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Der Kibbuz im Spiegel der israelischen Öffentlichkeit

Die Kibbuz-Bewegung blickt heute auf mehr als 100 Jahre Geschichte zurück. Auf ihrem Höhepunkt Mitte der 1980er Jahre lebten im Land fast 125.000 Menschen in 270 Kibbuzim, die israelische Form der Kollektivsiedlung, wobei sich 18 davon in den 1967 besetzten Gebieten befanden.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges prägte das Lob des Religionsphilosophen Martin Buber, der Kibbuz sei ein Vorbild von internationalem Rang für gesellschaftliche Organisierung und die sozialistische Alternative zum sowjetischen Modell, die internationale Wahrnehmung. Dieses Bild war besonders wirkungsmächtig in der Bundesrepublik, und infolge der 68er-Bewegung kam es zu zahlreichen deutschsprachigen Publikationen, die das kollektive Leben in den israelischen Kibbuzim untersuchten und darstellten. Die Mitgliederversammlung als basisdemokratischer Entscheidungsort; die Abschaffung privaten Vermögens und Eigentums (kein eigenes Bankkonto oder Auto); das Einbringen der Arbeitsleistung aller für das Kollektiv, das im Gegenzug allen Mitgliedern unabhängig von ihren Leistungen gleichen Zugang zu Behausung, Kleidung, Verpflegung und medizinischer Versorgung gewährte; die Rotation in allen wichtigen Ämtern und bei der Besetzung der Arbeitsstellen; die Gleichberechtigung für Frauen, etwa durch die Kollektivierung der bis dahin der Hausfrau obliegenden Hausarbeiten etwa durch den Aufbau von zentralen Wäschereien, Schneidereien und Speisesälen; die gemeinschaftliche Erziehung der Kinder in Kinderhäusern sowie der kommunale Alltag – all dies hatte nachhaltigen Einfluss auf alternative Formen kollektiven Lebens in Europa, auf all diejenigen, die jenseits sowjetischer Dogmen und esoterischen Sektierertums auf der Suche nach sozialistischen und demokratischen Vorbildern waren.

Der Blick auf die Kibbuz-Bewegung als gelebte Utopie, als Insel sozialistischer Unabhängigkeit in einer kapitalistischen Gesellschaft, entsprach in vielerlei Hinsicht auch dem damaligen Selbstverständnis der Kibbuz-Mitglieder, die als idealistische Pioniere ein ausgesprochen hohes gesellschaftliches Prestige genossen. Auch der Zustrom Hunderttausender zumeist nicht-jüdischer Freiwilliger aus Europa und Nordamerika trug dazu bei, diese Sichtweise zu bestätigen und sie in die Welt zu hinauszutragen.

Kritik der Mizrachim

Doch schon seit mehreren Jahrzehnten wird dieses Bild in Israel zunehmend infrage gestellt. Den Anfang machten Aktivist*innen und Akademiker*innen der Mizrachim und ihre sozialen Bewegungen, deren Stimmen ab Ende der 1970er Jahren immer hörbarer wurden. Vor allem in der geografischen Peripherie erlebten und erleben teils noch heute nicht aus Europa stammende Jüdinnen und Juden, die während der 1950er und 1960er Jahre in armen Entwicklungsstädten[1] einquartiert wurden, die Kibbuz-Bewohner*innen als sozial und ökonomisch privilegierte Klasse von Land- und Fabrikbesitzern. Jahrelang haben sie als Tagelöhner in jenen sozialistischen Kollektiven gearbeitet – ohne jedoch in den Genuss der besseren Schulen, der Infrastruktur oder der Freizeitangebote zu kommen. Insbesondere die im Sonnenlicht schimmernden Swimmingpools, die im Laufe der 1970er Jahre in vielen Kibbuzim gebaut wurden, wurden zum Symbol der Ungleichheit gegenüber den benachbarten Entwicklungsstädten.

