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Die Anwendung des Völkerrechts - ein gebrochenes Versprechen?

Das Jahr 1967 markierte nach dem Krieg von 1948 den zweitwichtigsten Wendepunkt im israelisch-palästinensischen Konflikt. Die militärische Besetzung palästinensischer Gebiete durch Israel löste außerdem ein verstärktes Interesse an der Anwendbarkeit und Wirksamkeit des Völkerrechts aus. Denn lange Zeit sah es so aus, als habe das Völkerrecht, das im Wesentlichen die Beziehungen zwischen Staaten, internationalen Organisationen und verschiedenen Bevölkerungsgruppen regeln, menschliches Leid während Kriegszeiten lindern und die Rückkehr zum Frieden ermöglichen soll, ebenso das Potenzial, sowohl die kollektiven als auch die individuellen Rechte von Palästinenser*innen und Israelis auf beiden Seiten der Grünen Linie (der Grenze von 1967) zu schützen. Es gibt zwei maßgebliche Instrumente des humanitären Völkerrechts, die in den von Israel besetzten Gebieten Anwendung finden. Das erste sind die Haager Abkommen, insbesondere die Vierte Haager Konvention betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs von 1907 (die sogenannte Haager Landkriegsordnung), die Völkergewohnheitsrecht darstellen und daher unabhängig von anderen Vertragsverpflichtungen für alle Konfliktparteien bindend sind. Die Haager Abkommen verpflichten eine Besatzungsmacht dazu, die militärische Okkupation möglichst bald wieder aufzuheben, zwischen Kombattanten und Zivilisten zu unterscheiden, Privateigentum zu schützen, Plünderungen zu unterbinden und von Kollektivbestrafungen abzusehen. Das zweite völkerrechtliche Instrument ist das IV. Genfer Abkommen von 1949 zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten. Diese Konvention erweiterte die Regeln zum Schutz von Zivilisten in Kriegs- und Konfliktsituationen und verbietet zudem die Ansiedlung von Staatsbürger*innen einer Okkupationsmacht in die von ihr besetzten Gebieten. Mit dem ersten Zusatzprotokoll der Genfer Konvention von 1977 wurden zudem die kriegsrechtlichen Schutzvorschriften auf nichtstaatliche Konfliktparteien ausgedehnt, um damit den Geltungsbereich elementarer Verhaltensregeln und humanitärer Standards auszuweiten. Darüber hinaus sind in den besetzten Palästinensergebieten die von Israel ratifizierten internationalen Menschenrechtskonventionen bindend, da der israelische Staat dort faktisch die Gerichtsbarkeit ausübt.

Die Geschichte der Auslegung und Durchsetzung des Völkerrechts im israelisch-palästinensischen Kontext ist äußerst konfliktreich verlaufen. In den zurückliegenden 50 Jahren der Besatzung sahen sich Jurist*innen und Wissenschaftler*innen aus Palästina, Israel und anderen Ländern mit einer äußerst komplexen geografischen Ausgangslage und einer Reihe von spezifischen rechtlichen Konstruktionen und Sonderregelungen der israelischen Militärverwaltung in den besetzten Gebieten in der Westbank, einschließlich Ost-Jerusalems und des Gazastreifens, konfrontiert (die besetzten Golanhöhen sind kein palästinensisches Territorium und damit auch nicht Gegenstand dieses Aufsatzes). Praktiken der Besatzungsmacht, die ganz offensichtlich illegal sind, wie der israelische Siedlungsbau, die Annexion von Ost-Jerusalem, die Zerstörung von beduinischen und anderen palästinensischen Dörfern und die gewaltsame Vertreibung von deren Bevölkerung sowie die Inhaftierung von Palästinenser*innen aus den besetzten Gebieten in Gefängnissen in Israel, werden vom israelischen Staat immer wieder mit rechtlichen Argumenten verteidigt. Die zahlreichen diesbezüglichen juristischen Auseinandersetzungen haben allerdings bislang nicht zu einer Einstellung oder Legalisierung von rechtswidrigen Maßnahmen geführt, vielmehr existiert eine legale Grauzone, die endlose juristische Streitigkeiten nach sich zieht. Seit Jahrzehnten werden Verstöße des israelischen Staates gegen völkerrechtliche Vorgaben toleriert, was das Unvermögen der internationalen Staatengemeinschaft zeigt, internationale Konventionen gegenüber Israel durchzusetzen und die viel beschworene kollektive Verantwortung für den Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten zu übernehmen. Nach 50 Jahren israelischer Besatzung, die geprägt waren von grundlegenden Verletzungen völkerrechtlicher Vereinbarungen, für die Israel niemals zur Rechenschaft gezogen wurde, nach 50 Jahren juristischen Analysen und Kontroversen, Expertenanhörungen, unzähligen Konferenzen der Hohen Vertragsparteien, internationaler Organisationen und Rechtswissenschaftler*innen steht die Frage im Raum, ob das Versprechen des internationalen Völkerrechts nicht inzwischen ein gebrochenes Versprechen ist.

