mitglied der Vereinigten Marxisten-Leninisten, und ihren leidenschaftlichen Diskussionen über Begriffe zu lauschen, die in Israel als archaisch gelten – wie zum Beispiel "Klassenkampf", "Proletariat", "Bourgeoisie" und "soziale Befreiung". Diese Begriffe tauchen als absolute Kriterien in Luxemburgs Schriften auf und gelten anscheinend bei meinen Gesprächspartnern als unwiderlegliches Dogma. Und in der Tat glauben die hier an die Macht gekommenen Maoisten und Marxisten-Leninisten an die Thesen, die unter anderem von Luxemburg formuliert wurden und über die man hier ständig diskutiert.

Luxemburg in Nepal lesen – als israelischem Leser drängt sich mir unweigerlich der Vergleich zwischen den vielen Kampf- und Protestbewegungen in Nepal und den israelischen Sozialprotesten von 2011 auf. Die Anführer*innen der Letzteren haben sich sehr bald mit dem System arrangiert – was von vielen zu Recht als entmutigende Niederlage betrachtet wird. Dieser Vergleich fügt Luxemburgs Schriften, die den an der Realität scheiternden und trotzdem nicht verzweifelnden Aktivist*innen als Inspiration und Kompass dienen, eine weitere Dimension hinzu. Das gilt sowohl für die Maoist*innen in Katmandu als auch für die zahlreichen Vorkämpfer*innen der sozialen Gerechtigkeit in Israel.

Eine leicht durchschaubare Täuschung

Diese Lektüre vermittelt auch eine eindeutig positive Antwort auf die Frage, die Moshe Zuckermann in seinem Vorwort zu den Texten aus „Brennende Zeitfragen“ stellt: "Ist es heute noch wichtig, sich mit Rosa Luxemburg zu befassen? Ist ihr historisches Wirken immer noch relevant?" Könnte ich die hitzigen Streitgespräche meiner beiden nepalesischen Freunde über den besten Weg zur Befreiung des Menschen hier wiedergeben, würde niemand an der Relevanz ihrer Schriften zweifeln.

Luxemburgs Ideen verleihen dem gescheiterten Aufbegehren in Israel vom Sommer 2011 über den persönlichen Misserfolg ihrer Anführer*innen hinaus Bedeutung. Sie hätte das Scheitern vermutlich als unvermeidlich bezeichnet, da die Initiator*innen der Proteste nicht bereit waren, sich gegen den Kapitalismus als System zu wenden und stattdessen ihre Kritik punktuell auf Ungleichheit stiftende Faktoren wie "die Oligarchen" und verschwommene Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit beschränkten. Es stellte sich heraus, dass sie das Wesen des Kapitalismus nicht begriffen, sondern im Gegenteil dazu beigetragen habe, seine alleinige Vorherrschaft samt seiner laut Luxemburg strukturell bedingten sozialen Ungerechtigkeit zu perpetuieren.

Die Sozialproteste von 2011 zielten – in der prophetischen Formulierung von Luxemburg – nicht "auf die Besitzergreifung der politischen Staatsmacht, sondern auf die Hebung der Lage [des Mittelstandes und] der Arbeiterklasse und auf die Einführung des Sozialismus" ab und zwar "nicht durch eine gesellschaftliche und politische Krise, sondern durch eine schrittweise Erweiterung der gesellschaftlichen Kontrolle". Der Ausgangspunkt der israelischen Protestbewegung war nicht, dass der Kapitalismus gescheitert ist, sondern dass er im Gegenteil erfolgreich ist und bleiben wird und dass man daher nichts weiter tun kann, als die Missstände, die das System hervorgebracht hat, zu korrigieren. Dazu merkt Luxemburg an: Wenn geleugnet wird, "dass die inneren Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung unweigerlich zu deren Zusammenbruch führen, […] entfällt die objektive Notwendigkeit des Sozialismus".

Aus Luxemburgs Texten geht hervor, dass sie die Gefahren dieser Anpassungsbestrebungen vorausgeahnt hat, die in den "Arbeiterorganisationen, in sozialen Reformen" und Ähnlichem "Mittel zur allmählichen Einführung des Sozialismus" sehen. Ihrer Überzeugung nach regeln diese Mittel nur die kapitalistische Ausbeutung im Einklang mit den Marktbedingungen und richten ansonsten nichts aus. Die Täuschung sei leicht zu durchschauen. "Der heutige Staat ist […] der Vertreter der kapitalistischen Gesellschaft," erklärt sie und fügt hinzu, dass der Staat praktisch der verlängerte Arm der Kapitalistenklasse zur Beherrschung des Prozesses der Kapitalproduktion sei. Wenn man einen solchen Staat akzeptiert, nimmt man auch seine kapitalistischen Grundsätze an. Darin liegt nach Luxemburg die Schwäche dieses Vorgehens.