Die stark eingeschränkte Aufnahme von neuen Mitgliedern verhinderte zudem eine (innerjüdische) ethnische Vielfalt in den Kibbuzim, die aschkenasische Hochburgen geblieben sind. Die Wut der Mizrachi-Arbeiter*innen auf diese Diskriminierung wurde durch die rechte Partei Likud aufgegriffen, die daraus politisches Kapital zulasten der den Kibbuzim nahestehenden Arbeitspartei schlug. Dies trug dazu bei, dass der Likud die bis 1977 herrschende Arbeitspartei als «natürliche» Regierungspartei ablöste. Bis heute gibt es zwischen den von den Mizrachim geprägten Entwicklungsstädten und den arabischen Gemeinden einerseits und den aschkenasisch geprägten Kibbuzim andererseits immer wieder heftigen, ja erbitterten Streit über die Umwidmung von landwirtschaftlichen Flächen und über örtliche Zuständigkeiten und die entsprechenden Auswirkungen auf die ökonomische Entwicklung in der Peripherie.

Der Kibbuz: Speerspitze bei der Verdrängung der Palästinenser*innen?

Aus einer gänzlich anderen Richtung kommend, wurden die Gründungsmythen der israelischen Gesellschaft durch eine neue Generation von Historiker*innen ab Mitte der 1980er Jahre hinterfragt. Diese thematisierten die Rolle der Kibbuz-Bewegung bei der Verdrängung und Vertreibung der Palästinenser*innen und der Einverleibung ihres Grunds und Bodens infolge des Kriegs von 1948. Allein in den ersten zwei Jahren nach der Staatsgründung Israels wurden mehr als 60 Kibbuzim in Orten gegründet, die kurz vorher noch bewohnt waren, mit dem erklärten Ziel, eine Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge in ihre Dörfer zu verunmöglichen. Die Diskrepanz zwischen den internationalistischen und humanistischen Werten der Kibbuz-Bewegung und der nicht aufgearbeiteten Beteiligung der Kibbuzim an der organisierten Vertreibung palästinensischer Gemeinden trübte daraufhin ihr Ansehen in progressiven und liberalen Kreisen.

Außerdem beförderten die Selbstermächtigungsprozesse der palästinensischen Minderheit in Israel, die seit den 1990er Jahren ihre Diskriminierung bei der Landverteilung vermehrt anprangern, eine kritische Auseinandersetzung mit den ihrer Ansicht nach kolonialen Aspekten der Kibbuz-Bewegung in der progressiven Öffentlichkeit.

Interne Kritik

Schließlich kam es im Laufe der letzten drei Jahrzehnte vermehrt zu literarischen und wissenschaftlichen «Abrechnungen» mit verschiedenen Aspekten des Kollektivlebens im Kibbuz, die bis dahin im Verborgenen geblieben waren. Sowohl Romane und Autobiografien als auch Studien thematisierten Dogmatismus und Führerkult, scheindemokratische Strukturen, aber auch Militarismus, Sexismus, Rassismus und Homophobie sowie die teils traumatischen Erfahrungen in den Kinderhäusern der Kibbuzim. Beträchtliche Wirkung zeigte auch das Bekanntwerden einer Gruppenvergewaltigung im Kibbuz Schomrat im Jahr 1988, die jahrelang in israelischen Gerichten verhandelt wurde. Der systematische Missbrauch eines 14-jährigen Mädchens durch Dutzende Jugendlicher sowie die Versuche der Kibbuz-Führung, die Affäre zu vertuschen, brachten die dunklen Seiten des gemeinschaftlichen Lebens ans Tageslicht und schadeten unwiederbringlich dem Ruf und moralischen Ansehen der Kibbuz-Gesellschaft.