Die Geschichte des Völkerrechts und dessen Entwicklung ist immer wieder von der Situation in Israel/Palästina beeinflusst worden bzw. hängt eng mit den politischen Kernfragen zusammen, die im Zentrum des israelischen-palästinensischen Konflikts stehen. Es begann mit der Balfour-Deklaration von 1917 und deren Folgen für das vom Völkerbund erteilte britische Mandat für Palästina. Großbritannien erklärte sich damals mit dem Ziel des Zionismus einverstanden, in Palästina eine „nationale Heimstätte“ des jüdischen Volkes zu errichten. Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass die Proklamation des Staates Israel im Mai 1948 auf einem Mechanismus des internationalen Rechts basierte, namentlich der Resolution 181 der Vollversammlung der Vereinten Nationen vom 29. November 1947 (dem UN-Teilungsplan für Palästina). Der Friedensprozess zwischen Israel und der PLO mündete 1995 in dem Interimsabkommen über das Westjordanland und den Gazastreifen (Oslo-II-Abkommen). Das Ergebnis war ein stärkeres Engagement der internationalen Gemeinschaft in den von Israel besetzten Palästinensergebieten, die Herausbildung des sogenannten Nahost-Quartetts im Jahr 2002 und eine intensive internationale Unterstützung der Palästinensischen Autonomiebehörde. Über das Gutachten des internationalen Gerichtshofs aus dem Jahr 2004 bezüglich der Rechtsfolgen des Mauerbaus auf israelisch besetztem palästinensischem Gebiet und über die Einführung eines Registers der Vereinten Nationen für die Erfassung der durch den Mauerbau in dem besetzten Gebiet verursachten Schäden (UNRoD) haben völkerrechtliche Instrumente erneut an Bedeutung und Aufmerksamkeit gewonnen. Mit der Zunahme der geleisteten internationalen Hilfe ist außerdem im letzten Jahrzehnt das Interesse an der Frage gewachsen, wie Vereinbarungen des humanitären Völkerrechts und das Konzept der internationalen Schutzverantwortung bei Verletzungen dieses Rechts in den besetzten Gebieten in der Praxis zur Anwendung kommen.[1] Die Arbeitsaufnahme des Internationalen Strafgerichtshofs im Jahr 2002 hat zudem Erwartungen geschürt, dass die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen in der Region zumindest irgendwann individuell zur Rechenschaft gezogen werden. Die Resolution, mit der die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 2012 für eine Anerkennung Palästinas als beobachtendes Nicht-Mitglied stimmte, ist von vielen darüber hinaus als eine wichtige Wegmarke betrachtet worden, die neue Möglichkeiten zur Anwendung und Durchsetzung einer Reihe von internationalen Resolutionen und Vereinbarungen in den besetzten Gebieten eröffnete.