Ganz allgemein und ohne Bezugnahme auf die einzigartige Kulisse meiner Lektüre in Katmandu empfinde ich es als Genuss, mich mit einer Denkerin aus einer Zeit zu befassen, in der man noch wagte, Ausrufezeichen zu benutzen und eindeutige, prägnante Äußerungen von sich zu geben statt verschwommener Formulierungen, die oft nur den Verzicht auf eine mutige Aussage bemänteln – ein Stil, der in den letzten Jahrzehnten um sich gegriffen hat. Wie meinem nepalesischen Maoisten, der leidenschaftlich für die Fortsetzung des revolutionären Kampfes plädiert, wird auch dem Leser dieser Textauswahl vollkommen klar werden, was Luxemburg uns sagen will. Wenn sie die Lage des Klassenstaates analysiert, der infolge des politischen Sieges der Bourgeoisie entstand, so ist damit auch jene Bourgeoisie gemeint, die in dem schweißtreibenden Sommer vor einigen Jahren auf die Straße ging und den Rothschild-Boulevard in Tel Aviv besetzte. Man sollte sich daher auch nicht darüber wundern, dass sie keine Änderung erreicht, sondern nur das bestehende ungerechte System konsolidiert hat.

Ihretwegen gaben sie nicht auf

Und doch ist Luxemburgs Gedankengebäude komplexer als die zahlreichen praktischen Interpretationen, die es hervorgebracht hat – darunter auch die der nepalesischen Maoisten. Nehmen wir als Beispiel den Terror: Luxemburg sah im Terror den natürlichen Racheakt "eines jeden Kulturmenschen" gegen skrupellose Aggression, stellte jedoch klar, dass die politische Bewertung des Terrors "von den unmittelbaren Eindrücken und Gefühlen ganz unabhängig bleiben" müsse. In ihrer Sicht war der Terror als System, "als Gegensatz zum Massenkampf der Arbeiterklasse" gedacht.

Mein Gesprächspartner, einer der altgedienten Maoisten, die 1996 einen Bürgerkrieg begannen, der 16.000 Menschen das Leben kostete und Nepal fast völlig zerstörte, wird diese Betrachtungsweise nicht schätzen, was Luxemburg jedoch sicherlich nicht davon abgehalten hätte, ihr Ausdruck zu geben. Sie schreibt: "Damit ist freilich nicht gesagt, dass einzelne terroristische Akte nunmehr bedeutungslos oder nutzlos wären. Nicht darauf kommt es an, den Terror in den Himmel zu erheben oder ihn zu verdammen, sondern seine richtige Rolle […] zu begreifen. Der Terror ist und kann heute […] nichts als eine untergeordnete Episode des Kampfes sein […] Die rächende Hand des Terroristen kann die Desorganisation und Demoralisation des Absolutismus hie und da beschleunigen. Den Absolutismus stürzen und die Freiheit verwirklichen kann – mit dem Terror oder ohne den Terror – nur der Massenarm der Arbeiterklasse."

An anderer Stelle erklärt sie: "Die proletarische Revolution bedarf für ihre Ziele keines Terrors, sie hasst und verabscheut den Menschenmord. Sie bedarf dieser Kampfmittel nicht, weil sie nicht Individuen, sondern Institutionen bekämpft." Wenn dem so ist, wird die israelische Leserschaft fragen, ob die Gewalttaten der Maoisten in Nepal, die so viele Opfer forderten (auf ihrer Seite und aufseiten der Streitkräfte, die sie grausam bekämpften), wirklich notwendig waren.

Es gibt nicht wenige Glanzpunkte in dieser von Niv Sabriago mit sicherer Hand getroffenen Textauswahl. Er fügte zusammen mit Harel Kain, dem Übersetzer der deutschen Texte, aufschlussreiche Anmerkungen hinzu, die dem mit diesen Themen unvertrauten Leser (wie dem Verfasser dieser Zeilen) wertvolle Hinweise geben, so zum Beispiel in dem Artikel, der die Gesellschaftsphilosophie Leo Tolstois analysiert, oder einem anderen über Veränderungen in der Kunst – von der allen zugänglichen Volkskunst zur elitären Hochkunst weniger Eingeweihter, die als Gralshüter auftreten.