Die Privatisierungswellen und ihre Folgen

Die Ausbreitung dieser kritischen Stimmen innerhalb der israelischen Gesellschaft während der 1980er und 1990er Jahre verlief nicht zufälligerweise parallel zu einer verheerenden Entwicklung in der Kibbuz-Ökonomie. Infolge einer nationalen Inflationskrise und der übermäßigen Anhäufung von Schulden durch nicht marktkonforme Wirtschaftspläne standen die Dachorganisationen der allermeisten Kibbuzim Anfang der 1990er Jahre vor dem Bankrott. Ihre finanzielle Rettung durch den Staat hatte einen hohen Preis: Erzwungene Sanierungsprogramme führten zu einer Privatisierung der großen Mehrheit der Kibbuzim, was das Ende der kollektiven Solidarität innerhalb der Kibbuz-Bewegung bedeutete: Angebote wie eine kostenfreie Unterbringung, Kleidung, Verpflegung oder eine kollektive Altersvorsorge wurden zumeist abgeschafft, landwirtschaftliche Produktionsmittel und Fabriken veräußert. Von nun an mussten die einzelnen Mitglieder selbst für ihr finanzielles Überleben sorgen. Bis dahin undenkbare Phänomene wie Altersarmut oder private Verschuldung waren die Folgen. Viele der Jüngeren zogen es vor, die Gemeinschaften zu verlassen. Demgegenüber konnten sich einzelne Kibbuzim dank spezialisierter Industrien auf dem freien Markt behaupten. Ironischerweise ist es vor allem denjenigen, die «kapitalistisch» erfolgreich waren, gelungen, ihre kollektiven Strukturen zu behalten.

Zudem änderte die Öffnung des israelischen Markts für Arbeitsmigrant*innen die Situation in der Landwirtschaft grundlegend: Wurde noch in zionistischen Publikationen das Bild des neuen hebräischen Landarbeiters zelebriert, sind heute die meisten Beschäftigten auf den Kibbuz-Feldern zumeist thailändische Arbeiter*innen, die nicht nur pekuniär ausgebeutet werden, sondern auch dazu verdammt sind, gesellschaftlich unsichtbar zu sein. Aufgrund ihrer Herkunft haben sie zudem keine Chance, jemals Kibbuz-Mitglied zu werden.[2]

Schlussbemerkung

Angesichts dieser vielschichtigen Kritik am real existierenden Kibbuz ist das Verhältnis vieler progressiver Israelis zum Kibbuz ambivalent. Viele Fragen bleiben offen: War der Kibbuz ein emanzipatorisches sozialistisches Projekt oder stellte es von Anfang an ein elitäres, ausgrenzendes oder sogar gewalttätiges Projekt dar, das nur so lange überleben konnte, weil es massiv durch den Staat zuungunsten anderer Bevölkerungsgruppen subventioniert wurde?

Trotz dieser veränderten Sichtweise muss festgestellt werden, dass sich der unaufhaltsame Untergang der Kibbuz-Bewegung nicht positiv ausgewirkt hat: Weder hat dies das Aufkommen einer neuen und aufgeschlosseneren sozialistischen Vision in der Gesellschaft noch eine gerechtere Umverteilung der Ressourcen im Land befördert. Der Verlust einer starken kollektivistischen Bewegung mit all ihren Defiziten bedeutet auch, dass heute eine gelebte Alternative zu neoliberalen Tendenzen fehlt. Die Folgen davon sind in der von extremer sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit geprägten israelischen Gesellschaft überall zu spüren.

Weiterführende Links

Daniel De-Malach – Die politische Ökonomie der Kibbuz-Bewegung

Matan Kaminer - Ein einsamer Songkran in der Arava

Ella Habiba Shohat - Mizrachim in Israel: Zionismus aus der Sicht seiner jüdischen Opfer

Literaturempfehlung

Tomer Gardi, Stein, Papier. Eine Spurensuche in Galiläa, Zürich 2016.

Anmerkungen

[1] In den ersten Jahren nach der Staatsgründung wurden die Entwicklungsstädte vor allem für einwandernde Jüdinnen und Juden aus arabischen und islamisch geprägten Ländern aufgebaut und sollten die jüdische Bevölkerung – mitunter unter Zwang - gleichmäßiger über den neuen Staat, vor allem in den spärlich durch Juden besiedelten Peripherien verteilen. Diesen urbanen Gemeinden wurden jedoch kaum die Mittel zur Verfügung gestellt, um sich zu entwickeln. Fehlende Infrastruktur und Arbeitsplätze, die Konzentration sozial benachteiligter Gruppen sowie staatliche Vernachlässigung führten dazu, dass diese Städte zu sozialen Brennpunkten wurden.

[2] Matan Kaminer, Ein einsamer Songkran in der Arava, 2017, unter: www.rosalux.org.il/ein-einsamer-songkran-der-arava/.