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Liveübertragung der Rede von Mahmud Abbas vor der UN-Vollversammlung, Nablus, Westbank, 30.9.2015 (Foto: Activestills)

Diese beeindruckende völkerrechtliche Entwicklung kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass kaum etwas in der aktuellen Geografie der besetzten Gebiete auf entsprechende Fortschritte und Verbesserungen der Lebensumstände der dort lebenden palästinensischen Bevölkerung verweist. Das betrifft deren Recht auf Selbstbestimmung, die Frage der Raumplanung und der Genehmigungen für den Ausbau von palästinensischen Städten und Dörfern sowie den Schutz palästinensischen Privateigentums und Grundbesitzes. Mit dem neuen UN-Status des Staates Palästina scheint kein wesentlicher Wandel des Verhältnisses zwischen den Bewohner*innen der besetzten Gebiete und der israelischen Militärverwaltung, der sie unterworfen sind, verbunden zu sein. Weiterhin finden massenhaft Enteignungen statt und die humanitäre Lage, insbesondere im Gazastreifen, wird immer prekärer.

Paradoxerweise hat das gesteigerte Interesse an der Anwendung internationaler Normen und an völkerrechtlichen Mechanismen zu keiner Klärung oder größeren Kohärenz der rechtlichen Regelungen und Rahmenbedingungen beigetragen. Die Konfliktparteien scheinen weiter als jemals zuvor von einem Konsens entfernt, die Gräben und juristischen Unsicherheiten sind über die Jahre nur noch größer geworden. Ein Beispiel ist der Status des Gazastreifens. Seitdem im Zuge des Abkopplungsplans von Ariel Sharon die unrechtmäßigen jüdischen Siedlungen in diesem Gebiet geräumt wurden, erachtet der israelische Staat den Gazastreifen nicht mehr länger als ein besetztes Gebiet, während sich an der offiziellen Position etwa des Internationalen Roten Kreuzes hinsichtlich dessen völkerrechtlichen Status nicht geändert hat. Das zweite Beispiel ist der Disput darüber, ob Drittparteien in der Zone C der Westbank ohne eine Genehmigung der israelischen Zivilverwaltung Bau- und Infrastrukturprojekte unterstützen dürfen. Obwohl das Genehmigungsverfahren und die Förderung von jüdischen Siedlungen durch diese Behörde in vielerlei Hinsicht als rechtswidrig gelten, treten nicht alle Geberstaaten vorbehaltlos für eine solche Regelung im Sinne der palästinensischen Bevölkerung ein. So gesehen scheint die Gesetzmäßigkeit oder Illegalität bestimmter Maßnahmen und Politiken nicht Ausdruck einer effektiven Anwendung des Völkerrechts zu sein, mit dem Ziel, menschliches Leid und Elend zu mildern und eine angemessene Verhandlungsplattform für die verschiedenen Parteien zu schaffen, um den Konflikt zu beenden.

Und doch lassen sich einige Auswirkungen beobachten, wie zum Beispiel der Rückzug von ausländischen Unternehmen aus Geschäften mit dem jüdischen Siedlungswesen, die dafür völkerrechtliche Argumente geltend machen und sich auf ihre gesellschaftliche Verantwortung berufen. So hat der Konzern Violia seinen Vertrag mit der israelischen Regierung zum Bau einer S-Bahnlinie, die West- mit Ost-Jerusalem verbinden soll und damit den Siedlungsbau in der Westbank ohne Rücksicht auf die Grüne Linie befördern würde, aufgelöst.[2] Es gibt auch einzelne internationale Organisationen und ausländische Institutionen, die Palästina bereits als Staat anerkannt haben, wie zum Beispiel die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO), die Palästina als Mitglied führt.[3] Das alles jedoch scheint weder einen nennenswerten Einfluss auf das Bollwerk und die Kontrollmatrix zu haben, mit der Israel über die besetzten Gebiete herrscht, noch scheint es die Konfliktparteien einander und dem Ziel einer friedlichen Lösung näher gebracht zu haben. Ähnlich enttäuschend ist für viele, dass der Internationale Strafgerichtshof zwar Vorermittlungen gegen den israelischen Staat wegen möglicher Kriegsverbrechen in den palästinensischen Gebieten aufgenommen hat, diese aber noch zu keinerlei greifbaren Ergebnissen geführt haben.