Luxemburg in Nepal lesen – das bedeutet, dass ihre utopischen Vorstellungen wiederaufleben. Die alte Garde der Maoisten aus den 1970er Jahren, als Nepal eine absolutistische Monarchie war, lasen Marx, lasen Luxemburg, lasen alles, was ihnen in die Hände fiel und ihnen dabei half, nicht aufzugeben. 2002, sechs Jahre nach Beginn des Bürgerkriegs, wurde in Nepal der Notstand ausgerufen. Alle Parteien stellten sich gegen die Rebellen, und alle Großmächte – Indien, China, Großbritannien und die Vereinigten Staaten – schickten Geld und andere Hilfsmittel, um sie niederzuzwingen. Doch sie lehnten einen Kompromiss ab und kämpften weiter, obwohl ihnen weder Waffen und Geld noch ausgebildete Leute zur Verfügung standen.

2005 erlangten sie die Kontrolle über einen Großteil des Landes und führten einen Umsturz herbei. Damit waren sie der zentrale Machtfaktor in der Regierung und in der verfassungsgebenden Versammlung. Wie kam das zustande? Dank ihres kompromisslosen Festhaltens an der revolutionären Ideologie. Genau in dem Sinne, wie Luxemburg es begeistert propagiert hatte. Ist es ein Wunder, dass in Nepal, Lichtjahre von unserem Land entfernt, solche Dinge nicht nur machbar, sondern sogar ganz einfach erscheinen?

Luxemburg in Nepal lesen – das bedeutet, heute lebende Menschen zu treffen, denen der Begriff des Spartakusbundes (der von Luxemburg und Liebknecht gegründeten Vereinigung zur Herbeiführung der bolschewistischen Revolution in Deutschland) geläufig ist und die nach wie vor die Verwirklichung seiner Zielsetzungen anstreben – fast hundert Jahre, nachdem Luxemburg das Spartakusprogramm verfasst hat.

Deutlich wird in jedem Fall, dass es wichtig und lohnend ist, Luxemburg zu lesen – überall und besonders in Israel, das so dringend auf eine Kursänderung und einen Heilungsprozess angewiesen ist. Doch wenn man ihre Schriften in Katmandu liest, glaubt man eher daran, dass der letzte Satz, den sie einen Tag vor ihrer Ermordung im Zuge der Niederschlagung des Spartakistenaufstands durch rechtsradikale Milizionäre schrieb, Wirklichkeit werden kann: "Die Revolution wird sich morgen schon ‚rasselnd wieder in die Höh' richten‘ und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!"

Luxemburg in Nepal lesen – wo die Erde immer weiter bebt. Inzwischen bin ich wieder in Israel, doch jede Minute treffen schreckliche Nachrichten ein – ein Dorf, das mit der gesamten Bevölkerung verschüttet wurde, ein Gebäude, dessen Bewohner*innen lebend von der Erde verschlungen wurden. Wenn man die lächelnden Gesichter der Menschen kennt, die bis zu diesem Augenblick dort lebten, wenn das Herz sich zusammenkrampft – wer hat dann noch Kraft für ideologische Diskussionen und menschengemachte Revolutionen, wenn jede Sekunde eine viel gewaltigere Kraft das Gesicht dieses schönen, leidgeprüften Landes grausam zerfurchen und zerknittern kann wie ein Blatt Papier? Und nachdem man sich beruhigt hat, begreift man, dass gerade in solchen chaotischen Zeiten, die es immer gegeben hat und geben wird, die klaren Stimmen zählen, die uns aufrufen, am nächsten Morgen aufzustehen und in den revolutionären Kampf zu ziehen. Trotz allem.

Zuerst veröffentlicht am 26.4.2015 in der Tageszeitung Haaretz.

(Übersetzt von Esther von Schwarze)

Brennende Zeitfragen: Texte von Rosa Luxemburg. (Hebräisch) Aus dem Deutschen übersetzt von Harel Kain. Edition: Niv Savariago, Verlag Ha-kibbuz Ha-meuchad, Kav-Adom-Reihe, 2015, 207 Seiten

„Ich war, ich bin, ich werde sein!“ - Das Erbe der „roten Rosa von Yitzhak Laor