Von daher hat die Verrechtlichung des israelisch-palästinensischen Konflikt – 50 Jahre nach der militärischen Eroberung und Besatzung der palästinensischen Gebiete – nicht den erhofften Wandel erbracht, der notwendig gewesen wäre, um über einzelne organisatorische Aspekte und relativ bescheidene und eher zufällige Erfolge in einigen wenigen Ortschaften hinaus einen ernsthaften Prozess der Staatenbildung in Palästina voranzutreiben. Tausende Worte in rechtlichen Gutachten und Kommentaren sowie unzählige Gerichtsurteile und Resolutionen haben wesentlich mehr versprochen, als sie am Ende halten konnten. Die bloßen Fakten und Gegebenheiten vor Ort sprechen auf jeden Fall eine eindeutige und unbeirrbare Sprache.

Vor diesem Hintergrund haben Intellektuelle, Jurist*innen und Politiker*innen damit begonnen, über mögliche andere juristisch-politische Konstellationen und Lösungen nachzudenken, die zudem ein ganz neues völkerrechtliches Konzept zur Voraussetzung hätten. So hat zum Beispiel die neue politische Bewegung “Eine Heimatland – zwei Staaten" dazu aufgerufen, die Zweistaatenlösung aufzugeben, und dafür eine konföderatives Modell vorgeschlagen.[4] Damit ist auch ein anderes Verständnis von internationalem Recht und Gerechtigkeit verbunden, bei dem das Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit sowohl für die palästinensische als auch für israelische Bevölkerung im Vordergrund steht, im Unterschied zur gängigen völkerrechtlichen Argumentation, die eine Rückkehr zu den Grenzen von 1967 fordert sowie die Aufgabe der jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten und eine Verurteilung von Kriegsverbrechern. In der wissenschaftlichen Fachliteratur findet sich darüber hinaus immer häufiger die Position, dass es an der Zeit sei, eine neue normative Lesart des Völkerrechts zu entwickeln, wozu gehöre, eine neue juristische Kategorie wie die der "illegalen Okkupation"[5] einzuführen oder ein alternatives Bezugssystem wie das der Apartheid oder des Siedlerkolonialismus zu nutzen.[6]

Trotz vorhandener Differenzen teilen all diese neuen politischen und wissenschaftlichen Ansätze die Einschätzung, dass es der Entwicklung einer interdisziplinären rechtlich-geografischen Perspektive[7] bedarf, um in den seit 1967 besetzten Gebieten die Lebensbedingungen der Menschen nachhaltig zu verbessern. Eine solche Perspektive hätte zum Beispiel die Realität der räumlichen Fragmentierung und die Geschichte der Enteignungen zu berücksichtigen. So ist das gesamte palästinensische Territorium total zersplittert: Zunächst ist da die Aufteilung zwischen dem Gazastreifen, Ost-Jerusalem und der Westbank. Die Westbank und die Diaspora in der Westbank wiederum zerfallen in eine Zone A, B und C. Hinzu kommt, dass immer wieder Beschlagnahmungen von palästinensischem Grundbesitz stattfinden und zivile Strukturen gezielt zerstört werden, was auf eine Zwangsumsiedlung ganzer palästinensischer Dorfgemeinschaften hinausläuft. Und schließlich wird der israelische Siedlungsbau in der Zone C der Westbank seit Jahren massiv vorangetrieben. All dies erfordert eine Berücksichtigung der räumlichen Dimension bei der Auslegung und Anwendung völkerrechtlicher Vereinbarungen und Instrumentarien.

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Palästinenser protestieren vor dem Gelände des UN-Sonderkoordinators in Gaza, 15.5.2012 (Foto: Activestills)

Das Völkerrecht auf seine räumlichen Prämissen hin zu überprüfen, bedeutet zum Beispiel zu fragen, welchen Vorstellungen von Raum und Territorium den völkerrechtlichen Instrumentarien zur Regulierung von Konflikten eigentlich zugrunde liegen. So kann zum Beispiel ein Ansatz, der von der Sesshaftigkeit der Bevölkerung ausgeht, bestimmte Probleme der Vertreibung und Enteignung – wie etwa der in der Westbank lebenden seminomadischen beduinischen Gemeinschaften durch den israelischen Staat– nicht angemessen erfassen und angehen. Die Lebensrealität der Beduinen, ihre kollektiven Strukturen und von den Jahreszeiten abhängigen Wanderungsbewegungen in ihren angestammten Gebieten vertragen sich schlecht mit dem Bild des schutzbedürftigen Kleinbauern, der von seinem Privatbesitz vertrieben wird. Allerdings ist mit der Berücksichtigung der spezifischen Lebensbedingungen der beduinischen Gemeinschaften auch ein Dilemma verbunden. Fokussiert man zu stark auf deren Mobilität und ihre Traditionen, dann läuft man Gefahr, die Zerstörung ihrer Dörfer zu rechtfertigen und damit ihrer unrechtmäßigen Enteignung und Vertreibung Vorschub zu leisten.

Ferner wäre danach zu fragen, wie die räumliche Realität aussieht, unter der Rechtsauslegungen und -anwendungen stattfinden. Die geografische Fragmentierung der Gebiete, in der die Palästinenser*innen heute leben müssen, verlangt wahrscheinlich nach einer Neukonzeption des gegenwärtigen rechtlichen Rahmenwerks und nach einer Anpassung der rechtlichen Analyse an das neue geopolitische Setting. Eine Reihe von Studien betrachten den Siedlerkolonialismus als diesen neuen geopolitischen Rahmen. Dieser sei gekennzeichnet durch die kontinuierliche Ausbeutung der Ressourcen eines besetzten Landes durch eine ausländische Macht und das erklärte Ziel, die eigene Zivilbevölkerung in dem besetzten Gebiet anzusiedeln und damit die lokale Bevölkerung – wie im Fall der Palästinenser*innen – ihres spezifischen Status der Einheimischkeit zu berauben.[8]

Orientiert man sich am geopolitischen Konzept des Siedlerkolonialismus, dann stellt sich sofort die Frage, warum in verschiedenen geografischen Einheiten verschiedene Regelungen und rechtliche Rahmenbedingungen zur Anwendung kommen. Während allgemein akzeptiert ist, dass in den 1967 besetzten Gebieten das humanitäre Völkerrecht gilt, finden die von Israel ratifizierten Menschenrechtskonventionen tatsächlich nur Anwendung auf diejenigen Palästinenser*innen, die innerhalb der anerkannten Grenzen von Israel leben. Des Weiteren bezieht sich das Verbot, ein besetztes Gebiet zu annektieren, formal nur auf Ost-Jerusalem und nicht auf den Rest der besetzten palästinensischen Gebiete. Das steht im Widerspruch zu der inzwischen weit verbreiteten Einschätzung, dass der gegenwärtige Status der Westbank aufgrund des fortgesetzten Siedlungsbaus de facto der eines von Israel annektierten Territoriums ist. Einige der völkerrechtlichen Verpflichtungen einer Besatzungsmacht, die unter anderem darin bestehen, die ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte der lokalen Bevölkerung – in diesem Fall der Palästinenser*innen – zu schützen, gelten derzeit für die Zonen A und B der Westbank nur in einem eingeschränkten Maße, weil diese der Gerichtsbarkeit der Palästinensischen Autonomiebehörde unterliegen. Allerdings gelten sie in einem größeren Umfang für die Zone C, die unter der vollständigen Kontrolle von Israel steht. Aber solch eine Herangehensweise ignoriert die vielen Studien zur sozialen und ökonomischen Lage in diesen Gebieten, die alle einen integrierten Ansatz fordern und betonen, dass es sich bei den verschiedenen Verwaltungszonen um einen zusammenhängenden geografischen, sozialen und wirtschaftlichen Raum handelt. Das Konzept des Siedlerkolonialismus bietet einen realitätstauglicheren völkerrechtlichen Ansatz, weil es gegenüber Rechtsauslegungen misstrauisch ist, die faktisch dazu beitragen, das geopolitische Setting des Siedlerkolonialismus zu fixieren. Dieses Konzept betont die Notwendigkeit, das Völkerrecht in einem umfassenderen Sinne anzuwenden – das heißt auf das gesamte palästinensische Territorium, unabhängig von den dort jeweils gültigen Rechtsordnungen – und dabei das Wohl aller Palästinenser*innen im Auge zu haben, unabhängig von ihrem konkreten Wohnort. Wenn anerkannt wird, dass es sich bei Israel um ein koloniales Regime handelt, dann wird auch deutlicher, dass all die demografisch-geografischen Verschiebungen und Voraussetzungen in besonderem Maße hinterfragt werden müssen und es einer historisch eingebetteten Lösung bedarf, die das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser*innen stärkt.

Andere Fragen zu stellen, den Zusammenhang von Raum und Recht ernst zu nehmen und eine neue rechtlich-geografische Perspektive zu entwickeln, kann die mit dem Völkerrecht einst verbundenen Versprechen erneuern, aus Sackgassen herausführen und die grundlegenden "Spielregeln" verändern. Veränderte rechtliche Rahmenbedingungen könnten dem Völkerrecht mehr Wirkmächtigkeit verleihen, wie zum Beispiel das Verbot von Zwangsumsiedlungen. Damit könnte auch die gegenwärtige Pattsituation bei der praktischen Anwendung völker- und menschenrechtlicher Vorgaben in den besetzten Gebieten aufgehoben werden und der Weg bereitet werden für eine neues internationales Rechtssystem, das angemessener auf siedlerkolonialistische Settings wie Apartheidsregime (siehe hierzu die Internationale Konvention über die Unterdrückung und Bestrafung des Verbrechens der Apartheid von 1973 und die einschlägigen Bestimmungen des Römischen Status des Internationalen Strafgerichtshofs) und Kolonialherrschaft im Allgemeinen reagieren kann (siehe zum Letzteren die Erklärung der UN-Generalversammlung über Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker von 1960). Obwohl eine solche Rechtsaufassung noch nicht sehr weit verbreitet ist, hat der Zug in diese Richtung bereits Fahrt aufgenommen und Rechtswissenschafter*innen täten gut daran, sich langsam, aber sicher auch in diese Richtung zu bewegen.

Netta Amar-Shiff ist Menschenrechtsanwältin und Doktorandin an der Ben Gurion University of the Negev. Das Thema ihrer Recherche ist „Rechtliche Geographie von Zwangsumsiedlungen: internationales Recht und der beduinische Raum in Israel/Palästina, 1917-2017“

(Übersetzt von Britta Grell, TEXT-ARBEIT)

Weiterführende Links

Orna Ben-Naftali, Aeyal Gross and Keren Michaeli, Illegal Occupation: Framing the Occupied Palestinian Territory, Berkeley Journal of International Law (BJIL), Vol. 23(3), 2005

John Reynolds, Anti-Colonial Legalities: Paradigms, Tactics & Strategy, in: The Palestine Yearbook of International Law, Vol. 18 (2015), pp. 8-52 (kostenpflichtiger Artikel)

Alexandre (Sandy) Keidar, Expanding Legal Geographies: A Call for A Critical Comparative Approach, in: Braverman I., Blomley N., Delaney D., Kedar A. (eds.). The Expanding Spaces of Law - Timely Legal Geography. 2014, California: Stanford University Press

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Anmerkungen:

[1] Vgl. www.alhaq.org/images/stories/PDF/2012/Legal_Memo_State_Responsibility_FINAL_16_07.pdf.

[2] Vgl. www.ipsc.ie/campaigns/veolia.

[3] Vgl. www.washingtonpost.com/world/national-security/unesco-votes-to-admit-palestine-over-us-objections/2011/10/31/gIQAMleYZM_story.html?utm_term=.2cdb757f0bf2.

[4] Vgl. http://2states1homeland.org/en.

[5] Ben-Naftali, Orna/Gross, Aeyal M./Michaeli, Keren (2005): Illegal Occupation: Framing the Occupied Palestinian Territory, in: Berkeley Journal of International Law 23(3), S. 551–614.

[6] Reynolds, John (2015): Anti-Colonial Legalities: Paradigms, Tactics & Strategy, in: The Palestine Yearbook of International Law 18, S. 8–52.

[7] Braverman, Irus/Blomley, Nicholas/Delaney, David/Kedar Alexander (Hrsg.) (2014): The Expanding the Spaces of Law – Timely Legal Geography, Redwood City.

[8] Veracini, Lorenzo (2011): Introducing settler colonial studies, in: Settler Colonial Studies 1(1), S. 1–12.